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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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bricht unwillig den Stab über den modernen Staat überhaupt, der mit dem
Unterricht "unsre Seele," mit der Wehrpflicht "unsern Körper," mit der all¬
gemeinen Besteuerung "unser Eigentum" raube. In dieser unversöhnlichen
Härte verblieb er; die Anfechtungen, die er infolge seiner Ansichten erfuhr, be¬
stärkten ihn nur darin. So wie einst seine "Annalen," so wurde nun seine
Schrift über die spanische Konstitution in Bern verboten, und als er bald
darauf katholisch wurde, stieß ihn der große Rat aus seiner Mitte aus. Zum
drittenmale verließ er sein Vaterland, um diesmal der Sache, die ihn ganz
erfüllte,, in Paris zu dienen: in der Zeitschrift 1^6 vraxo^in bleu trat er für
die royalistischen Ultras mit Feuereifer ein. Die Julirevolution trieb ihn wieder
von dannen, aber den Kampf gab er nicht auf: seine Freunde und Anhänger
waren es, die 1831 das Berliner politische Wochenblatt gründeten, und er
selbst hat noch am Vorabend der Februarrevolution den preußischen König
zur "Behauptung seiner Rechte" aufgerufen und ermahnt. Länger als ein
Menschenalter ist er der geistige Führer des extremsten Flügels der Konser-
vativen aller Länder gewesen, und nach seinem Tode gab ihm ein Gegner das
Zeugnis, er stehe in dem Jahrhundert als ein Mann "von gewaltiger Kraft
des Geistes, von großer Folgerichtigkeit des Denkens, von Unerschrockenheit
und Fähigkeit des Charakters, von nicht verächtlichem Wissen und Scharfsinn,"
er habe ein Werk geliefert, das seinen Namen auf die spätere Nachwelt
bringen werde.

Man wird vielleicht sagen, daß in der Periode der napoleonischen Herr¬
schaft nicht bloß die Schweiz die Bedingungen geboten habe, unter denen sich
eine Individualität wie Haller entwickeln konnte: auch in Frankreich und
Deutschland waren die ursprünglichen von Natur und Geschichte gegebnen Ver¬
bände gelöst und durch Bildungen einer abstrakten Staatslehre ersetzt worden.
Hierauf könnte man antworten, daß auch wirklich hier wie dort Mciuner
aufgetreten seien, die eine der Hallerschen ähnliche Doktrin verkündet haben:
De Maistre'^) sowie Adam Müller ist zu seinein System unabhängig von dem
Berner Staatsphilosophen gelangt. Zuletzt aber tritt überall da, wo eine
große Persönlichkeit erscheint, ein irrationales Element in die Geschichte ein:
niemand kann ergründen, warum sie gerade an dieser Stelle, gerade in dieser
Form erschienen ist.

Auf den ersten Anschein möchte man nun wohl glauben, daß diese Hallersche
Lehre, von allem Anfang aufs heftigste bekämpft und wenig verteidigt, längst
überwunden sei, und gerade die entgegengesetzte Meinung den Sieg davonge¬
tragen habe. Aber es ist hier derselbe Irrtum, den man gewöhnlich in Bezug
aus die thatsächliche Gestaltung unsers Staatslebens hegt, wenn man es als
ganz und gar auf den Grundlagen der Revolution erwachsen ansieht. Aller-



Zwar ein Piemontese, aber geistig Frankreich angehörend.
Grenzboten 111 1L9275

bricht unwillig den Stab über den modernen Staat überhaupt, der mit dem
Unterricht „unsre Seele," mit der Wehrpflicht „unsern Körper," mit der all¬
gemeinen Besteuerung „unser Eigentum" raube. In dieser unversöhnlichen
Härte verblieb er; die Anfechtungen, die er infolge seiner Ansichten erfuhr, be¬
stärkten ihn nur darin. So wie einst seine „Annalen," so wurde nun seine
Schrift über die spanische Konstitution in Bern verboten, und als er bald
darauf katholisch wurde, stieß ihn der große Rat aus seiner Mitte aus. Zum
drittenmale verließ er sein Vaterland, um diesmal der Sache, die ihn ganz
erfüllte,, in Paris zu dienen: in der Zeitschrift 1^6 vraxo^in bleu trat er für
die royalistischen Ultras mit Feuereifer ein. Die Julirevolution trieb ihn wieder
von dannen, aber den Kampf gab er nicht auf: seine Freunde und Anhänger
waren es, die 1831 das Berliner politische Wochenblatt gründeten, und er
selbst hat noch am Vorabend der Februarrevolution den preußischen König
zur „Behauptung seiner Rechte" aufgerufen und ermahnt. Länger als ein
Menschenalter ist er der geistige Führer des extremsten Flügels der Konser-
vativen aller Länder gewesen, und nach seinem Tode gab ihm ein Gegner das
Zeugnis, er stehe in dem Jahrhundert als ein Mann „von gewaltiger Kraft
des Geistes, von großer Folgerichtigkeit des Denkens, von Unerschrockenheit
und Fähigkeit des Charakters, von nicht verächtlichem Wissen und Scharfsinn,"
er habe ein Werk geliefert, das seinen Namen auf die spätere Nachwelt
bringen werde.

Man wird vielleicht sagen, daß in der Periode der napoleonischen Herr¬
schaft nicht bloß die Schweiz die Bedingungen geboten habe, unter denen sich
eine Individualität wie Haller entwickeln konnte: auch in Frankreich und
Deutschland waren die ursprünglichen von Natur und Geschichte gegebnen Ver¬
bände gelöst und durch Bildungen einer abstrakten Staatslehre ersetzt worden.
Hierauf könnte man antworten, daß auch wirklich hier wie dort Mciuner
aufgetreten seien, die eine der Hallerschen ähnliche Doktrin verkündet haben:
De Maistre'^) sowie Adam Müller ist zu seinein System unabhängig von dem
Berner Staatsphilosophen gelangt. Zuletzt aber tritt überall da, wo eine
große Persönlichkeit erscheint, ein irrationales Element in die Geschichte ein:
niemand kann ergründen, warum sie gerade an dieser Stelle, gerade in dieser
Form erschienen ist.

Auf den ersten Anschein möchte man nun wohl glauben, daß diese Hallersche
Lehre, von allem Anfang aufs heftigste bekämpft und wenig verteidigt, längst
überwunden sei, und gerade die entgegengesetzte Meinung den Sieg davonge¬
tragen habe. Aber es ist hier derselbe Irrtum, den man gewöhnlich in Bezug
aus die thatsächliche Gestaltung unsers Staatslebens hegt, wenn man es als
ganz und gar auf den Grundlagen der Revolution erwachsen ansieht. Aller-



Zwar ein Piemontese, aber geistig Frankreich angehörend.
Grenzboten 111 1L9275
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[0601] bricht unwillig den Stab über den modernen Staat überhaupt, der mit dem Unterricht „unsre Seele," mit der Wehrpflicht „unsern Körper," mit der all¬ gemeinen Besteuerung „unser Eigentum" raube. In dieser unversöhnlichen Härte verblieb er; die Anfechtungen, die er infolge seiner Ansichten erfuhr, be¬ stärkten ihn nur darin. So wie einst seine „Annalen," so wurde nun seine Schrift über die spanische Konstitution in Bern verboten, und als er bald darauf katholisch wurde, stieß ihn der große Rat aus seiner Mitte aus. Zum drittenmale verließ er sein Vaterland, um diesmal der Sache, die ihn ganz erfüllte,, in Paris zu dienen: in der Zeitschrift 1^6 vraxo^in bleu trat er für die royalistischen Ultras mit Feuereifer ein. Die Julirevolution trieb ihn wieder von dannen, aber den Kampf gab er nicht auf: seine Freunde und Anhänger waren es, die 1831 das Berliner politische Wochenblatt gründeten, und er selbst hat noch am Vorabend der Februarrevolution den preußischen König zur „Behauptung seiner Rechte" aufgerufen und ermahnt. Länger als ein Menschenalter ist er der geistige Führer des extremsten Flügels der Konser- vativen aller Länder gewesen, und nach seinem Tode gab ihm ein Gegner das Zeugnis, er stehe in dem Jahrhundert als ein Mann „von gewaltiger Kraft des Geistes, von großer Folgerichtigkeit des Denkens, von Unerschrockenheit und Fähigkeit des Charakters, von nicht verächtlichem Wissen und Scharfsinn," er habe ein Werk geliefert, das seinen Namen auf die spätere Nachwelt bringen werde. Man wird vielleicht sagen, daß in der Periode der napoleonischen Herr¬ schaft nicht bloß die Schweiz die Bedingungen geboten habe, unter denen sich eine Individualität wie Haller entwickeln konnte: auch in Frankreich und Deutschland waren die ursprünglichen von Natur und Geschichte gegebnen Ver¬ bände gelöst und durch Bildungen einer abstrakten Staatslehre ersetzt worden. Hierauf könnte man antworten, daß auch wirklich hier wie dort Mciuner aufgetreten seien, die eine der Hallerschen ähnliche Doktrin verkündet haben: De Maistre'^) sowie Adam Müller ist zu seinein System unabhängig von dem Berner Staatsphilosophen gelangt. Zuletzt aber tritt überall da, wo eine große Persönlichkeit erscheint, ein irrationales Element in die Geschichte ein: niemand kann ergründen, warum sie gerade an dieser Stelle, gerade in dieser Form erschienen ist. Auf den ersten Anschein möchte man nun wohl glauben, daß diese Hallersche Lehre, von allem Anfang aufs heftigste bekämpft und wenig verteidigt, längst überwunden sei, und gerade die entgegengesetzte Meinung den Sieg davonge¬ tragen habe. Aber es ist hier derselbe Irrtum, den man gewöhnlich in Bezug aus die thatsächliche Gestaltung unsers Staatslebens hegt, wenn man es als ganz und gar auf den Grundlagen der Revolution erwachsen ansieht. Aller- Zwar ein Piemontese, aber geistig Frankreich angehörend. Grenzboten 111 1L9275

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/601>, abgerufen am 08.01.2025.