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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Friedrich Hölderlin

zu befassen? Wer liest Spittäh Bach zu dem Endzweck, keinen Ton des
Leipziger Altmeisters mehr zu hören, wer Justis Velasquez mit dem Vorsatze,
fernerhin die Bilder des spanischen Meisters in allen Galerien unbesehen zu
lassen? Aber wie viele nehmen ein Buch wie: Friedrich Hölderlins
Leben. In Briefen von und an Hölderlin von C. T. Litzmann. (Berlin,
Wilhelm Hertz) mit der bestimmten Absicht zur Hand, sich daraus über einen
so wunderlichem Heiligen zu unterrichten, womöglich einigen Klatsch über das
Verhältnis des Dichters zu seiner "Diotima" zu schöpfen und damit deu
schwäbischen Magister für immer abzuthun! Wie viele und doch wie wenige
und in gewisser Beziehung noch zu lobende, gegenüber den Hunderttausenden
von angeblich ,,Gebildeten/' für die Hölderlin nie gelebt und gedichtet hat!
Für die große Mehrzahl unsrer öffentlichen "Organe," auch derer, die sich
ständig mit Litteratur befassen, ist ein Buch wie das Litzmaunsche gär nicht
vorhanden, und eine Minderzahl begnügt sich damit, zu registriren, daß der
Dichter in einer vortrefflichen, aus dem besten Material gezimmerten Lebens¬
geschichte eingesargt liegt und dort eiuer fröhlichen Urständ harren mag,
bis -- ja bis wann? Vielleicht bis zu dem Zeitpunkte, wo zur Abwechslung
der poetische Idealismus wieder einmal so einseitig und sinnlos gepriesen
werden wird wie heute der Realismus und alles, was man Wirklichkeit zu
nennen beliebt. "Auf nichts versteht sich die liebe Menschheit schlechter, als
am rechten Punkte einzuhalten" (D. F. Strauß), und so kann es wohl kommen,
daß man eines schönen Tages mit den Ausartungen realistischer Poesie alles
objektive Leben und die Natur selbst über Bord wirft und dann mit der aus¬
schließliche" Lobpreisung der Dichter von Hölderlins Art genau ebenso im
Unrecht sein wird, wie mit der gegenwärtigen Nichtachtung.

Wäre es wahr, daß den Dichter verstehe, wer in Dichters Lande geht,
wer teil nimmt an der Entwicklung einer poetischen Natur, so würde Litz¬
manns Buch (das von seinem Sohne, dem Litteraturhistoriker Berthold Litz¬
mann, nach dem Tode des greisen Verfassers herausgegeben, uicht von dem
Sohne verfaßt ist) bei gar vielen Lesern Verständnis für Hölderlins von dem
Odem der Sehnsucht nach reiner Menschlichkeit umhauchte Gestalt wecken.
Denn sie ist ein Buch, das im spätern Alter seines Verfassers geschrieben,
Begeisterung, Liebe und geistige Vertiefung eines ganzen Lebens in sich ein¬
schließt. "Ich war fast noch ein Knabe," heißt es im Vorwort, "als ich in
eiuer Zeitschrift -- ich meine, es war das Morgenblntt -- zum erstenmale
etwas über Hölderlin las. Unter den mitgeteilten Gedichten befand sich ein
in der Zeit des Irrsinns entstandnes, welches einen besonders tiefen Eindruck
auf mich machte, daß ich es nicht vergessen konnte:


Friedrich Hölderlin

zu befassen? Wer liest Spittäh Bach zu dem Endzweck, keinen Ton des
Leipziger Altmeisters mehr zu hören, wer Justis Velasquez mit dem Vorsatze,
fernerhin die Bilder des spanischen Meisters in allen Galerien unbesehen zu
lassen? Aber wie viele nehmen ein Buch wie: Friedrich Hölderlins
Leben. In Briefen von und an Hölderlin von C. T. Litzmann. (Berlin,
Wilhelm Hertz) mit der bestimmten Absicht zur Hand, sich daraus über einen
so wunderlichem Heiligen zu unterrichten, womöglich einigen Klatsch über das
Verhältnis des Dichters zu seiner „Diotima" zu schöpfen und damit deu
schwäbischen Magister für immer abzuthun! Wie viele und doch wie wenige
und in gewisser Beziehung noch zu lobende, gegenüber den Hunderttausenden
von angeblich ,,Gebildeten/' für die Hölderlin nie gelebt und gedichtet hat!
Für die große Mehrzahl unsrer öffentlichen „Organe," auch derer, die sich
ständig mit Litteratur befassen, ist ein Buch wie das Litzmaunsche gär nicht
vorhanden, und eine Minderzahl begnügt sich damit, zu registriren, daß der
Dichter in einer vortrefflichen, aus dem besten Material gezimmerten Lebens¬
geschichte eingesargt liegt und dort eiuer fröhlichen Urständ harren mag,
bis — ja bis wann? Vielleicht bis zu dem Zeitpunkte, wo zur Abwechslung
der poetische Idealismus wieder einmal so einseitig und sinnlos gepriesen
werden wird wie heute der Realismus und alles, was man Wirklichkeit zu
nennen beliebt. „Auf nichts versteht sich die liebe Menschheit schlechter, als
am rechten Punkte einzuhalten" (D. F. Strauß), und so kann es wohl kommen,
daß man eines schönen Tages mit den Ausartungen realistischer Poesie alles
objektive Leben und die Natur selbst über Bord wirft und dann mit der aus¬
schließliche» Lobpreisung der Dichter von Hölderlins Art genau ebenso im
Unrecht sein wird, wie mit der gegenwärtigen Nichtachtung.

Wäre es wahr, daß den Dichter verstehe, wer in Dichters Lande geht,
wer teil nimmt an der Entwicklung einer poetischen Natur, so würde Litz¬
manns Buch (das von seinem Sohne, dem Litteraturhistoriker Berthold Litz¬
mann, nach dem Tode des greisen Verfassers herausgegeben, uicht von dem
Sohne verfaßt ist) bei gar vielen Lesern Verständnis für Hölderlins von dem
Odem der Sehnsucht nach reiner Menschlichkeit umhauchte Gestalt wecken.
Denn sie ist ein Buch, das im spätern Alter seines Verfassers geschrieben,
Begeisterung, Liebe und geistige Vertiefung eines ganzen Lebens in sich ein¬
schließt. „Ich war fast noch ein Knabe," heißt es im Vorwort, „als ich in
eiuer Zeitschrift — ich meine, es war das Morgenblntt — zum erstenmale
etwas über Hölderlin las. Unter den mitgeteilten Gedichten befand sich ein
in der Zeit des Irrsinns entstandnes, welches einen besonders tiefen Eindruck
auf mich machte, daß ich es nicht vergessen konnte:


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[0123] Friedrich Hölderlin zu befassen? Wer liest Spittäh Bach zu dem Endzweck, keinen Ton des Leipziger Altmeisters mehr zu hören, wer Justis Velasquez mit dem Vorsatze, fernerhin die Bilder des spanischen Meisters in allen Galerien unbesehen zu lassen? Aber wie viele nehmen ein Buch wie: Friedrich Hölderlins Leben. In Briefen von und an Hölderlin von C. T. Litzmann. (Berlin, Wilhelm Hertz) mit der bestimmten Absicht zur Hand, sich daraus über einen so wunderlichem Heiligen zu unterrichten, womöglich einigen Klatsch über das Verhältnis des Dichters zu seiner „Diotima" zu schöpfen und damit deu schwäbischen Magister für immer abzuthun! Wie viele und doch wie wenige und in gewisser Beziehung noch zu lobende, gegenüber den Hunderttausenden von angeblich ,,Gebildeten/' für die Hölderlin nie gelebt und gedichtet hat! Für die große Mehrzahl unsrer öffentlichen „Organe," auch derer, die sich ständig mit Litteratur befassen, ist ein Buch wie das Litzmaunsche gär nicht vorhanden, und eine Minderzahl begnügt sich damit, zu registriren, daß der Dichter in einer vortrefflichen, aus dem besten Material gezimmerten Lebens¬ geschichte eingesargt liegt und dort eiuer fröhlichen Urständ harren mag, bis — ja bis wann? Vielleicht bis zu dem Zeitpunkte, wo zur Abwechslung der poetische Idealismus wieder einmal so einseitig und sinnlos gepriesen werden wird wie heute der Realismus und alles, was man Wirklichkeit zu nennen beliebt. „Auf nichts versteht sich die liebe Menschheit schlechter, als am rechten Punkte einzuhalten" (D. F. Strauß), und so kann es wohl kommen, daß man eines schönen Tages mit den Ausartungen realistischer Poesie alles objektive Leben und die Natur selbst über Bord wirft und dann mit der aus¬ schließliche» Lobpreisung der Dichter von Hölderlins Art genau ebenso im Unrecht sein wird, wie mit der gegenwärtigen Nichtachtung. Wäre es wahr, daß den Dichter verstehe, wer in Dichters Lande geht, wer teil nimmt an der Entwicklung einer poetischen Natur, so würde Litz¬ manns Buch (das von seinem Sohne, dem Litteraturhistoriker Berthold Litz¬ mann, nach dem Tode des greisen Verfassers herausgegeben, uicht von dem Sohne verfaßt ist) bei gar vielen Lesern Verständnis für Hölderlins von dem Odem der Sehnsucht nach reiner Menschlichkeit umhauchte Gestalt wecken. Denn sie ist ein Buch, das im spätern Alter seines Verfassers geschrieben, Begeisterung, Liebe und geistige Vertiefung eines ganzen Lebens in sich ein¬ schließt. „Ich war fast noch ein Knabe," heißt es im Vorwort, „als ich in eiuer Zeitschrift — ich meine, es war das Morgenblntt — zum erstenmale etwas über Hölderlin las. Unter den mitgeteilten Gedichten befand sich ein in der Zeit des Irrsinns entstandnes, welches einen besonders tiefen Eindruck auf mich machte, daß ich es nicht vergessen konnte:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/123>, abgerufen am 23.07.2024.