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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Weder Kommunismus noch Kapitalismus

mit seiner gesunden Empfindung jenen einzig richtigen Grundsatz der Straf-
rechtspflege aufgedeckt, für den unser heutiges vertünsteltes Geschlecht beinahe
blind zu sein scheint. Die Alten waren hart, wo harte Maßregeln zur Er¬
reichung eines politischen oder sonstigen wichtigen Zweckes notwendig schienen,
aber sie empfanden gegen nutzlose Grausamkeiten einen starken sittlichen und
gegen Verstümmelungen und Verkrüppelungen des Menschenleibes einen sehr
entschiednen ästhetischen Widerwillen, sie waren also zwar nicht sentimental,
aber auch nicht grausam. Eine Bestätigung seiner Auffassung sieht Wolf in
folgendem Ausspruche des Aristoteles: "Von Natur kräftigere Menschen lassen
weinerliche Menschen nicht an sich heran. Dagegen erfreuen sich Weiber und
weibische Männer an dein Mitgeseufze andrer und lieben sie als Freunde und
mitleidige Menschen." Aber das ist ja ganz genau auch die Seelenstimmung
jedes tüchtigen Mannes von heute, namentlich jedes protestantischen Deutschen;
wo er Unrecht thun und Unrecht leiden sieht, da setzt er sich nicht hin, um
mit dem Leidenden zu seufzen und zu flennen, fondern er haut auf den Übel¬
thäter ein, und ist er zu schwach zum EinHauen, so schimpft und agitirt er
wenigstens. Auch das Neue Testament ist nicht sentimental. Man lese nur
die trockne, kurzgefaßte Leidensgeschichte! Nur die nackten Thatsachen; kein
Wort, das etwaiges Mitgefühl des Zuschauers oder Erzählers verriete oder
darauf berechnet wäre, das Mitleid des Lesers zu erregen; keine Spur von
solchen nervenpeinigenden Einzelheiten, wie sie Brentano aus Legende" ge¬
sammelt und sich dann von der ekstatischen Nonne Katharina Emmerich hat
diktiren lassen. Von der Rolle, die das Mitleid in der englischen Arbeiter¬
bewegung gespielt hat, wird später die Rede sein.

Wolfs Auffassung der geschichtlichen Veränderungen stimmt insofern mit
unsrer eignen überein, als auch er es für verkehrt erklärt, alle Erscheinungen
aus einem einzigen "Prinzip" abzuleiten, und daher auch selbstverständlich die
einseitige materialistische Geschichtserklürung der Sozialdemokraten entschieden
verwirft. Ob es nun gerade drei Kräfte sind, die die Menschheit vorwärts
bringen oder vielleicht nur im Kreise herumtreibe", darüber würde sich freilich
streiten lassen, wenn hier der Ort dazu wäre. Wolf schreibt nämlich: "Die
Kulturmenschheit wurde vorzüglich durch drei einträchtig neben einander wir¬
kende Kräfte vvrwürts gebracht: durch Ansprüche jener, die sich eine halbe
Geltung infolge ihnen günstiger Wirtschaftsverhältnisfe bereits errungen hatten
und eine ganze wollten; durch die Selbstkritik der herrschenden Klassen; und
durch die zwischen beiden vermittelnde ethische Einsicht. Diese Faktoren, die
das Rad der Menschheit vorwärts drehen, sind mich heute wirksam."




Weder Kommunismus noch Kapitalismus

mit seiner gesunden Empfindung jenen einzig richtigen Grundsatz der Straf-
rechtspflege aufgedeckt, für den unser heutiges vertünsteltes Geschlecht beinahe
blind zu sein scheint. Die Alten waren hart, wo harte Maßregeln zur Er¬
reichung eines politischen oder sonstigen wichtigen Zweckes notwendig schienen,
aber sie empfanden gegen nutzlose Grausamkeiten einen starken sittlichen und
gegen Verstümmelungen und Verkrüppelungen des Menschenleibes einen sehr
entschiednen ästhetischen Widerwillen, sie waren also zwar nicht sentimental,
aber auch nicht grausam. Eine Bestätigung seiner Auffassung sieht Wolf in
folgendem Ausspruche des Aristoteles: „Von Natur kräftigere Menschen lassen
weinerliche Menschen nicht an sich heran. Dagegen erfreuen sich Weiber und
weibische Männer an dein Mitgeseufze andrer und lieben sie als Freunde und
mitleidige Menschen." Aber das ist ja ganz genau auch die Seelenstimmung
jedes tüchtigen Mannes von heute, namentlich jedes protestantischen Deutschen;
wo er Unrecht thun und Unrecht leiden sieht, da setzt er sich nicht hin, um
mit dem Leidenden zu seufzen und zu flennen, fondern er haut auf den Übel¬
thäter ein, und ist er zu schwach zum EinHauen, so schimpft und agitirt er
wenigstens. Auch das Neue Testament ist nicht sentimental. Man lese nur
die trockne, kurzgefaßte Leidensgeschichte! Nur die nackten Thatsachen; kein
Wort, das etwaiges Mitgefühl des Zuschauers oder Erzählers verriete oder
darauf berechnet wäre, das Mitleid des Lesers zu erregen; keine Spur von
solchen nervenpeinigenden Einzelheiten, wie sie Brentano aus Legende» ge¬
sammelt und sich dann von der ekstatischen Nonne Katharina Emmerich hat
diktiren lassen. Von der Rolle, die das Mitleid in der englischen Arbeiter¬
bewegung gespielt hat, wird später die Rede sein.

Wolfs Auffassung der geschichtlichen Veränderungen stimmt insofern mit
unsrer eignen überein, als auch er es für verkehrt erklärt, alle Erscheinungen
aus einem einzigen „Prinzip" abzuleiten, und daher auch selbstverständlich die
einseitige materialistische Geschichtserklürung der Sozialdemokraten entschieden
verwirft. Ob es nun gerade drei Kräfte sind, die die Menschheit vorwärts
bringen oder vielleicht nur im Kreise herumtreibe», darüber würde sich freilich
streiten lassen, wenn hier der Ort dazu wäre. Wolf schreibt nämlich: „Die
Kulturmenschheit wurde vorzüglich durch drei einträchtig neben einander wir¬
kende Kräfte vvrwürts gebracht: durch Ansprüche jener, die sich eine halbe
Geltung infolge ihnen günstiger Wirtschaftsverhältnisfe bereits errungen hatten
und eine ganze wollten; durch die Selbstkritik der herrschenden Klassen; und
durch die zwischen beiden vermittelnde ethische Einsicht. Diese Faktoren, die
das Rad der Menschheit vorwärts drehen, sind mich heute wirksam."




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[0173] Weder Kommunismus noch Kapitalismus mit seiner gesunden Empfindung jenen einzig richtigen Grundsatz der Straf- rechtspflege aufgedeckt, für den unser heutiges vertünsteltes Geschlecht beinahe blind zu sein scheint. Die Alten waren hart, wo harte Maßregeln zur Er¬ reichung eines politischen oder sonstigen wichtigen Zweckes notwendig schienen, aber sie empfanden gegen nutzlose Grausamkeiten einen starken sittlichen und gegen Verstümmelungen und Verkrüppelungen des Menschenleibes einen sehr entschiednen ästhetischen Widerwillen, sie waren also zwar nicht sentimental, aber auch nicht grausam. Eine Bestätigung seiner Auffassung sieht Wolf in folgendem Ausspruche des Aristoteles: „Von Natur kräftigere Menschen lassen weinerliche Menschen nicht an sich heran. Dagegen erfreuen sich Weiber und weibische Männer an dein Mitgeseufze andrer und lieben sie als Freunde und mitleidige Menschen." Aber das ist ja ganz genau auch die Seelenstimmung jedes tüchtigen Mannes von heute, namentlich jedes protestantischen Deutschen; wo er Unrecht thun und Unrecht leiden sieht, da setzt er sich nicht hin, um mit dem Leidenden zu seufzen und zu flennen, fondern er haut auf den Übel¬ thäter ein, und ist er zu schwach zum EinHauen, so schimpft und agitirt er wenigstens. Auch das Neue Testament ist nicht sentimental. Man lese nur die trockne, kurzgefaßte Leidensgeschichte! Nur die nackten Thatsachen; kein Wort, das etwaiges Mitgefühl des Zuschauers oder Erzählers verriete oder darauf berechnet wäre, das Mitleid des Lesers zu erregen; keine Spur von solchen nervenpeinigenden Einzelheiten, wie sie Brentano aus Legende» ge¬ sammelt und sich dann von der ekstatischen Nonne Katharina Emmerich hat diktiren lassen. Von der Rolle, die das Mitleid in der englischen Arbeiter¬ bewegung gespielt hat, wird später die Rede sein. Wolfs Auffassung der geschichtlichen Veränderungen stimmt insofern mit unsrer eignen überein, als auch er es für verkehrt erklärt, alle Erscheinungen aus einem einzigen „Prinzip" abzuleiten, und daher auch selbstverständlich die einseitige materialistische Geschichtserklürung der Sozialdemokraten entschieden verwirft. Ob es nun gerade drei Kräfte sind, die die Menschheit vorwärts bringen oder vielleicht nur im Kreise herumtreibe», darüber würde sich freilich streiten lassen, wenn hier der Ort dazu wäre. Wolf schreibt nämlich: „Die Kulturmenschheit wurde vorzüglich durch drei einträchtig neben einander wir¬ kende Kräfte vvrwürts gebracht: durch Ansprüche jener, die sich eine halbe Geltung infolge ihnen günstiger Wirtschaftsverhältnisfe bereits errungen hatten und eine ganze wollten; durch die Selbstkritik der herrschenden Klassen; und durch die zwischen beiden vermittelnde ethische Einsicht. Diese Faktoren, die das Rad der Menschheit vorwärts drehen, sind mich heute wirksam."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/173>, abgerufen am 23.07.2024.