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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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hier, während er andern Unwissenheit vorwirft, selbst bedenkliche Lücken.
"Wenn man etwas mehr Geschichte kennte sagt er --, dann würde man
wissen, daß das Mitleid -- nicht als Tugendbegriff, sondern als Tugend-
empsindnng einer großen Zahl -- eine kaum zweihundertjährige Geschichte hat."
Nicht zweihundert, sondern zweitausend und einige hundert Jahre ist die Mit¬
leidsreligion Buddhas alt. Vor zweihundert Jahren schrieb man 1692, und
damals lebte in Europa das mitleidloseste Geschlecht, das jemals die Sonne
beschienen hat. Hundert Jahre früher war man auch schon hart gewesen,
scheint aber doch nicht so aller zarteren Regungen bar gewesen zu sein.
Shakespeare schrieb doch nicht zu seinem Privatvergnügen, sondern für ein
sehr gemischtes Publikum; selbst ein Kind des Volkes, kannte er, wie das
Menschenherz überhaupt, auch die Empfindungsweise seines Volkes aus dem
Grunde. In seinen Stücken spielt nun das Mitleid eine ganz bedeutende
Rolle. Wolf zitirt ein paar Seiten weiterhin zu einem andern Zweck eine
Stelle aus König Johann; es ist sonderbar, daß ihm nicht die rührende
Szene eingefallen ist, wo der kleine Arthur seinen Kerkermeister Hubert durch
Mitleid bewegt, von der anbefohlenen Blendung abzustehen. An der ehernen
Brust der Folterknechte des siebzehnten Jahrhunderts, an der Roheit englischer
Fabrikanten und Fabrikanfseher des neunzehnten Jahrhunderts, an der Kälte
der "klassischen" Nationalökonomen sind alle Klagen und Bitten gemarterter
Kinder wirkungslos abgeprallt. Shakespeares Königsdramen dagegen ent¬
halten eine Menge Stellen, die beweisen, daß schon die bloße Tötung eines
Kindes im Jähzorn oder aus politischen Gründen damals noch als etwas
Ungeheuerliches empfunden wurde; von Mißhandlungen und Grausamkeiten
ist mit Ausnahme jener beabsichtigten, aber nicht ausgeführten Blendung über¬
haupt keine Rede. Man erinnere sich an die Urteile und Klagen über die
am jungen Nutland und am Sohn der Königin Margaretha begangnen Mord¬
thaten im dritten Teile Heinrichs des Sechsten und in Richard dem Dritten;
"das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung," spricht Anna in der so
widerlich bnrlesk endenden Szene am Sarge ihres jugendlichen Gatten zu Gloster;
und dann des zarten Monologs des wilden Tyrrel über die in seinem Auf-
l-rag vollzvgne Ermordung der schlafenden Söhne des Königs Eduard. Den
Alten spricht Wolf das Mitleid rundweg ab. Vielleicht behandeln wir den
höchst interessanten Gegenstand einmal besonders. Für heute mag die Be¬
merkung genügen, daß man die Wahrheit in dieser Sache leichter ermitteln'
wird, wenn man nicht fragt, ob die Alten mitleidig, sondern ob sie grausam
waren. Die Grundstimmung der griechischen Volksseele wird zur Genüge
dnrch die Thatsache charakterisirt, daß das ätherische Volk einen Mann, der
einen Widder lebendig geschunden hatte, zum Tode verurteilte, weil es meinte,
ein Mensch, der solcher Grausamkeit gegen ein Tier fähig sei, könne ähnliches
wohl auch einmal an Menschen verüben; und es hat dabei, nebenbei bemerkt,


hier, während er andern Unwissenheit vorwirft, selbst bedenkliche Lücken.
„Wenn man etwas mehr Geschichte kennte sagt er —, dann würde man
wissen, daß das Mitleid — nicht als Tugendbegriff, sondern als Tugend-
empsindnng einer großen Zahl — eine kaum zweihundertjährige Geschichte hat."
Nicht zweihundert, sondern zweitausend und einige hundert Jahre ist die Mit¬
leidsreligion Buddhas alt. Vor zweihundert Jahren schrieb man 1692, und
damals lebte in Europa das mitleidloseste Geschlecht, das jemals die Sonne
beschienen hat. Hundert Jahre früher war man auch schon hart gewesen,
scheint aber doch nicht so aller zarteren Regungen bar gewesen zu sein.
Shakespeare schrieb doch nicht zu seinem Privatvergnügen, sondern für ein
sehr gemischtes Publikum; selbst ein Kind des Volkes, kannte er, wie das
Menschenherz überhaupt, auch die Empfindungsweise seines Volkes aus dem
Grunde. In seinen Stücken spielt nun das Mitleid eine ganz bedeutende
Rolle. Wolf zitirt ein paar Seiten weiterhin zu einem andern Zweck eine
Stelle aus König Johann; es ist sonderbar, daß ihm nicht die rührende
Szene eingefallen ist, wo der kleine Arthur seinen Kerkermeister Hubert durch
Mitleid bewegt, von der anbefohlenen Blendung abzustehen. An der ehernen
Brust der Folterknechte des siebzehnten Jahrhunderts, an der Roheit englischer
Fabrikanten und Fabrikanfseher des neunzehnten Jahrhunderts, an der Kälte
der „klassischen" Nationalökonomen sind alle Klagen und Bitten gemarterter
Kinder wirkungslos abgeprallt. Shakespeares Königsdramen dagegen ent¬
halten eine Menge Stellen, die beweisen, daß schon die bloße Tötung eines
Kindes im Jähzorn oder aus politischen Gründen damals noch als etwas
Ungeheuerliches empfunden wurde; von Mißhandlungen und Grausamkeiten
ist mit Ausnahme jener beabsichtigten, aber nicht ausgeführten Blendung über¬
haupt keine Rede. Man erinnere sich an die Urteile und Klagen über die
am jungen Nutland und am Sohn der Königin Margaretha begangnen Mord¬
thaten im dritten Teile Heinrichs des Sechsten und in Richard dem Dritten;
„das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung," spricht Anna in der so
widerlich bnrlesk endenden Szene am Sarge ihres jugendlichen Gatten zu Gloster;
und dann des zarten Monologs des wilden Tyrrel über die in seinem Auf-
l-rag vollzvgne Ermordung der schlafenden Söhne des Königs Eduard. Den
Alten spricht Wolf das Mitleid rundweg ab. Vielleicht behandeln wir den
höchst interessanten Gegenstand einmal besonders. Für heute mag die Be¬
merkung genügen, daß man die Wahrheit in dieser Sache leichter ermitteln'
wird, wenn man nicht fragt, ob die Alten mitleidig, sondern ob sie grausam
waren. Die Grundstimmung der griechischen Volksseele wird zur Genüge
dnrch die Thatsache charakterisirt, daß das ätherische Volk einen Mann, der
einen Widder lebendig geschunden hatte, zum Tode verurteilte, weil es meinte,
ein Mensch, der solcher Grausamkeit gegen ein Tier fähig sei, könne ähnliches
wohl auch einmal an Menschen verüben; und es hat dabei, nebenbei bemerkt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/172>, abgerufen am 23.07.2024.