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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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kürzt, aber ihre theoretische UnHaltbarkeit deckt er schonungslos aus. Kants
Formel lautet bekanntlich: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jeder¬
zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelte" könne." Wunde
bemerkt nun vollkommen richtig, wenn diese Formel nicht eine leere Redens¬
art bleiben solle, so müsse doch angegeben werden, wie unser Handeln be¬
schaffen sein müsse, damit es sich zum Vorbild einer allgemeinen Gesetzgebung
eigne. Darauf wisse nun Kant nnr mit einer rein utilitarischen Begründung
der einzelnen Tugenden zu antworten: wer lüge, der müsse darauf gefaßt sein,
daß ihn andre wieder belügen, daher sei die Wahrheit vorzuziehen, u. s. w.,
d. h. also, Kant mache das eigne Wohl und Wehe zum Maßstab des Sitt¬
lichen und falle in jenen Militarismus zurück, deu er ausgeschlossen zu haben
glaubte. Den kategorischen Imperativ bezeichnet Wisndt sehr gut als die
philosophische Umformung jener "mythologischen" Gewissensthevrie, die im
Widerspruch gegen die psychologische Natur des Menschen das Gewissen für
die Stimme eines andern, nämlich Gottes, im Menschen erklärt, und im
Widerspruch gegen die Erfahrung diese Stimme immer und überall dasselbe
sprechen läßt. Ja die religiöse Vorstellung, die Gott und den Teufel um das
menschliche Herz kämpfen lasse, bewähre immer noch einen offneren Sinn für
das Thatsächliche. "Indem sie den endlichen Sieg des Guten in Aussicht
stellt, giebt sie zwar in phantastisch-mythologischer Form, aber sie giebt doch
Rechenschaft von dem Gesetz der Entwicklung, das alles sittliche sieben be¬
herrscht. Jene Philosophie dagegen, der sich die Stimme Gottes zu einem
unwandelbaren kategorischen Imperativ der Pflicht versteinert, und die dem
Teufel die ebenfalls unveränderlichen sinnlichen Neigungen unterschiebt, opfert
die Entwicklungsfähigkeit der sittlichen Ideen und damit den wertvollsten
Inhalt des sittlichen Lebens selber." Und wenn Kant lehrte, "das Gute
müsse ohne Neigung geschehen, der letzte Zweck des Sittliche" sei aber eine
unvergängliche Glückseligkeit, so hat er Mittel und Zweck vollständig mit
einander vertauscht. Der Mensch kann das Gute nur erstreben, weil es ihn
beglückt; aber das Gute selbst ist kein Glücksgut."

Aber ist nicht am Ende dem Verfasser bei seine": redlichen Bemühe",
das Welträtsel von der ethischen Seite her z" löse", ein ähnliches Mißgeschick
begegnet wie den: Königsberger Weisen? Bei Untersuchung der Frage, welches
nun eigentlich der Gegenstand u"d Zielpunkt des sittlichen Willens sei, was
man denn nun wollen müsse, um sittlich genannt werden zu können, kommt
er z" dem Ergebnis: nicht das eigne Glück, denn das sei sittlich gleichgiltig.
Aber anch nicht das Glück andrer, das Glück aller Mensche", dem, wenn das
Glück des einen sittlich wertlos sei, dann sei es anch das Glück aller, da "och
so viele Nullen keine Einheit "nichte". Nur zweierlei bleibe als Zweck und
Gegenstand des Sittlichen übrig: die öffentliche Wohlfahrt und der allgemeine
Fortschritt, wobei aber wiederum nicht etwa unter der öffentlichen Wohlfahrt


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kürzt, aber ihre theoretische UnHaltbarkeit deckt er schonungslos aus. Kants
Formel lautet bekanntlich: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jeder¬
zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelte» könne." Wunde
bemerkt nun vollkommen richtig, wenn diese Formel nicht eine leere Redens¬
art bleiben solle, so müsse doch angegeben werden, wie unser Handeln be¬
schaffen sein müsse, damit es sich zum Vorbild einer allgemeinen Gesetzgebung
eigne. Darauf wisse nun Kant nnr mit einer rein utilitarischen Begründung
der einzelnen Tugenden zu antworten: wer lüge, der müsse darauf gefaßt sein,
daß ihn andre wieder belügen, daher sei die Wahrheit vorzuziehen, u. s. w.,
d. h. also, Kant mache das eigne Wohl und Wehe zum Maßstab des Sitt¬
lichen und falle in jenen Militarismus zurück, deu er ausgeschlossen zu haben
glaubte. Den kategorischen Imperativ bezeichnet Wisndt sehr gut als die
philosophische Umformung jener „mythologischen" Gewissensthevrie, die im
Widerspruch gegen die psychologische Natur des Menschen das Gewissen für
die Stimme eines andern, nämlich Gottes, im Menschen erklärt, und im
Widerspruch gegen die Erfahrung diese Stimme immer und überall dasselbe
sprechen läßt. Ja die religiöse Vorstellung, die Gott und den Teufel um das
menschliche Herz kämpfen lasse, bewähre immer noch einen offneren Sinn für
das Thatsächliche. „Indem sie den endlichen Sieg des Guten in Aussicht
stellt, giebt sie zwar in phantastisch-mythologischer Form, aber sie giebt doch
Rechenschaft von dem Gesetz der Entwicklung, das alles sittliche sieben be¬
herrscht. Jene Philosophie dagegen, der sich die Stimme Gottes zu einem
unwandelbaren kategorischen Imperativ der Pflicht versteinert, und die dem
Teufel die ebenfalls unveränderlichen sinnlichen Neigungen unterschiebt, opfert
die Entwicklungsfähigkeit der sittlichen Ideen und damit den wertvollsten
Inhalt des sittlichen Lebens selber." Und wenn Kant lehrte, „das Gute
müsse ohne Neigung geschehen, der letzte Zweck des Sittliche» sei aber eine
unvergängliche Glückseligkeit, so hat er Mittel und Zweck vollständig mit
einander vertauscht. Der Mensch kann das Gute nur erstreben, weil es ihn
beglückt; aber das Gute selbst ist kein Glücksgut."

Aber ist nicht am Ende dem Verfasser bei seine»: redlichen Bemühe»,
das Welträtsel von der ethischen Seite her z» löse», ein ähnliches Mißgeschick
begegnet wie den: Königsberger Weisen? Bei Untersuchung der Frage, welches
nun eigentlich der Gegenstand u»d Zielpunkt des sittlichen Willens sei, was
man denn nun wollen müsse, um sittlich genannt werden zu können, kommt
er z» dem Ergebnis: nicht das eigne Glück, denn das sei sittlich gleichgiltig.
Aber anch nicht das Glück andrer, das Glück aller Mensche», dem, wenn das
Glück des einen sittlich wertlos sei, dann sei es anch das Glück aller, da »och
so viele Nullen keine Einheit »nichte». Nur zweierlei bleibe als Zweck und
Gegenstand des Sittlichen übrig: die öffentliche Wohlfahrt und der allgemeine
Fortschritt, wobei aber wiederum nicht etwa unter der öffentlichen Wohlfahrt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/116>, abgerufen am 22.12.2024.