Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Weder Kommunismus noch Kapitalismus

den Knfig gesperrt, wird es leicht zur rasenden Bestie. Was aber die öffent¬
liche Meinung anlangt, so ist es nicht ganz überflüssig, sich darauf zu besinnen,
seit wann, wie und wodurch ihr Urteil so scharf geworden ist. Das Verdienst
dafür gebührt der Reformation, die ihre Berechtigung zunächst aus der sitt¬
lichen Verderbnis des Papsttums ableitete. Daraus entsprang einerseits für
die neue Kirche die Ehrenpflicht, am Leben ihrer Mitglieder bessere Früchte
nachzuweisen, andrerseits für die alte die Notwendigkeit, sich äußerlich mehr
als bisher zusammenzunehmen, zugleich aber die uotgedrungne und bald zur
Gewohnheit werdende Taktik aller Konfessionen und Sekten, an einander Kritik
und über einander Sittenpolizei zu üben und jede Blöße des Gegners der
Öffentlichkeit zu denunziren. Diese Gewohnheit und Taktik ist dann auf die
Politischen Parteien übergegangen, und nachdem sich der Klatschsucht Presse
und Telegraph, der Verfolgungssucht die großartigsten Staatsveranstaltungen
zur Verfügung gestellt haben, ist es höchst lustig oder für Leute von cinderm
Geschmack erbärmlich anzusehen, wie ein jeder Sünder auf die Sünder der
andern Parteien aufpaßt und ihnen das Publikum, die Polizei und den Staats¬
anwalt auf den Hals hetzt. Für die Echtheit der sittlichen Entrüstung, die
solchergestalt jahraus jahrein die Öffentlichkeit dnrchtobt, giebt es einen ziem¬
lich sichern Prüfstein: verdammt einer solche Sünden, zu denen er selbst keine
Versuchung hat, so meint ers aufrichtig. Darum ist die Entrüstung der
Reichen über die Diebereien, das Vagabundentum und die Unbotmäßigkeit der
Armen so ehrlich wie deren Entrüstung über die Härte und die ungerechten
Gewinne der Reichen und über die vermeintlichen Ungerechtigkeiten parteiischer
Richter. Zu sinnlichen Genüssen fühlen sich die meisten Menschen in allen
Klassen gleich stark versucht, daher ist, wo es sich nicht gerade um wirkliche
Verbrechen und Schandthaten handelt, die Entrüstung über Ausschreitungen
der Genußsucht in neun von zehn Füllen erheuchelt und mit ein wenig Neid
versetzt, mögen die sich entrüstenden Protestanten oder Katholiken, Konser¬
vative, Deutschfreisinnige oder Sozialdemokraten sein.

Die Geschichte der sozialen Moral teilt Wolf auf zweierlei Weise ein.
Einmal läßt er drei Zeiten der Unterdrückung von drei Zeiten der Humanität
abgelöst werden. Die der Humanität sind die römische Kaiserzeit, die Re¬
naissance und die im vorigen Jahrhundert beginnende Periode -- eine geist¬
reiche und nicht unbegründete Ausfassung. Sodann aber teilt er die ganze
Zeit der sozialen Entwicklung in drei sehr ungleich lange Perioden. Die erste
umfaßt das ganze Altertum, das Mittelalter und die neuere Zeit bis ins
vorige Jahrhundert hinein. In dieser ganzen Zeit galt nach ihm das Recht
des Stärkern. Die zweite "Epoche" soll sich erstrecken "von der Gewährung
des Rechts ans Freiheit bis zur Erkenntnis von der Unfähigkeit des Rechts
ans politische Freiheit, der wirtschaftlichen Vergewaltigung Schranken zu ziehen."
Die dritte ist die "in unsern Tagen begonnene Epoche der Verwirklichung des


Grenzboten IV 18V2 21
Weder Kommunismus noch Kapitalismus

den Knfig gesperrt, wird es leicht zur rasenden Bestie. Was aber die öffent¬
liche Meinung anlangt, so ist es nicht ganz überflüssig, sich darauf zu besinnen,
seit wann, wie und wodurch ihr Urteil so scharf geworden ist. Das Verdienst
dafür gebührt der Reformation, die ihre Berechtigung zunächst aus der sitt¬
lichen Verderbnis des Papsttums ableitete. Daraus entsprang einerseits für
die neue Kirche die Ehrenpflicht, am Leben ihrer Mitglieder bessere Früchte
nachzuweisen, andrerseits für die alte die Notwendigkeit, sich äußerlich mehr
als bisher zusammenzunehmen, zugleich aber die uotgedrungne und bald zur
Gewohnheit werdende Taktik aller Konfessionen und Sekten, an einander Kritik
und über einander Sittenpolizei zu üben und jede Blöße des Gegners der
Öffentlichkeit zu denunziren. Diese Gewohnheit und Taktik ist dann auf die
Politischen Parteien übergegangen, und nachdem sich der Klatschsucht Presse
und Telegraph, der Verfolgungssucht die großartigsten Staatsveranstaltungen
zur Verfügung gestellt haben, ist es höchst lustig oder für Leute von cinderm
Geschmack erbärmlich anzusehen, wie ein jeder Sünder auf die Sünder der
andern Parteien aufpaßt und ihnen das Publikum, die Polizei und den Staats¬
anwalt auf den Hals hetzt. Für die Echtheit der sittlichen Entrüstung, die
solchergestalt jahraus jahrein die Öffentlichkeit dnrchtobt, giebt es einen ziem¬
lich sichern Prüfstein: verdammt einer solche Sünden, zu denen er selbst keine
Versuchung hat, so meint ers aufrichtig. Darum ist die Entrüstung der
Reichen über die Diebereien, das Vagabundentum und die Unbotmäßigkeit der
Armen so ehrlich wie deren Entrüstung über die Härte und die ungerechten
Gewinne der Reichen und über die vermeintlichen Ungerechtigkeiten parteiischer
Richter. Zu sinnlichen Genüssen fühlen sich die meisten Menschen in allen
Klassen gleich stark versucht, daher ist, wo es sich nicht gerade um wirkliche
Verbrechen und Schandthaten handelt, die Entrüstung über Ausschreitungen
der Genußsucht in neun von zehn Füllen erheuchelt und mit ein wenig Neid
versetzt, mögen die sich entrüstenden Protestanten oder Katholiken, Konser¬
vative, Deutschfreisinnige oder Sozialdemokraten sein.

Die Geschichte der sozialen Moral teilt Wolf auf zweierlei Weise ein.
Einmal läßt er drei Zeiten der Unterdrückung von drei Zeiten der Humanität
abgelöst werden. Die der Humanität sind die römische Kaiserzeit, die Re¬
naissance und die im vorigen Jahrhundert beginnende Periode — eine geist¬
reiche und nicht unbegründete Ausfassung. Sodann aber teilt er die ganze
Zeit der sozialen Entwicklung in drei sehr ungleich lange Perioden. Die erste
umfaßt das ganze Altertum, das Mittelalter und die neuere Zeit bis ins
vorige Jahrhundert hinein. In dieser ganzen Zeit galt nach ihm das Recht
des Stärkern. Die zweite „Epoche" soll sich erstrecken „von der Gewährung
des Rechts ans Freiheit bis zur Erkenntnis von der Unfähigkeit des Rechts
ans politische Freiheit, der wirtschaftlichen Vergewaltigung Schranken zu ziehen."
Die dritte ist die „in unsern Tagen begonnene Epoche der Verwirklichung des


Grenzboten IV 18V2 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213283"/>
          <fw type="header" place="top"> Weder Kommunismus noch Kapitalismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_467" prev="#ID_466"> den Knfig gesperrt, wird es leicht zur rasenden Bestie. Was aber die öffent¬<lb/>
liche Meinung anlangt, so ist es nicht ganz überflüssig, sich darauf zu besinnen,<lb/>
seit wann, wie und wodurch ihr Urteil so scharf geworden ist. Das Verdienst<lb/>
dafür gebührt der Reformation, die ihre Berechtigung zunächst aus der sitt¬<lb/>
lichen Verderbnis des Papsttums ableitete. Daraus entsprang einerseits für<lb/>
die neue Kirche die Ehrenpflicht, am Leben ihrer Mitglieder bessere Früchte<lb/>
nachzuweisen, andrerseits für die alte die Notwendigkeit, sich äußerlich mehr<lb/>
als bisher zusammenzunehmen, zugleich aber die uotgedrungne und bald zur<lb/>
Gewohnheit werdende Taktik aller Konfessionen und Sekten, an einander Kritik<lb/>
und über einander Sittenpolizei zu üben und jede Blöße des Gegners der<lb/>
Öffentlichkeit zu denunziren. Diese Gewohnheit und Taktik ist dann auf die<lb/>
Politischen Parteien übergegangen, und nachdem sich der Klatschsucht Presse<lb/>
und Telegraph, der Verfolgungssucht die großartigsten Staatsveranstaltungen<lb/>
zur Verfügung gestellt haben, ist es höchst lustig oder für Leute von cinderm<lb/>
Geschmack erbärmlich anzusehen, wie ein jeder Sünder auf die Sünder der<lb/>
andern Parteien aufpaßt und ihnen das Publikum, die Polizei und den Staats¬<lb/>
anwalt auf den Hals hetzt. Für die Echtheit der sittlichen Entrüstung, die<lb/>
solchergestalt jahraus jahrein die Öffentlichkeit dnrchtobt, giebt es einen ziem¬<lb/>
lich sichern Prüfstein: verdammt einer solche Sünden, zu denen er selbst keine<lb/>
Versuchung hat, so meint ers aufrichtig. Darum ist die Entrüstung der<lb/>
Reichen über die Diebereien, das Vagabundentum und die Unbotmäßigkeit der<lb/>
Armen so ehrlich wie deren Entrüstung über die Härte und die ungerechten<lb/>
Gewinne der Reichen und über die vermeintlichen Ungerechtigkeiten parteiischer<lb/>
Richter. Zu sinnlichen Genüssen fühlen sich die meisten Menschen in allen<lb/>
Klassen gleich stark versucht, daher ist, wo es sich nicht gerade um wirkliche<lb/>
Verbrechen und Schandthaten handelt, die Entrüstung über Ausschreitungen<lb/>
der Genußsucht in neun von zehn Füllen erheuchelt und mit ein wenig Neid<lb/>
versetzt, mögen die sich entrüstenden Protestanten oder Katholiken, Konser¬<lb/>
vative, Deutschfreisinnige oder Sozialdemokraten sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_468" next="#ID_469"> Die Geschichte der sozialen Moral teilt Wolf auf zweierlei Weise ein.<lb/>
Einmal läßt er drei Zeiten der Unterdrückung von drei Zeiten der Humanität<lb/>
abgelöst werden. Die der Humanität sind die römische Kaiserzeit, die Re¬<lb/>
naissance und die im vorigen Jahrhundert beginnende Periode &#x2014; eine geist¬<lb/>
reiche und nicht unbegründete Ausfassung. Sodann aber teilt er die ganze<lb/>
Zeit der sozialen Entwicklung in drei sehr ungleich lange Perioden. Die erste<lb/>
umfaßt das ganze Altertum, das Mittelalter und die neuere Zeit bis ins<lb/>
vorige Jahrhundert hinein. In dieser ganzen Zeit galt nach ihm das Recht<lb/>
des Stärkern. Die zweite &#x201E;Epoche" soll sich erstrecken &#x201E;von der Gewährung<lb/>
des Rechts ans Freiheit bis zur Erkenntnis von der Unfähigkeit des Rechts<lb/>
ans politische Freiheit, der wirtschaftlichen Vergewaltigung Schranken zu ziehen."<lb/>
Die dritte ist die &#x201E;in unsern Tagen begonnene Epoche der Verwirklichung des</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 18V2 21</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] Weder Kommunismus noch Kapitalismus den Knfig gesperrt, wird es leicht zur rasenden Bestie. Was aber die öffent¬ liche Meinung anlangt, so ist es nicht ganz überflüssig, sich darauf zu besinnen, seit wann, wie und wodurch ihr Urteil so scharf geworden ist. Das Verdienst dafür gebührt der Reformation, die ihre Berechtigung zunächst aus der sitt¬ lichen Verderbnis des Papsttums ableitete. Daraus entsprang einerseits für die neue Kirche die Ehrenpflicht, am Leben ihrer Mitglieder bessere Früchte nachzuweisen, andrerseits für die alte die Notwendigkeit, sich äußerlich mehr als bisher zusammenzunehmen, zugleich aber die uotgedrungne und bald zur Gewohnheit werdende Taktik aller Konfessionen und Sekten, an einander Kritik und über einander Sittenpolizei zu üben und jede Blöße des Gegners der Öffentlichkeit zu denunziren. Diese Gewohnheit und Taktik ist dann auf die Politischen Parteien übergegangen, und nachdem sich der Klatschsucht Presse und Telegraph, der Verfolgungssucht die großartigsten Staatsveranstaltungen zur Verfügung gestellt haben, ist es höchst lustig oder für Leute von cinderm Geschmack erbärmlich anzusehen, wie ein jeder Sünder auf die Sünder der andern Parteien aufpaßt und ihnen das Publikum, die Polizei und den Staats¬ anwalt auf den Hals hetzt. Für die Echtheit der sittlichen Entrüstung, die solchergestalt jahraus jahrein die Öffentlichkeit dnrchtobt, giebt es einen ziem¬ lich sichern Prüfstein: verdammt einer solche Sünden, zu denen er selbst keine Versuchung hat, so meint ers aufrichtig. Darum ist die Entrüstung der Reichen über die Diebereien, das Vagabundentum und die Unbotmäßigkeit der Armen so ehrlich wie deren Entrüstung über die Härte und die ungerechten Gewinne der Reichen und über die vermeintlichen Ungerechtigkeiten parteiischer Richter. Zu sinnlichen Genüssen fühlen sich die meisten Menschen in allen Klassen gleich stark versucht, daher ist, wo es sich nicht gerade um wirkliche Verbrechen und Schandthaten handelt, die Entrüstung über Ausschreitungen der Genußsucht in neun von zehn Füllen erheuchelt und mit ein wenig Neid versetzt, mögen die sich entrüstenden Protestanten oder Katholiken, Konser¬ vative, Deutschfreisinnige oder Sozialdemokraten sein. Die Geschichte der sozialen Moral teilt Wolf auf zweierlei Weise ein. Einmal läßt er drei Zeiten der Unterdrückung von drei Zeiten der Humanität abgelöst werden. Die der Humanität sind die römische Kaiserzeit, die Re¬ naissance und die im vorigen Jahrhundert beginnende Periode — eine geist¬ reiche und nicht unbegründete Ausfassung. Sodann aber teilt er die ganze Zeit der sozialen Entwicklung in drei sehr ungleich lange Perioden. Die erste umfaßt das ganze Altertum, das Mittelalter und die neuere Zeit bis ins vorige Jahrhundert hinein. In dieser ganzen Zeit galt nach ihm das Recht des Stärkern. Die zweite „Epoche" soll sich erstrecken „von der Gewährung des Rechts ans Freiheit bis zur Erkenntnis von der Unfähigkeit des Rechts ans politische Freiheit, der wirtschaftlichen Vergewaltigung Schranken zu ziehen." Die dritte ist die „in unsern Tagen begonnene Epoche der Verwirklichung des Grenzboten IV 18V2 21

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/169>, abgerufen am 23.07.2024.