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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Großmächte bestimmt, die Mordwaffen vor der Hund mir zu schärfen, anstatt sie
zu gebrauchen, sehen wir an dem wilden Haß, mit dem liberal! in Europa,
wo innerhalb desselben Staates verschiedne Nationen beisammen wohnen, die
Minderheiten von den Mehrheiten unterdrückt werden. Auch in diesem Gebiete
ist es nur die heuchlerische Phrase, was uns vor den Alten auszeichnet, nebst
der Technik, die sich selbst die Mittel ihrer Verbreitung schafft und mit den
Waffen, die wir selbst führen, auch unsre Feinde ausrüstet. Wolf zitirt fol¬
genden Ausspruch ans "Lucrezia Borgia" von Gregorovius: "Wenn wir einen
Menschen, wie ihn unsre Zivilisation erzogen hat, mitten in jene Renaissance
versetzten, so würde die tägliche Barbarei, welche an den damals Lebenden
eindruckslos vorüberging, sein Nervensystem zu Grunde richten und vielleicht
seinen Geist verwirren." Wolf fügt hinzu: "Ist hier bloß an die Schwach-
nervigkeit oder an die Charakterüberlegenheit unsrer Zeit gegen die der Re¬
naissance gedacht? Wir glauben, es ist beides anzunehmen. Die erste wird
unter Umständen vorerst der Beschönigung statt der Ausmerzung des Übels
Vorschub leisten; aber die Ausmerzung wird doch ihr letztes Ergebnis sein
Von dieser Ausmerzung aber und den aus sie gerichteten Bestrebungen wir.
ein günstiger Einfluß auch auch auf den Charakter ausgehn." Welches Glück,
daß Gregorovius mit seiner zart besaiteten Seele niemals in die Arbeiterstadt
von Manchester oder in gewisse russische Dörfer verschlagen^) worden ist! Er
würde den Verstand verloren haben, und wir würden um seine schönen Werke
gekommen sein. Die Fabrikanten von Manchester und die russischen Beamten
haben stärkere Nerven; ihnen verdirbt der Anblick nicht einmal den Appetit
an einer ihrer opulenten Mahlzeiten; übrigens verstehen es beide meisterhaft,
das kompromittirendste vor den Augen unberufner zu verbergen. Ein solcher
Herr in Manchester, dem Engels von den Zuständen der Arbeiterstadt zu
sprechen anfing, sagte: ^n<1 z^se tlrsrg g, Frsat clsÄ ok rnoinz^ rnirctv tuzrs;
M06 MorninA, Ar-j! Vielleicht wäre sogar schon in den Schlaflöchern der Burschen
mancher Berliner Bäcker und Wurstmacher die Probe sür unsre zarten Nerven
zu hart; Samtütskommissionen wenigstens pflegen sich vor solchen Proben zu
hüten; sie beschränken sich aus die Besichtigung der Läden, wo selbstverständlich
die peinlichste Sauberkeit herrscht und freundliche Gesichter strahlen. Die
Besserung des Charakters durch die Nerven könnte wohl nach dem von Wolf
entwickelten Programm vor sich gehen, aber wenn er meint, daß sei im großen
und ganzen wirklich schon geschehen, so täuscht er sich.

Er spricht in demselben Zusammenhange anch von der in sozialer Be¬
ziehung allerdings sehr wichtigen Empfindung des Mitleids und offenbart



*) Wir meinen nicht die Potemkiuscheu Dörfer, die Rudolf Virchows vom russische"
Weihrauch heuchelte eilte Seele gesehen hat, sondern echt russische Dörfer, wie sie neuerdings
auf Grund amtlicher Untersuchungen von russischen Professoren beschriebe" worden sind.

Großmächte bestimmt, die Mordwaffen vor der Hund mir zu schärfen, anstatt sie
zu gebrauchen, sehen wir an dem wilden Haß, mit dem liberal! in Europa,
wo innerhalb desselben Staates verschiedne Nationen beisammen wohnen, die
Minderheiten von den Mehrheiten unterdrückt werden. Auch in diesem Gebiete
ist es nur die heuchlerische Phrase, was uns vor den Alten auszeichnet, nebst
der Technik, die sich selbst die Mittel ihrer Verbreitung schafft und mit den
Waffen, die wir selbst führen, auch unsre Feinde ausrüstet. Wolf zitirt fol¬
genden Ausspruch ans „Lucrezia Borgia" von Gregorovius: „Wenn wir einen
Menschen, wie ihn unsre Zivilisation erzogen hat, mitten in jene Renaissance
versetzten, so würde die tägliche Barbarei, welche an den damals Lebenden
eindruckslos vorüberging, sein Nervensystem zu Grunde richten und vielleicht
seinen Geist verwirren." Wolf fügt hinzu: „Ist hier bloß an die Schwach-
nervigkeit oder an die Charakterüberlegenheit unsrer Zeit gegen die der Re¬
naissance gedacht? Wir glauben, es ist beides anzunehmen. Die erste wird
unter Umständen vorerst der Beschönigung statt der Ausmerzung des Übels
Vorschub leisten; aber die Ausmerzung wird doch ihr letztes Ergebnis sein
Von dieser Ausmerzung aber und den aus sie gerichteten Bestrebungen wir.
ein günstiger Einfluß auch auch auf den Charakter ausgehn." Welches Glück,
daß Gregorovius mit seiner zart besaiteten Seele niemals in die Arbeiterstadt
von Manchester oder in gewisse russische Dörfer verschlagen^) worden ist! Er
würde den Verstand verloren haben, und wir würden um seine schönen Werke
gekommen sein. Die Fabrikanten von Manchester und die russischen Beamten
haben stärkere Nerven; ihnen verdirbt der Anblick nicht einmal den Appetit
an einer ihrer opulenten Mahlzeiten; übrigens verstehen es beide meisterhaft,
das kompromittirendste vor den Augen unberufner zu verbergen. Ein solcher
Herr in Manchester, dem Engels von den Zuständen der Arbeiterstadt zu
sprechen anfing, sagte: ^n<1 z^se tlrsrg g, Frsat clsÄ ok rnoinz^ rnirctv tuzrs;
M06 MorninA, Ar-j! Vielleicht wäre sogar schon in den Schlaflöchern der Burschen
mancher Berliner Bäcker und Wurstmacher die Probe sür unsre zarten Nerven
zu hart; Samtütskommissionen wenigstens pflegen sich vor solchen Proben zu
hüten; sie beschränken sich aus die Besichtigung der Läden, wo selbstverständlich
die peinlichste Sauberkeit herrscht und freundliche Gesichter strahlen. Die
Besserung des Charakters durch die Nerven könnte wohl nach dem von Wolf
entwickelten Programm vor sich gehen, aber wenn er meint, daß sei im großen
und ganzen wirklich schon geschehen, so täuscht er sich.

Er spricht in demselben Zusammenhange anch von der in sozialer Be¬
ziehung allerdings sehr wichtigen Empfindung des Mitleids und offenbart



*) Wir meinen nicht die Potemkiuscheu Dörfer, die Rudolf Virchows vom russische»
Weihrauch heuchelte eilte Seele gesehen hat, sondern echt russische Dörfer, wie sie neuerdings
auf Grund amtlicher Untersuchungen von russischen Professoren beschriebe» worden sind.
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[0171] Großmächte bestimmt, die Mordwaffen vor der Hund mir zu schärfen, anstatt sie zu gebrauchen, sehen wir an dem wilden Haß, mit dem liberal! in Europa, wo innerhalb desselben Staates verschiedne Nationen beisammen wohnen, die Minderheiten von den Mehrheiten unterdrückt werden. Auch in diesem Gebiete ist es nur die heuchlerische Phrase, was uns vor den Alten auszeichnet, nebst der Technik, die sich selbst die Mittel ihrer Verbreitung schafft und mit den Waffen, die wir selbst führen, auch unsre Feinde ausrüstet. Wolf zitirt fol¬ genden Ausspruch ans „Lucrezia Borgia" von Gregorovius: „Wenn wir einen Menschen, wie ihn unsre Zivilisation erzogen hat, mitten in jene Renaissance versetzten, so würde die tägliche Barbarei, welche an den damals Lebenden eindruckslos vorüberging, sein Nervensystem zu Grunde richten und vielleicht seinen Geist verwirren." Wolf fügt hinzu: „Ist hier bloß an die Schwach- nervigkeit oder an die Charakterüberlegenheit unsrer Zeit gegen die der Re¬ naissance gedacht? Wir glauben, es ist beides anzunehmen. Die erste wird unter Umständen vorerst der Beschönigung statt der Ausmerzung des Übels Vorschub leisten; aber die Ausmerzung wird doch ihr letztes Ergebnis sein Von dieser Ausmerzung aber und den aus sie gerichteten Bestrebungen wir. ein günstiger Einfluß auch auch auf den Charakter ausgehn." Welches Glück, daß Gregorovius mit seiner zart besaiteten Seele niemals in die Arbeiterstadt von Manchester oder in gewisse russische Dörfer verschlagen^) worden ist! Er würde den Verstand verloren haben, und wir würden um seine schönen Werke gekommen sein. Die Fabrikanten von Manchester und die russischen Beamten haben stärkere Nerven; ihnen verdirbt der Anblick nicht einmal den Appetit an einer ihrer opulenten Mahlzeiten; übrigens verstehen es beide meisterhaft, das kompromittirendste vor den Augen unberufner zu verbergen. Ein solcher Herr in Manchester, dem Engels von den Zuständen der Arbeiterstadt zu sprechen anfing, sagte: ^n<1 z^se tlrsrg g, Frsat clsÄ ok rnoinz^ rnirctv tuzrs; M06 MorninA, Ar-j! Vielleicht wäre sogar schon in den Schlaflöchern der Burschen mancher Berliner Bäcker und Wurstmacher die Probe sür unsre zarten Nerven zu hart; Samtütskommissionen wenigstens pflegen sich vor solchen Proben zu hüten; sie beschränken sich aus die Besichtigung der Läden, wo selbstverständlich die peinlichste Sauberkeit herrscht und freundliche Gesichter strahlen. Die Besserung des Charakters durch die Nerven könnte wohl nach dem von Wolf entwickelten Programm vor sich gehen, aber wenn er meint, daß sei im großen und ganzen wirklich schon geschehen, so täuscht er sich. Er spricht in demselben Zusammenhange anch von der in sozialer Be¬ ziehung allerdings sehr wichtigen Empfindung des Mitleids und offenbart *) Wir meinen nicht die Potemkiuscheu Dörfer, die Rudolf Virchows vom russische» Weihrauch heuchelte eilte Seele gesehen hat, sondern echt russische Dörfer, wie sie neuerdings auf Grund amtlicher Untersuchungen von russischen Professoren beschriebe» worden sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/171>, abgerufen am 23.07.2024.