Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin rettender Gedanke

fruchtlos bleiben? Enttäuschung, aufgeriebne Geistes- und Körperkräfte, viel¬
leicht Welt- und Menschenverachtung. Wer dagegen sich und andern als
Lebenszweck Spiel und Tanz und Mummenschanz setzt, der hat wenigstens,
wenn das Schifflein auf dem Sande sitzt oder am Felsen zerschellt, sein Leben
genossen, und das Bewußtsein, seine Mannschaft gut unterhalten zu haben,
erhebt ihn. Wie beschämend für alle offiziellen Stantskünftler, zu sehen, wie
jetzt im Wiener Prater höheres und tieferes Verständnis für Theater und
Musik in den Massen verbreitet und nebenher die brennendste Frage unsrer
Zeit aus der Welt geschafft wird! Wer Geld hat, verpufft es in Schauspielen
aller Art, wer keins hat, darf zusehen; "Vlnmenpromenaden" heben, wie wir
lesen, alle veralteten Schränken auf zwischen den seltensten Treibhauspflanzen
und jenen bunten Lilien, die nicht säen und nicht ernten und doch immer
jemand finden, der sie kleidet. Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit
-- alles ist eins -- ach du lieber Augustin!

An dies bestrickende Schauspiel einer in sorg- und gedankenloser Lustig¬
keit geeinten glücklichen Bevölkerung reiht sich ungezwungen die Betrachtung,
daß gegenwärtig alles Große aus freien Vereinigungen hervorgeht. Nicht
am grünen Tische, nicht in den Verbänden sogenannter Fachmänner wird der
Fortschritt gefördert. Genug mit den Kongressen der Staatsmänner und der
Gelehrten! Die einen schmieden geheime Protokolle, die andern streiten über
Spitzfindigkeiten, die den Gebildeten völlig gleichgiltig, meistens sogar unver¬
ständlich sind. Wie anders die freien Vereinigungen, die nicht erst pedantisch
fragen, ob einer etwas von der Sache versteht oder nicht, sondern jeden frisch,
frei und fröhlich seinen Kohl zu Markte bringen lassen! Alle Völker seufzen
unter der Last des bewaffneten Friedens und der Angst, daß ihm jeden Tag
durch einen fröhlichen Krieg ein Ende gemacht werden könne, alle Minister,
Diplomaten, Generale und Politiker von Fach zerbrechen sich deswegen den
Kopf, die Herrscher machen sich persönlich auf die Reise, um das schwarze
Gespenst in seinem unbekannten Schlupfwinkel aufzuspüren und zu bannen,
und alles das nützt keinen Pfifferling. Aber eine freie Vereinigung beschließt,
daß von nun an Friede herrschen soll, die Präsidentin, wieder eine Wienerin
-- diesmal nicht die Fürstin Metternich --, schreibt einen Roman, in dem
die allgemeine Entwaffnung dekretirt wird, und -- alles ist in Ordnung. Alte
Leute erinnern sich noch, daß nach 1848 dieselben Bestrebungen auftraten
und gewiß zum Ziele geführt hätten, wenn nicht der alte Friedensstörer, die
Türkei, darauf versessen gewesen wäre, mit den arglosen Russen anzubinden,
wenn nicht Österreich den Friedenskaiser so lange gereizt hätte, bis er
blutenden Herzens zum Schwerte greifen mußte u. f. w. Heute bedrohen
einzig die Deutschen alle ihre Nachbarn. Sie wollen durchaus Dänemark, die
Niederlande und die Schweiz unterjochen, Frankreich zertrümmern, sich die
englische Flotte aneignen und deu Russen die bulgarische Verfassung auf-


Lin rettender Gedanke

fruchtlos bleiben? Enttäuschung, aufgeriebne Geistes- und Körperkräfte, viel¬
leicht Welt- und Menschenverachtung. Wer dagegen sich und andern als
Lebenszweck Spiel und Tanz und Mummenschanz setzt, der hat wenigstens,
wenn das Schifflein auf dem Sande sitzt oder am Felsen zerschellt, sein Leben
genossen, und das Bewußtsein, seine Mannschaft gut unterhalten zu haben,
erhebt ihn. Wie beschämend für alle offiziellen Stantskünftler, zu sehen, wie
jetzt im Wiener Prater höheres und tieferes Verständnis für Theater und
Musik in den Massen verbreitet und nebenher die brennendste Frage unsrer
Zeit aus der Welt geschafft wird! Wer Geld hat, verpufft es in Schauspielen
aller Art, wer keins hat, darf zusehen; „Vlnmenpromenaden" heben, wie wir
lesen, alle veralteten Schränken auf zwischen den seltensten Treibhauspflanzen
und jenen bunten Lilien, die nicht säen und nicht ernten und doch immer
jemand finden, der sie kleidet. Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit
— alles ist eins — ach du lieber Augustin!

An dies bestrickende Schauspiel einer in sorg- und gedankenloser Lustig¬
keit geeinten glücklichen Bevölkerung reiht sich ungezwungen die Betrachtung,
daß gegenwärtig alles Große aus freien Vereinigungen hervorgeht. Nicht
am grünen Tische, nicht in den Verbänden sogenannter Fachmänner wird der
Fortschritt gefördert. Genug mit den Kongressen der Staatsmänner und der
Gelehrten! Die einen schmieden geheime Protokolle, die andern streiten über
Spitzfindigkeiten, die den Gebildeten völlig gleichgiltig, meistens sogar unver¬
ständlich sind. Wie anders die freien Vereinigungen, die nicht erst pedantisch
fragen, ob einer etwas von der Sache versteht oder nicht, sondern jeden frisch,
frei und fröhlich seinen Kohl zu Markte bringen lassen! Alle Völker seufzen
unter der Last des bewaffneten Friedens und der Angst, daß ihm jeden Tag
durch einen fröhlichen Krieg ein Ende gemacht werden könne, alle Minister,
Diplomaten, Generale und Politiker von Fach zerbrechen sich deswegen den
Kopf, die Herrscher machen sich persönlich auf die Reise, um das schwarze
Gespenst in seinem unbekannten Schlupfwinkel aufzuspüren und zu bannen,
und alles das nützt keinen Pfifferling. Aber eine freie Vereinigung beschließt,
daß von nun an Friede herrschen soll, die Präsidentin, wieder eine Wienerin
— diesmal nicht die Fürstin Metternich —, schreibt einen Roman, in dem
die allgemeine Entwaffnung dekretirt wird, und — alles ist in Ordnung. Alte
Leute erinnern sich noch, daß nach 1848 dieselben Bestrebungen auftraten
und gewiß zum Ziele geführt hätten, wenn nicht der alte Friedensstörer, die
Türkei, darauf versessen gewesen wäre, mit den arglosen Russen anzubinden,
wenn nicht Österreich den Friedenskaiser so lange gereizt hätte, bis er
blutenden Herzens zum Schwerte greifen mußte u. f. w. Heute bedrohen
einzig die Deutschen alle ihre Nachbarn. Sie wollen durchaus Dänemark, die
Niederlande und die Schweiz unterjochen, Frankreich zertrümmern, sich die
englische Flotte aneignen und deu Russen die bulgarische Verfassung auf-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0093" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212569"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin rettender Gedanke</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_241" prev="#ID_240"> fruchtlos bleiben? Enttäuschung, aufgeriebne Geistes- und Körperkräfte, viel¬<lb/>
leicht Welt- und Menschenverachtung. Wer dagegen sich und andern als<lb/>
Lebenszweck Spiel und Tanz und Mummenschanz setzt, der hat wenigstens,<lb/>
wenn das Schifflein auf dem Sande sitzt oder am Felsen zerschellt, sein Leben<lb/>
genossen, und das Bewußtsein, seine Mannschaft gut unterhalten zu haben,<lb/>
erhebt ihn. Wie beschämend für alle offiziellen Stantskünftler, zu sehen, wie<lb/>
jetzt im Wiener Prater höheres und tieferes Verständnis für Theater und<lb/>
Musik in den Massen verbreitet und nebenher die brennendste Frage unsrer<lb/>
Zeit aus der Welt geschafft wird! Wer Geld hat, verpufft es in Schauspielen<lb/>
aller Art, wer keins hat, darf zusehen; &#x201E;Vlnmenpromenaden" heben, wie wir<lb/>
lesen, alle veralteten Schränken auf zwischen den seltensten Treibhauspflanzen<lb/>
und jenen bunten Lilien, die nicht säen und nicht ernten und doch immer<lb/>
jemand finden, der sie kleidet.  Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit<lb/>
&#x2014; alles ist eins &#x2014; ach du lieber Augustin!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_242" next="#ID_243"> An dies bestrickende Schauspiel einer in sorg- und gedankenloser Lustig¬<lb/>
keit geeinten glücklichen Bevölkerung reiht sich ungezwungen die Betrachtung,<lb/>
daß gegenwärtig alles Große aus freien Vereinigungen hervorgeht. Nicht<lb/>
am grünen Tische, nicht in den Verbänden sogenannter Fachmänner wird der<lb/>
Fortschritt gefördert. Genug mit den Kongressen der Staatsmänner und der<lb/>
Gelehrten! Die einen schmieden geheime Protokolle, die andern streiten über<lb/>
Spitzfindigkeiten, die den Gebildeten völlig gleichgiltig, meistens sogar unver¬<lb/>
ständlich sind. Wie anders die freien Vereinigungen, die nicht erst pedantisch<lb/>
fragen, ob einer etwas von der Sache versteht oder nicht, sondern jeden frisch,<lb/>
frei und fröhlich seinen Kohl zu Markte bringen lassen! Alle Völker seufzen<lb/>
unter der Last des bewaffneten Friedens und der Angst, daß ihm jeden Tag<lb/>
durch einen fröhlichen Krieg ein Ende gemacht werden könne, alle Minister,<lb/>
Diplomaten, Generale und Politiker von Fach zerbrechen sich deswegen den<lb/>
Kopf, die Herrscher machen sich persönlich auf die Reise, um das schwarze<lb/>
Gespenst in seinem unbekannten Schlupfwinkel aufzuspüren und zu bannen,<lb/>
und alles das nützt keinen Pfifferling. Aber eine freie Vereinigung beschließt,<lb/>
daß von nun an Friede herrschen soll, die Präsidentin, wieder eine Wienerin<lb/>
&#x2014; diesmal nicht die Fürstin Metternich &#x2014;, schreibt einen Roman, in dem<lb/>
die allgemeine Entwaffnung dekretirt wird, und &#x2014; alles ist in Ordnung. Alte<lb/>
Leute erinnern sich noch, daß nach 1848 dieselben Bestrebungen auftraten<lb/>
und gewiß zum Ziele geführt hätten, wenn nicht der alte Friedensstörer, die<lb/>
Türkei, darauf versessen gewesen wäre, mit den arglosen Russen anzubinden,<lb/>
wenn nicht Österreich den Friedenskaiser so lange gereizt hätte, bis er<lb/>
blutenden Herzens zum Schwerte greifen mußte u. f. w. Heute bedrohen<lb/>
einzig die Deutschen alle ihre Nachbarn. Sie wollen durchaus Dänemark, die<lb/>
Niederlande und die Schweiz unterjochen, Frankreich zertrümmern, sich die<lb/>
englische Flotte aneignen und deu Russen die bulgarische Verfassung auf-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0093] Lin rettender Gedanke fruchtlos bleiben? Enttäuschung, aufgeriebne Geistes- und Körperkräfte, viel¬ leicht Welt- und Menschenverachtung. Wer dagegen sich und andern als Lebenszweck Spiel und Tanz und Mummenschanz setzt, der hat wenigstens, wenn das Schifflein auf dem Sande sitzt oder am Felsen zerschellt, sein Leben genossen, und das Bewußtsein, seine Mannschaft gut unterhalten zu haben, erhebt ihn. Wie beschämend für alle offiziellen Stantskünftler, zu sehen, wie jetzt im Wiener Prater höheres und tieferes Verständnis für Theater und Musik in den Massen verbreitet und nebenher die brennendste Frage unsrer Zeit aus der Welt geschafft wird! Wer Geld hat, verpufft es in Schauspielen aller Art, wer keins hat, darf zusehen; „Vlnmenpromenaden" heben, wie wir lesen, alle veralteten Schränken auf zwischen den seltensten Treibhauspflanzen und jenen bunten Lilien, die nicht säen und nicht ernten und doch immer jemand finden, der sie kleidet. Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit — alles ist eins — ach du lieber Augustin! An dies bestrickende Schauspiel einer in sorg- und gedankenloser Lustig¬ keit geeinten glücklichen Bevölkerung reiht sich ungezwungen die Betrachtung, daß gegenwärtig alles Große aus freien Vereinigungen hervorgeht. Nicht am grünen Tische, nicht in den Verbänden sogenannter Fachmänner wird der Fortschritt gefördert. Genug mit den Kongressen der Staatsmänner und der Gelehrten! Die einen schmieden geheime Protokolle, die andern streiten über Spitzfindigkeiten, die den Gebildeten völlig gleichgiltig, meistens sogar unver¬ ständlich sind. Wie anders die freien Vereinigungen, die nicht erst pedantisch fragen, ob einer etwas von der Sache versteht oder nicht, sondern jeden frisch, frei und fröhlich seinen Kohl zu Markte bringen lassen! Alle Völker seufzen unter der Last des bewaffneten Friedens und der Angst, daß ihm jeden Tag durch einen fröhlichen Krieg ein Ende gemacht werden könne, alle Minister, Diplomaten, Generale und Politiker von Fach zerbrechen sich deswegen den Kopf, die Herrscher machen sich persönlich auf die Reise, um das schwarze Gespenst in seinem unbekannten Schlupfwinkel aufzuspüren und zu bannen, und alles das nützt keinen Pfifferling. Aber eine freie Vereinigung beschließt, daß von nun an Friede herrschen soll, die Präsidentin, wieder eine Wienerin — diesmal nicht die Fürstin Metternich —, schreibt einen Roman, in dem die allgemeine Entwaffnung dekretirt wird, und — alles ist in Ordnung. Alte Leute erinnern sich noch, daß nach 1848 dieselben Bestrebungen auftraten und gewiß zum Ziele geführt hätten, wenn nicht der alte Friedensstörer, die Türkei, darauf versessen gewesen wäre, mit den arglosen Russen anzubinden, wenn nicht Österreich den Friedenskaiser so lange gereizt hätte, bis er blutenden Herzens zum Schwerte greifen mußte u. f. w. Heute bedrohen einzig die Deutschen alle ihre Nachbarn. Sie wollen durchaus Dänemark, die Niederlande und die Schweiz unterjochen, Frankreich zertrümmern, sich die englische Flotte aneignen und deu Russen die bulgarische Verfassung auf-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/93
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/93>, abgerufen am 08.01.2025.