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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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macht es zur Pflicht, auf grundlegende Werke, wie das erwähnte, immer und
immer wieder mit Nachdruck hinzuweisen. Es fällt uns nicht el", von dem
reichen Inhalte des vor sechs Jahren erschienenen und jetzt neu aufgelegten
Buches^) einen Abriß geben zu wollen; die hoffentlich recht zahlreichen Leser,
die sich durch unsre Anregung bestimmen lassen, es zu studiren, brauchen keinen
solchen, und den übrigen würde er nichts nützen. Wir beschränken uns auf
die Bemerkung, daß diese Ethik keine spezielle Pflichtenlehre enthält; ist doch
auch an Mvralhaudbüchern, die es darauf abgesehen haben, kein Mangel.
Als die Vorhalle zur Ethik betrachtet der Verfasser die Völkerpsychologie und
zeigt daher im ersten Abschnitt, wie sich die Sittlichkeit unter dem Einflüsse
der Religion, der Volkssitte, der verschiednen Natur- und Kulturzustände nach
Zeit und Ort verschieden gestaltet. Im zweiten Abschnitt wird die Entwicklung
der sittlichen Weltanschauung dargestellt; er enthält also eine Geschichte der
Ethik, d. h. sowohl der Sittlichkeit als ihrer Wissenschaft. Der dritte Ab¬
schnitt endlich behandelt die "Prinzipien der Sittlichkeit": den sittlichen Willen,
die sittlichen Zwecke, Motive und Normen, und zeigt, wie alles dieses in den
verschiednen sittlichen Lebensgebieten: in der einzelnen Persönlichkeit, in der
Gesellschaft, im Staate, in der Menschheit zusammenwirkt. Es bedarf für die
Kenner Wundes nicht der Versicherung, daß das Werk auch in seiner neuen
Gestalt nach Inhalt und Form ans der Höhe der Zeit steht, und daß es die
Hauptergebnisse der ethischen Forschung vollständig und bereichert um die
eignen Entdeckungen und Anschauungen des Verfassers darbietet. Man muß
die Universalität bewundern, mit der Wundt außer seinem eigentümlichen
schwierigen Fache, der Physiologie, auch uoch die Philosophie und Ethnologie
beherrscht. Verzichten wir also auf eine ausführliche Inhaltsangabe, so können
wir doch der Versuchung nicht widerstehen, bei einigen von den vielen Punkten
ein wenig zu verweilen, in denen sich unsre eignen bescheidnen Versuche mit
den Ausführungen des großen Physiologen berühren. Daß wir ihm dabei
in den Augen solcher Leser, die sein Werk nicht aus eignem Studium keimen,
nur sehr unvollkommen gerecht werden können, liegt in der Natur der Sache,
und er wird es uns daher verzeihen. Ist es doch nicht möglich, in: Umfange
eines solchen Aufsatzes auch nur eine einzelne Ansicht mit den eignen voll¬
ständigen Worten des Verfassers wiederzugeben, geschweige denn ihre Stellung
im ganzen Gedankenbau und ihre Verknüpfung mit den übrigen Ansichten.

In vielen, vielleicht in den meisten Punkten deckt sich unsre Auffassung
vollständig mit der des Verfassers. So z. B. stimmen wir ganz genau im
Urteile über Kants Ethik mit ihm überein. Den Ruhm, durch Schärfung
des Pflichtgefühls pädagogisch heilsam gewirkt zu habe", läßt er ihr unver-



Ethik. Eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens. Avr
Wilhelm Wundt. Zweite, umgenrlieitete Auslage. Stuttgart, Ferdinand Ente, lMJ,

macht es zur Pflicht, auf grundlegende Werke, wie das erwähnte, immer und
immer wieder mit Nachdruck hinzuweisen. Es fällt uns nicht el», von dem
reichen Inhalte des vor sechs Jahren erschienenen und jetzt neu aufgelegten
Buches^) einen Abriß geben zu wollen; die hoffentlich recht zahlreichen Leser,
die sich durch unsre Anregung bestimmen lassen, es zu studiren, brauchen keinen
solchen, und den übrigen würde er nichts nützen. Wir beschränken uns auf
die Bemerkung, daß diese Ethik keine spezielle Pflichtenlehre enthält; ist doch
auch an Mvralhaudbüchern, die es darauf abgesehen haben, kein Mangel.
Als die Vorhalle zur Ethik betrachtet der Verfasser die Völkerpsychologie und
zeigt daher im ersten Abschnitt, wie sich die Sittlichkeit unter dem Einflüsse
der Religion, der Volkssitte, der verschiednen Natur- und Kulturzustände nach
Zeit und Ort verschieden gestaltet. Im zweiten Abschnitt wird die Entwicklung
der sittlichen Weltanschauung dargestellt; er enthält also eine Geschichte der
Ethik, d. h. sowohl der Sittlichkeit als ihrer Wissenschaft. Der dritte Ab¬
schnitt endlich behandelt die „Prinzipien der Sittlichkeit": den sittlichen Willen,
die sittlichen Zwecke, Motive und Normen, und zeigt, wie alles dieses in den
verschiednen sittlichen Lebensgebieten: in der einzelnen Persönlichkeit, in der
Gesellschaft, im Staate, in der Menschheit zusammenwirkt. Es bedarf für die
Kenner Wundes nicht der Versicherung, daß das Werk auch in seiner neuen
Gestalt nach Inhalt und Form ans der Höhe der Zeit steht, und daß es die
Hauptergebnisse der ethischen Forschung vollständig und bereichert um die
eignen Entdeckungen und Anschauungen des Verfassers darbietet. Man muß
die Universalität bewundern, mit der Wundt außer seinem eigentümlichen
schwierigen Fache, der Physiologie, auch uoch die Philosophie und Ethnologie
beherrscht. Verzichten wir also auf eine ausführliche Inhaltsangabe, so können
wir doch der Versuchung nicht widerstehen, bei einigen von den vielen Punkten
ein wenig zu verweilen, in denen sich unsre eignen bescheidnen Versuche mit
den Ausführungen des großen Physiologen berühren. Daß wir ihm dabei
in den Augen solcher Leser, die sein Werk nicht aus eignem Studium keimen,
nur sehr unvollkommen gerecht werden können, liegt in der Natur der Sache,
und er wird es uns daher verzeihen. Ist es doch nicht möglich, in: Umfange
eines solchen Aufsatzes auch nur eine einzelne Ansicht mit den eignen voll¬
ständigen Worten des Verfassers wiederzugeben, geschweige denn ihre Stellung
im ganzen Gedankenbau und ihre Verknüpfung mit den übrigen Ansichten.

In vielen, vielleicht in den meisten Punkten deckt sich unsre Auffassung
vollständig mit der des Verfassers. So z. B. stimmen wir ganz genau im
Urteile über Kants Ethik mit ihm überein. Den Ruhm, durch Schärfung
des Pflichtgefühls pädagogisch heilsam gewirkt zu habe», läßt er ihr unver-



Ethik. Eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens. Avr
Wilhelm Wundt. Zweite, umgenrlieitete Auslage. Stuttgart, Ferdinand Ente, lMJ,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/115>, abgerufen am 23.07.2024.