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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Weder Kommunismus uoch Kapitalismus

hochzivilisirten Volke im neunzehnten Jahrhundert verübt worden, und indem
wir sie hervorheben, wollen wir den Wahn zerstören, als ob heute und in
Europa "so etwas nicht mehr vorkommen könne," als ob unser Geschlecht
durch seine Humanität und seinen Gerechtigkeitssinn allein schon vor dem
Rückfall in eine Barbarei geschützt wäre, die Staat und Gesellschaft mit dem
Untergange bedroht. Zweitens aber ist es von höchster Wichtigkeit, festzu¬
stellen, daß gewisse volkswirtschaftliche und soziale Übel keineswegs durch
natürliche Ursachen erzeugt, sondern durch menschliche Bosheit verschuldet
worden sind, daher geheilt und für die Zukunft vermieden werden können.

Von diesem Standpunkte aus können wir der übrigens sehr anziehenden
Geschichte der sozialen Moral und der sozialen Grundrechte, die Wolf im ersten
Abschnitte liefert, nur eine rein akademische, also für unsern praktischen Zweck
untergeordnete Bedeutung beimessen. Doch dürfen wir sie, schon wegen der
vielen Berührungspunkte mit unsern eiguen bei verschiednen Gelegenheiten kund¬
gegebnen Ansichten, auch nicht gänzlich übergehen. Indem Wolf die Frage
nach dem Fortschritt der Moral im allgemeinen aufwirft, kommt er zu dem
Ergebnis, daß die exoterische Sittlichkeit zweifellos fortgeschritten, die esoterische
aber zurückgeblieben sei; doch will er auch an dem Fortschritt dieser nicht ver¬
zweifeln und glaubt, daß sie durch jene gefördert werde. Unter exoterischer
Sittlichkeit versteht er nämlich "die zur Schau getragne und äußerlich geübte,
unter cholerischer die innerlich empfundne, dem Drange des Herzens entquellende."
Mit den von Wolf wahrgenommenen Thatsachen hat es seine Nichtigkeit, nur
ist der Ausdruck exoterische Sittlichkeit nicht ganz zutreffend; die Sittlichkeit
sitzt immer inwendig. Was er mit jenem Ausdruck meint, ist einerseits die
Legalität, andrerseits die öffentliche Meinung über Sittlichkeitsfragen. Jene
wächst selbstverständlich mit der bei enger Zusammendrängung der Menschen
notwendigen Zwangsgewalt des Staates, der gegenüber die Willkür des Ein¬
zelnen niemals so ohnmächtig gewesen ist wie heute. Ihrem sittlichen Werte
nach steht die Legalität auf einer Stufe mit der Sittsamkeit großstädtischer
Hunde, die durch bescheidne Zurückhaltung und vorsichtige Anpassung an eine
gefahrvolle Umgebung das harte Schicksal, bald auf den Schwanz, bald ans
die Pfoten getreten, bald durchgeprügelt, bald hinausgeworfen zu werden, klug
zu mildern verstehen. .Wie weit sie einen günstigen Einfluß auf die wirkliche,
die innerliche Sittlichkeit übt, weiß Gott allein; gewisse ungünstige Einflüsse
verraten sich auch dem menschlichen Beobachter. Daß die erzwungne Legalität
mit den animalischen Lebensgeistern zugleich auch den Schwung der Seele
niederdrücke, ist schon oft beklagt worden, von den stärkern Geistern aber
pflegen die Robern im Widerstande gegen das Joch einer erzwungnen
"Herdenmoral" Verbrecher zu werden, die Feinern überzuschnappen und sich
an den Wahngebilden eines erträumten Übermenschentums zu erlaben. Bei
leidlicher Freiheit bleibt das Menschentier ein ziemlich harmloses Geschöpf, in


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hochzivilisirten Volke im neunzehnten Jahrhundert verübt worden, und indem
wir sie hervorheben, wollen wir den Wahn zerstören, als ob heute und in
Europa „so etwas nicht mehr vorkommen könne," als ob unser Geschlecht
durch seine Humanität und seinen Gerechtigkeitssinn allein schon vor dem
Rückfall in eine Barbarei geschützt wäre, die Staat und Gesellschaft mit dem
Untergange bedroht. Zweitens aber ist es von höchster Wichtigkeit, festzu¬
stellen, daß gewisse volkswirtschaftliche und soziale Übel keineswegs durch
natürliche Ursachen erzeugt, sondern durch menschliche Bosheit verschuldet
worden sind, daher geheilt und für die Zukunft vermieden werden können.

Von diesem Standpunkte aus können wir der übrigens sehr anziehenden
Geschichte der sozialen Moral und der sozialen Grundrechte, die Wolf im ersten
Abschnitte liefert, nur eine rein akademische, also für unsern praktischen Zweck
untergeordnete Bedeutung beimessen. Doch dürfen wir sie, schon wegen der
vielen Berührungspunkte mit unsern eiguen bei verschiednen Gelegenheiten kund¬
gegebnen Ansichten, auch nicht gänzlich übergehen. Indem Wolf die Frage
nach dem Fortschritt der Moral im allgemeinen aufwirft, kommt er zu dem
Ergebnis, daß die exoterische Sittlichkeit zweifellos fortgeschritten, die esoterische
aber zurückgeblieben sei; doch will er auch an dem Fortschritt dieser nicht ver¬
zweifeln und glaubt, daß sie durch jene gefördert werde. Unter exoterischer
Sittlichkeit versteht er nämlich „die zur Schau getragne und äußerlich geübte,
unter cholerischer die innerlich empfundne, dem Drange des Herzens entquellende."
Mit den von Wolf wahrgenommenen Thatsachen hat es seine Nichtigkeit, nur
ist der Ausdruck exoterische Sittlichkeit nicht ganz zutreffend; die Sittlichkeit
sitzt immer inwendig. Was er mit jenem Ausdruck meint, ist einerseits die
Legalität, andrerseits die öffentliche Meinung über Sittlichkeitsfragen. Jene
wächst selbstverständlich mit der bei enger Zusammendrängung der Menschen
notwendigen Zwangsgewalt des Staates, der gegenüber die Willkür des Ein¬
zelnen niemals so ohnmächtig gewesen ist wie heute. Ihrem sittlichen Werte
nach steht die Legalität auf einer Stufe mit der Sittsamkeit großstädtischer
Hunde, die durch bescheidne Zurückhaltung und vorsichtige Anpassung an eine
gefahrvolle Umgebung das harte Schicksal, bald auf den Schwanz, bald ans
die Pfoten getreten, bald durchgeprügelt, bald hinausgeworfen zu werden, klug
zu mildern verstehen. .Wie weit sie einen günstigen Einfluß auf die wirkliche,
die innerliche Sittlichkeit übt, weiß Gott allein; gewisse ungünstige Einflüsse
verraten sich auch dem menschlichen Beobachter. Daß die erzwungne Legalität
mit den animalischen Lebensgeistern zugleich auch den Schwung der Seele
niederdrücke, ist schon oft beklagt worden, von den stärkern Geistern aber
pflegen die Robern im Widerstande gegen das Joch einer erzwungnen
„Herdenmoral" Verbrecher zu werden, die Feinern überzuschnappen und sich
an den Wahngebilden eines erträumten Übermenschentums zu erlaben. Bei
leidlicher Freiheit bleibt das Menschentier ein ziemlich harmloses Geschöpf, in


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[0168] Weder Kommunismus uoch Kapitalismus hochzivilisirten Volke im neunzehnten Jahrhundert verübt worden, und indem wir sie hervorheben, wollen wir den Wahn zerstören, als ob heute und in Europa „so etwas nicht mehr vorkommen könne," als ob unser Geschlecht durch seine Humanität und seinen Gerechtigkeitssinn allein schon vor dem Rückfall in eine Barbarei geschützt wäre, die Staat und Gesellschaft mit dem Untergange bedroht. Zweitens aber ist es von höchster Wichtigkeit, festzu¬ stellen, daß gewisse volkswirtschaftliche und soziale Übel keineswegs durch natürliche Ursachen erzeugt, sondern durch menschliche Bosheit verschuldet worden sind, daher geheilt und für die Zukunft vermieden werden können. Von diesem Standpunkte aus können wir der übrigens sehr anziehenden Geschichte der sozialen Moral und der sozialen Grundrechte, die Wolf im ersten Abschnitte liefert, nur eine rein akademische, also für unsern praktischen Zweck untergeordnete Bedeutung beimessen. Doch dürfen wir sie, schon wegen der vielen Berührungspunkte mit unsern eiguen bei verschiednen Gelegenheiten kund¬ gegebnen Ansichten, auch nicht gänzlich übergehen. Indem Wolf die Frage nach dem Fortschritt der Moral im allgemeinen aufwirft, kommt er zu dem Ergebnis, daß die exoterische Sittlichkeit zweifellos fortgeschritten, die esoterische aber zurückgeblieben sei; doch will er auch an dem Fortschritt dieser nicht ver¬ zweifeln und glaubt, daß sie durch jene gefördert werde. Unter exoterischer Sittlichkeit versteht er nämlich „die zur Schau getragne und äußerlich geübte, unter cholerischer die innerlich empfundne, dem Drange des Herzens entquellende." Mit den von Wolf wahrgenommenen Thatsachen hat es seine Nichtigkeit, nur ist der Ausdruck exoterische Sittlichkeit nicht ganz zutreffend; die Sittlichkeit sitzt immer inwendig. Was er mit jenem Ausdruck meint, ist einerseits die Legalität, andrerseits die öffentliche Meinung über Sittlichkeitsfragen. Jene wächst selbstverständlich mit der bei enger Zusammendrängung der Menschen notwendigen Zwangsgewalt des Staates, der gegenüber die Willkür des Ein¬ zelnen niemals so ohnmächtig gewesen ist wie heute. Ihrem sittlichen Werte nach steht die Legalität auf einer Stufe mit der Sittsamkeit großstädtischer Hunde, die durch bescheidne Zurückhaltung und vorsichtige Anpassung an eine gefahrvolle Umgebung das harte Schicksal, bald auf den Schwanz, bald ans die Pfoten getreten, bald durchgeprügelt, bald hinausgeworfen zu werden, klug zu mildern verstehen. .Wie weit sie einen günstigen Einfluß auf die wirkliche, die innerliche Sittlichkeit übt, weiß Gott allein; gewisse ungünstige Einflüsse verraten sich auch dem menschlichen Beobachter. Daß die erzwungne Legalität mit den animalischen Lebensgeistern zugleich auch den Schwung der Seele niederdrücke, ist schon oft beklagt worden, von den stärkern Geistern aber pflegen die Robern im Widerstande gegen das Joch einer erzwungnen „Herdenmoral" Verbrecher zu werden, die Feinern überzuschnappen und sich an den Wahngebilden eines erträumten Übermenschentums zu erlaben. Bei leidlicher Freiheit bleibt das Menschentier ein ziemlich harmloses Geschöpf, in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/168>, abgerufen am 23.07.2024.