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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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habe; ebenso nahe liegt die Erwiderung, daß der tiefe Seelenschmerz, den
Hölderlin aus der Betrachtung und Erkenntnis der ihn umgebenden Wirk¬
lichkeit schöpfte, die wahre Ursache seiner spätern Geisteskrankheit geworden
sei. Doch ist es müssig und unerlaubt, mit psychischen Vorgängen der Ver¬
gangenheit, die trotz allen aufgewandten Scharfsinns nie völlig erhellt worden
sind, zu tendenziösen Zwecken von heute zu spielen; gewiß bleibt, daß eine Er¬
scheinung wie die Hölderlins in unserm Zeitalter -- wenn sie überhaupt
möglich wäre -- uoch tausendmal fremdartiger und unverstandner sein würde,
als sie selbst am Wendepunkte des achtzehnten und des neunzehnten Jahr¬
hunderts gewesen ist. Wie fremd, wie gleichgiltig, läßt sich um der Ver¬
gessenheit messen, in die Hölderlins wunderbare, aus dem Innersten einer
schönheitstrunknen Natur gequollene Lyrik gesunken ist. Verschwindend klein
ist die Zahl derer, die mit Hölderlin geschwärmt und die selige Empfindung
geteilt haben:

die das tiefste Leid und die edelste Resignation in ,,Menons Klage um Dio-
tima" in ihrer goldklarem Reinheit auf sich haben wirken lassen. In eben dem
Maße aber, wie Hölderlins lebendige Dichtung dem Geschlecht von heute ent¬
rückt ist, und wie nur einzelne melodische und ergreifende Laute seiner Lyrik
noch im Gedächtnis und auf den Lippen weniger leben, hat die Litteratur¬
geschichte von ihm Besitz ergriffen. Derselbe Dichter, mit dessen Namen die
Mehrzahl unsrer Gebildeten nur noch eine undeutliche Vorstellung verbindet,
hat einen liebevollen Biographen, einen sorgfältigen Sammler seiner Briefe
gefunden und ist in die Reihe derer eingerückt, denen die ,.Forschung" ihre
Beachtung zu teil werden läßt. Das vielgebrauchte Bild von der lebendig
sprossenden und von der ins Herbarium gepreßten Blume trifft bekanntlich
auf die literarhistorische Besitznahme von einem Dichter nicht völlig zu:
Goethes Dichtung hat nichts von ihrem frischen Duft verloren, obwohl wir
bereits bis zur Zählung gewisser Wörter in seiner Lyrik, zur Publikation
und ernsthaften Besprechung der Wcinbestellungen und Waschzettel des alten
Geheimrath gediehen sind. Aber unleugbar steht in weiten Kreisen des
Publikums die biographische und kritische Darstellung in einem unerquicklichen
Mißverhältnis namentlich zur poetischen Produktiv". Sinn und Zweck großer
Monographien, wenn sie über die engsten Kreise der Fachgenossen hinaus¬
wirken sollen, kann doch nur sein, ihre Leser für die dargestellte Erscheinung,
für deren innersten Kern zu gewinnen, und was sollen am Ende Dichter¬
biographen, die fast für alle ihre Leser Grund und Vorwand abgeben, sich
mit dem Kern eines Dichterlebens, seinem poetischen Schaffen fernerhin nicht


habe; ebenso nahe liegt die Erwiderung, daß der tiefe Seelenschmerz, den
Hölderlin aus der Betrachtung und Erkenntnis der ihn umgebenden Wirk¬
lichkeit schöpfte, die wahre Ursache seiner spätern Geisteskrankheit geworden
sei. Doch ist es müssig und unerlaubt, mit psychischen Vorgängen der Ver¬
gangenheit, die trotz allen aufgewandten Scharfsinns nie völlig erhellt worden
sind, zu tendenziösen Zwecken von heute zu spielen; gewiß bleibt, daß eine Er¬
scheinung wie die Hölderlins in unserm Zeitalter — wenn sie überhaupt
möglich wäre — uoch tausendmal fremdartiger und unverstandner sein würde,
als sie selbst am Wendepunkte des achtzehnten und des neunzehnten Jahr¬
hunderts gewesen ist. Wie fremd, wie gleichgiltig, läßt sich um der Ver¬
gessenheit messen, in die Hölderlins wunderbare, aus dem Innersten einer
schönheitstrunknen Natur gequollene Lyrik gesunken ist. Verschwindend klein
ist die Zahl derer, die mit Hölderlin geschwärmt und die selige Empfindung
geteilt haben:

die das tiefste Leid und die edelste Resignation in ,,Menons Klage um Dio-
tima" in ihrer goldklarem Reinheit auf sich haben wirken lassen. In eben dem
Maße aber, wie Hölderlins lebendige Dichtung dem Geschlecht von heute ent¬
rückt ist, und wie nur einzelne melodische und ergreifende Laute seiner Lyrik
noch im Gedächtnis und auf den Lippen weniger leben, hat die Litteratur¬
geschichte von ihm Besitz ergriffen. Derselbe Dichter, mit dessen Namen die
Mehrzahl unsrer Gebildeten nur noch eine undeutliche Vorstellung verbindet,
hat einen liebevollen Biographen, einen sorgfältigen Sammler seiner Briefe
gefunden und ist in die Reihe derer eingerückt, denen die ,.Forschung" ihre
Beachtung zu teil werden läßt. Das vielgebrauchte Bild von der lebendig
sprossenden und von der ins Herbarium gepreßten Blume trifft bekanntlich
auf die literarhistorische Besitznahme von einem Dichter nicht völlig zu:
Goethes Dichtung hat nichts von ihrem frischen Duft verloren, obwohl wir
bereits bis zur Zählung gewisser Wörter in seiner Lyrik, zur Publikation
und ernsthaften Besprechung der Wcinbestellungen und Waschzettel des alten
Geheimrath gediehen sind. Aber unleugbar steht in weiten Kreisen des
Publikums die biographische und kritische Darstellung in einem unerquicklichen
Mißverhältnis namentlich zur poetischen Produktiv». Sinn und Zweck großer
Monographien, wenn sie über die engsten Kreise der Fachgenossen hinaus¬
wirken sollen, kann doch nur sein, ihre Leser für die dargestellte Erscheinung,
für deren innersten Kern zu gewinnen, und was sollen am Ende Dichter¬
biographen, die fast für alle ihre Leser Grund und Vorwand abgeben, sich
mit dem Kern eines Dichterlebens, seinem poetischen Schaffen fernerhin nicht


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[0122] habe; ebenso nahe liegt die Erwiderung, daß der tiefe Seelenschmerz, den Hölderlin aus der Betrachtung und Erkenntnis der ihn umgebenden Wirk¬ lichkeit schöpfte, die wahre Ursache seiner spätern Geisteskrankheit geworden sei. Doch ist es müssig und unerlaubt, mit psychischen Vorgängen der Ver¬ gangenheit, die trotz allen aufgewandten Scharfsinns nie völlig erhellt worden sind, zu tendenziösen Zwecken von heute zu spielen; gewiß bleibt, daß eine Er¬ scheinung wie die Hölderlins in unserm Zeitalter — wenn sie überhaupt möglich wäre — uoch tausendmal fremdartiger und unverstandner sein würde, als sie selbst am Wendepunkte des achtzehnten und des neunzehnten Jahr¬ hunderts gewesen ist. Wie fremd, wie gleichgiltig, läßt sich um der Ver¬ gessenheit messen, in die Hölderlins wunderbare, aus dem Innersten einer schönheitstrunknen Natur gequollene Lyrik gesunken ist. Verschwindend klein ist die Zahl derer, die mit Hölderlin geschwärmt und die selige Empfindung geteilt haben: die das tiefste Leid und die edelste Resignation in ,,Menons Klage um Dio- tima" in ihrer goldklarem Reinheit auf sich haben wirken lassen. In eben dem Maße aber, wie Hölderlins lebendige Dichtung dem Geschlecht von heute ent¬ rückt ist, und wie nur einzelne melodische und ergreifende Laute seiner Lyrik noch im Gedächtnis und auf den Lippen weniger leben, hat die Litteratur¬ geschichte von ihm Besitz ergriffen. Derselbe Dichter, mit dessen Namen die Mehrzahl unsrer Gebildeten nur noch eine undeutliche Vorstellung verbindet, hat einen liebevollen Biographen, einen sorgfältigen Sammler seiner Briefe gefunden und ist in die Reihe derer eingerückt, denen die ,.Forschung" ihre Beachtung zu teil werden läßt. Das vielgebrauchte Bild von der lebendig sprossenden und von der ins Herbarium gepreßten Blume trifft bekanntlich auf die literarhistorische Besitznahme von einem Dichter nicht völlig zu: Goethes Dichtung hat nichts von ihrem frischen Duft verloren, obwohl wir bereits bis zur Zählung gewisser Wörter in seiner Lyrik, zur Publikation und ernsthaften Besprechung der Wcinbestellungen und Waschzettel des alten Geheimrath gediehen sind. Aber unleugbar steht in weiten Kreisen des Publikums die biographische und kritische Darstellung in einem unerquicklichen Mißverhältnis namentlich zur poetischen Produktiv». Sinn und Zweck großer Monographien, wenn sie über die engsten Kreise der Fachgenossen hinaus¬ wirken sollen, kann doch nur sein, ihre Leser für die dargestellte Erscheinung, für deren innersten Kern zu gewinnen, und was sollen am Ende Dichter¬ biographen, die fast für alle ihre Leser Grund und Vorwand abgeben, sich mit dem Kern eines Dichterlebens, seinem poetischen Schaffen fernerhin nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/122>, abgerufen am 22.12.2024.