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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Ferien, Bäder und Landstraßen

getrost an die Seite stellen kann, ja sie sogar übertrifft. Hier werden zwar
die Gäste und "Passanten" nicht so sorgfältig wie in den Bädern gezählt,
und die Namen dieser namenlosen Leute werden in keiner Liste zusammen¬
gestellt, aber man kann sich einen Begriff von ihrer "stattlichen" Zahl bilden,
wenn man gewissermaßen Stichproben macht und darauf achtet, wie sie un¬
aufhörlich in neuen Schuhen, einzeln, zu zweien und dreien und in ganzen
Trupps einherziehen. Eine Vorstellung von dieser "Gesamtfrequenz," von
der Lebhaftigkeit dieses Verkehrs gewinnt man auch, wenn man Angaben liest,
wie daß im Jahre 1891 allein im Großherzogtum Hessen 25V9 "Bettler und
Landstreicher" abgeurteilt worden seien. Aber die Wanderer ans der Land¬
straße sind durchaus nicht alle das, was man unter Bettlern und Landstreichern
zu verstehen gewohnt ist, selbst wenn sie einmal zufällig zu ihrem Unglück in
diese juristische Kategorie hineingeraten sollten, sie gehören nur zum Teil dem
Lumpenproletariat, dem elenden fünften Stande an, zum Teil dagegen der
"industriellen Reservearmee," auf die die organisirte Sozialdemokratie ihre
marxistischen Hoffnungen setzt. Wenn in einem modernen "Verdichtnngsmittel-
puutte" des Menschengewühls eine Krise der Produktion, ein Massenstreik,
eine menschenhinrnffende Seuche oder ein ähnliches allgemeines Unglück aus¬
gebrochen ist, wodurch viele Existenzen zu Grunde gehen, verlumpen und aufs
Pflaster geworfen werden, dann sind auch die feiernden und flüchtenden Ver¬
treter der nationalen Industrie in großer Menge ans der Wanderung zu
finden. Aber unter allen Kunden der Landstraße besteht ein gewisser Zu¬
sammenhang, ein "Solidaritätsgefühl"; selbst dies Fremdwort ist manchem
unter ihnen durchaus geläufig. Auch sie besitzen den Stolz auf die Zahl, von
dem unsre ganze Zeit erfüllt ist, ihre Masse flößt ihnen ein Gefühl der Stärke
ein, das ihnen Zukunftshoffnungen vorgaukelt, Luftschlösser, die in einem
sonderbaren Gegensatz zu ihrem gegenwärtigen Elend stehn. Für die Zulassung
in ihre Gemeinschaft ist eine gewisse obere Normalgrenze des Besitzes nötig,
wie in den Bädern eine untere, und wer sich auffällig bester als die übrigen
steht, wird als halber Bourgeois augesehen. Es herrscht hier demokratische
Gleichheit und Brüderlichkeit, Genüsse sind nicht vorhanden anßer der hier
gänzlich kostenlosen "Natnrkneiperei," eine Kurtaxe wird deshalb ausnahmslos
nicht erhoben, es wird im Freien getafelt und bei "Mutter Grün" im An¬
gesicht des gestirnten Himmels auf der bloßen Oberflüche der Erdkugel ge¬
schlafen, oder man kehrt in Hotels ein, die Herbergen und bezeichnenderweise
meist Herbergen "zur Heimat" (auch eine Heimat!) heißen. Der Anzug ist
durchweg unelegant und unansehnlich, oft recht schäbig und abgerissen und zu¬
weilen merkwürdig bunt. Ansprüche an "Bildung" werden nicht gemacht;
auch diese Gäste werden eben so wenig wie die Badegäste auf ihr Wissen und
Können hin examinirt, aber es giebt Menschen mit der besten Bildung darunter,
"Bildungsproletariat," die die Stufenleiter der Gesellschaft hinuntergestoßen


Ferien, Bäder und Landstraßen

getrost an die Seite stellen kann, ja sie sogar übertrifft. Hier werden zwar
die Gäste und „Passanten" nicht so sorgfältig wie in den Bädern gezählt,
und die Namen dieser namenlosen Leute werden in keiner Liste zusammen¬
gestellt, aber man kann sich einen Begriff von ihrer „stattlichen" Zahl bilden,
wenn man gewissermaßen Stichproben macht und darauf achtet, wie sie un¬
aufhörlich in neuen Schuhen, einzeln, zu zweien und dreien und in ganzen
Trupps einherziehen. Eine Vorstellung von dieser „Gesamtfrequenz," von
der Lebhaftigkeit dieses Verkehrs gewinnt man auch, wenn man Angaben liest,
wie daß im Jahre 1891 allein im Großherzogtum Hessen 25V9 „Bettler und
Landstreicher" abgeurteilt worden seien. Aber die Wanderer ans der Land¬
straße sind durchaus nicht alle das, was man unter Bettlern und Landstreichern
zu verstehen gewohnt ist, selbst wenn sie einmal zufällig zu ihrem Unglück in
diese juristische Kategorie hineingeraten sollten, sie gehören nur zum Teil dem
Lumpenproletariat, dem elenden fünften Stande an, zum Teil dagegen der
„industriellen Reservearmee," auf die die organisirte Sozialdemokratie ihre
marxistischen Hoffnungen setzt. Wenn in einem modernen „Verdichtnngsmittel-
puutte" des Menschengewühls eine Krise der Produktion, ein Massenstreik,
eine menschenhinrnffende Seuche oder ein ähnliches allgemeines Unglück aus¬
gebrochen ist, wodurch viele Existenzen zu Grunde gehen, verlumpen und aufs
Pflaster geworfen werden, dann sind auch die feiernden und flüchtenden Ver¬
treter der nationalen Industrie in großer Menge ans der Wanderung zu
finden. Aber unter allen Kunden der Landstraße besteht ein gewisser Zu¬
sammenhang, ein „Solidaritätsgefühl"; selbst dies Fremdwort ist manchem
unter ihnen durchaus geläufig. Auch sie besitzen den Stolz auf die Zahl, von
dem unsre ganze Zeit erfüllt ist, ihre Masse flößt ihnen ein Gefühl der Stärke
ein, das ihnen Zukunftshoffnungen vorgaukelt, Luftschlösser, die in einem
sonderbaren Gegensatz zu ihrem gegenwärtigen Elend stehn. Für die Zulassung
in ihre Gemeinschaft ist eine gewisse obere Normalgrenze des Besitzes nötig,
wie in den Bädern eine untere, und wer sich auffällig bester als die übrigen
steht, wird als halber Bourgeois augesehen. Es herrscht hier demokratische
Gleichheit und Brüderlichkeit, Genüsse sind nicht vorhanden anßer der hier
gänzlich kostenlosen „Natnrkneiperei," eine Kurtaxe wird deshalb ausnahmslos
nicht erhoben, es wird im Freien getafelt und bei „Mutter Grün" im An¬
gesicht des gestirnten Himmels auf der bloßen Oberflüche der Erdkugel ge¬
schlafen, oder man kehrt in Hotels ein, die Herbergen und bezeichnenderweise
meist Herbergen „zur Heimat" (auch eine Heimat!) heißen. Der Anzug ist
durchweg unelegant und unansehnlich, oft recht schäbig und abgerissen und zu¬
weilen merkwürdig bunt. Ansprüche an „Bildung" werden nicht gemacht;
auch diese Gäste werden eben so wenig wie die Badegäste auf ihr Wissen und
Können hin examinirt, aber es giebt Menschen mit der besten Bildung darunter,
„Bildungsproletariat," die die Stufenleiter der Gesellschaft hinuntergestoßen


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[0140] Ferien, Bäder und Landstraßen getrost an die Seite stellen kann, ja sie sogar übertrifft. Hier werden zwar die Gäste und „Passanten" nicht so sorgfältig wie in den Bädern gezählt, und die Namen dieser namenlosen Leute werden in keiner Liste zusammen¬ gestellt, aber man kann sich einen Begriff von ihrer „stattlichen" Zahl bilden, wenn man gewissermaßen Stichproben macht und darauf achtet, wie sie un¬ aufhörlich in neuen Schuhen, einzeln, zu zweien und dreien und in ganzen Trupps einherziehen. Eine Vorstellung von dieser „Gesamtfrequenz," von der Lebhaftigkeit dieses Verkehrs gewinnt man auch, wenn man Angaben liest, wie daß im Jahre 1891 allein im Großherzogtum Hessen 25V9 „Bettler und Landstreicher" abgeurteilt worden seien. Aber die Wanderer ans der Land¬ straße sind durchaus nicht alle das, was man unter Bettlern und Landstreichern zu verstehen gewohnt ist, selbst wenn sie einmal zufällig zu ihrem Unglück in diese juristische Kategorie hineingeraten sollten, sie gehören nur zum Teil dem Lumpenproletariat, dem elenden fünften Stande an, zum Teil dagegen der „industriellen Reservearmee," auf die die organisirte Sozialdemokratie ihre marxistischen Hoffnungen setzt. Wenn in einem modernen „Verdichtnngsmittel- puutte" des Menschengewühls eine Krise der Produktion, ein Massenstreik, eine menschenhinrnffende Seuche oder ein ähnliches allgemeines Unglück aus¬ gebrochen ist, wodurch viele Existenzen zu Grunde gehen, verlumpen und aufs Pflaster geworfen werden, dann sind auch die feiernden und flüchtenden Ver¬ treter der nationalen Industrie in großer Menge ans der Wanderung zu finden. Aber unter allen Kunden der Landstraße besteht ein gewisser Zu¬ sammenhang, ein „Solidaritätsgefühl"; selbst dies Fremdwort ist manchem unter ihnen durchaus geläufig. Auch sie besitzen den Stolz auf die Zahl, von dem unsre ganze Zeit erfüllt ist, ihre Masse flößt ihnen ein Gefühl der Stärke ein, das ihnen Zukunftshoffnungen vorgaukelt, Luftschlösser, die in einem sonderbaren Gegensatz zu ihrem gegenwärtigen Elend stehn. Für die Zulassung in ihre Gemeinschaft ist eine gewisse obere Normalgrenze des Besitzes nötig, wie in den Bädern eine untere, und wer sich auffällig bester als die übrigen steht, wird als halber Bourgeois augesehen. Es herrscht hier demokratische Gleichheit und Brüderlichkeit, Genüsse sind nicht vorhanden anßer der hier gänzlich kostenlosen „Natnrkneiperei," eine Kurtaxe wird deshalb ausnahmslos nicht erhoben, es wird im Freien getafelt und bei „Mutter Grün" im An¬ gesicht des gestirnten Himmels auf der bloßen Oberflüche der Erdkugel ge¬ schlafen, oder man kehrt in Hotels ein, die Herbergen und bezeichnenderweise meist Herbergen „zur Heimat" (auch eine Heimat!) heißen. Der Anzug ist durchweg unelegant und unansehnlich, oft recht schäbig und abgerissen und zu¬ weilen merkwürdig bunt. Ansprüche an „Bildung" werden nicht gemacht; auch diese Gäste werden eben so wenig wie die Badegäste auf ihr Wissen und Können hin examinirt, aber es giebt Menschen mit der besten Bildung darunter, „Bildungsproletariat," die die Stufenleiter der Gesellschaft hinuntergestoßen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/140>, abgerufen am 22.12.2024.