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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Ferien, Bader und Landstraßen

Worden oder hinnntergefallen sind. Jm Winter suchen die meisten dieser
Wanderer einen sichern Unterschlupf vor den Unbilden des rauhen Wetters,
oder sie dehnen ihre Fahrt, wie andre ihrer Landsleute vor der Kälte flüchtend,
bis an die Riviera, in die Provence und in die schönen Länder ans, "wo die
Citronen blühn." Aber wie es Badegäste giebt, die im Seebade überwintern
trotz Sturm und Eis, so wird auch die deutsche Landstraße mitten im Winter
nie ganz leer.

Diese Kinder der Landstraße sind die Stiefkinder unsrer Zeit, ebenso ver¬
kümmert und zurückgesetzt, wie ihre Halbgeschwister verzogen und bevorzugt
sind. Für die einen wird üppig, für die andern erbärmlich gesorgt, dort ist
alles Licht, hier alles Schatten, dort ist die Hohe, hier die Tiefe der Erden¬
freude", dort Lebensgenuß in vollen Zügen, hier Kampf ums Dasein auf
dem Wege des "Fechtens." Ferienleben im Bade, Ferienleben auf der Land¬
straße -- welche Gegensätze! Wie "brillant" sind die Witze, die die Witzblätter
über jenes, und wie saftlos sind die, die sie über dieses bringen; wie elegant
und pikant sind die Kostüme der Modeblätter, und wie jämmerlich und trost¬
los sind die Zeichnungen von Pennbrüdern! Ein Typus fehlt zum Glück noch
auf der Landstraße, der der häßlichste von allen wäre, die Proletariern, ist
"och nicht so weit "emanzipirt," daß sie mit dem Manne wandern ginge;
geschähe es jemals, so wäre das das Ende aller guten Zucht und Sitte.

Die Vorsehung hat es ja weise gefügt, daß selbst das ärmste Dasein, das
des Vagabunden, seine Sonnenblicke hat und nicht jeder Freude bar ist. Auch
das Leben auf der Landstraße hat seinen Reiz, und auch ein Vagabund mag
zuweilen denken und singen: "Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt
er in die weite Welt." In der schönen Jahreszeit ist es nicht schwer, sich
durchzuschlagen. Es giebt arme, elende Leute, die ihre Sommerferien nicht
entbehren können, die in jedem neue" Jahr, wenn der Mai gekommen ist, aus¬
fliegen und erst, wenn der Winter naht, sich wieder vor Anker legen, es giebt
auch solche, die nur gelegentlich das sreie Leben kosten, ohne es sich zur Ge¬
wohnheit zu machen. Aber wenn sich auch ein Wandergesell dieser Gattung
manchmal glücklich fühlen mag, so schwebt ihm doch immer drohend das Bild
der heiligen Hermandad vor Augen, mit der er sich auseinanderzusetzen und
zu "benehmen" und vor der er sich "auszuweisen" hat. Diese nützliche Ge-
sellschastseinrichtung, ohne die der Staat nicht bestehen könnte, zeigt sich auch
dein Badegast, aber immer nur von der liebenswürdigsten Seite, während sie
gegen den Wanderer ein finsteres oder mindestens süßsaures Gesicht macht und
ihn zuweilen packt mit einem: "Haben wir dich einmal, du schlechter Kerl!"
Dann lebe wohl, du schöne Welt, du freies Straßenleben!

Es ist nicht immer angebracht, mit diesen Liebhabern der Sommerferien
Bedauern und Mitgefühl zu haben, wir würden nur zu oft erfahren, daß sie
es nicht verdienen oder wenigstens dasür nicht erkenntlich und dankbar sind,


Ferien, Bader und Landstraßen

Worden oder hinnntergefallen sind. Jm Winter suchen die meisten dieser
Wanderer einen sichern Unterschlupf vor den Unbilden des rauhen Wetters,
oder sie dehnen ihre Fahrt, wie andre ihrer Landsleute vor der Kälte flüchtend,
bis an die Riviera, in die Provence und in die schönen Länder ans, „wo die
Citronen blühn." Aber wie es Badegäste giebt, die im Seebade überwintern
trotz Sturm und Eis, so wird auch die deutsche Landstraße mitten im Winter
nie ganz leer.

Diese Kinder der Landstraße sind die Stiefkinder unsrer Zeit, ebenso ver¬
kümmert und zurückgesetzt, wie ihre Halbgeschwister verzogen und bevorzugt
sind. Für die einen wird üppig, für die andern erbärmlich gesorgt, dort ist
alles Licht, hier alles Schatten, dort ist die Hohe, hier die Tiefe der Erden¬
freude», dort Lebensgenuß in vollen Zügen, hier Kampf ums Dasein auf
dem Wege des „Fechtens." Ferienleben im Bade, Ferienleben auf der Land¬
straße — welche Gegensätze! Wie „brillant" sind die Witze, die die Witzblätter
über jenes, und wie saftlos sind die, die sie über dieses bringen; wie elegant
und pikant sind die Kostüme der Modeblätter, und wie jämmerlich und trost¬
los sind die Zeichnungen von Pennbrüdern! Ein Typus fehlt zum Glück noch
auf der Landstraße, der der häßlichste von allen wäre, die Proletariern, ist
»och nicht so weit „emanzipirt," daß sie mit dem Manne wandern ginge;
geschähe es jemals, so wäre das das Ende aller guten Zucht und Sitte.

Die Vorsehung hat es ja weise gefügt, daß selbst das ärmste Dasein, das
des Vagabunden, seine Sonnenblicke hat und nicht jeder Freude bar ist. Auch
das Leben auf der Landstraße hat seinen Reiz, und auch ein Vagabund mag
zuweilen denken und singen: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt
er in die weite Welt." In der schönen Jahreszeit ist es nicht schwer, sich
durchzuschlagen. Es giebt arme, elende Leute, die ihre Sommerferien nicht
entbehren können, die in jedem neue« Jahr, wenn der Mai gekommen ist, aus¬
fliegen und erst, wenn der Winter naht, sich wieder vor Anker legen, es giebt
auch solche, die nur gelegentlich das sreie Leben kosten, ohne es sich zur Ge¬
wohnheit zu machen. Aber wenn sich auch ein Wandergesell dieser Gattung
manchmal glücklich fühlen mag, so schwebt ihm doch immer drohend das Bild
der heiligen Hermandad vor Augen, mit der er sich auseinanderzusetzen und
zu „benehmen" und vor der er sich „auszuweisen" hat. Diese nützliche Ge-
sellschastseinrichtung, ohne die der Staat nicht bestehen könnte, zeigt sich auch
dein Badegast, aber immer nur von der liebenswürdigsten Seite, während sie
gegen den Wanderer ein finsteres oder mindestens süßsaures Gesicht macht und
ihn zuweilen packt mit einem: „Haben wir dich einmal, du schlechter Kerl!"
Dann lebe wohl, du schöne Welt, du freies Straßenleben!

Es ist nicht immer angebracht, mit diesen Liebhabern der Sommerferien
Bedauern und Mitgefühl zu haben, wir würden nur zu oft erfahren, daß sie
es nicht verdienen oder wenigstens dasür nicht erkenntlich und dankbar sind,


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[0141] Ferien, Bader und Landstraßen Worden oder hinnntergefallen sind. Jm Winter suchen die meisten dieser Wanderer einen sichern Unterschlupf vor den Unbilden des rauhen Wetters, oder sie dehnen ihre Fahrt, wie andre ihrer Landsleute vor der Kälte flüchtend, bis an die Riviera, in die Provence und in die schönen Länder ans, „wo die Citronen blühn." Aber wie es Badegäste giebt, die im Seebade überwintern trotz Sturm und Eis, so wird auch die deutsche Landstraße mitten im Winter nie ganz leer. Diese Kinder der Landstraße sind die Stiefkinder unsrer Zeit, ebenso ver¬ kümmert und zurückgesetzt, wie ihre Halbgeschwister verzogen und bevorzugt sind. Für die einen wird üppig, für die andern erbärmlich gesorgt, dort ist alles Licht, hier alles Schatten, dort ist die Hohe, hier die Tiefe der Erden¬ freude», dort Lebensgenuß in vollen Zügen, hier Kampf ums Dasein auf dem Wege des „Fechtens." Ferienleben im Bade, Ferienleben auf der Land¬ straße — welche Gegensätze! Wie „brillant" sind die Witze, die die Witzblätter über jenes, und wie saftlos sind die, die sie über dieses bringen; wie elegant und pikant sind die Kostüme der Modeblätter, und wie jämmerlich und trost¬ los sind die Zeichnungen von Pennbrüdern! Ein Typus fehlt zum Glück noch auf der Landstraße, der der häßlichste von allen wäre, die Proletariern, ist »och nicht so weit „emanzipirt," daß sie mit dem Manne wandern ginge; geschähe es jemals, so wäre das das Ende aller guten Zucht und Sitte. Die Vorsehung hat es ja weise gefügt, daß selbst das ärmste Dasein, das des Vagabunden, seine Sonnenblicke hat und nicht jeder Freude bar ist. Auch das Leben auf der Landstraße hat seinen Reiz, und auch ein Vagabund mag zuweilen denken und singen: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt." In der schönen Jahreszeit ist es nicht schwer, sich durchzuschlagen. Es giebt arme, elende Leute, die ihre Sommerferien nicht entbehren können, die in jedem neue« Jahr, wenn der Mai gekommen ist, aus¬ fliegen und erst, wenn der Winter naht, sich wieder vor Anker legen, es giebt auch solche, die nur gelegentlich das sreie Leben kosten, ohne es sich zur Ge¬ wohnheit zu machen. Aber wenn sich auch ein Wandergesell dieser Gattung manchmal glücklich fühlen mag, so schwebt ihm doch immer drohend das Bild der heiligen Hermandad vor Augen, mit der er sich auseinanderzusetzen und zu „benehmen" und vor der er sich „auszuweisen" hat. Diese nützliche Ge- sellschastseinrichtung, ohne die der Staat nicht bestehen könnte, zeigt sich auch dein Badegast, aber immer nur von der liebenswürdigsten Seite, während sie gegen den Wanderer ein finsteres oder mindestens süßsaures Gesicht macht und ihn zuweilen packt mit einem: „Haben wir dich einmal, du schlechter Kerl!" Dann lebe wohl, du schöne Welt, du freies Straßenleben! Es ist nicht immer angebracht, mit diesen Liebhabern der Sommerferien Bedauern und Mitgefühl zu haben, wir würden nur zu oft erfahren, daß sie es nicht verdienen oder wenigstens dasür nicht erkenntlich und dankbar sind,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/141>, abgerufen am 23.07.2024.