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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der konservativen Doktrin

dings, die Revolution hat sehr viel dazu beigetragen, unsre Staaten so zu
machen, wie sie heute siud, aber ausschließlich von ihr haben sie doch keines¬
wegs ihre Gestalt empfangen; Kräfte, die gerade im Gegensatz zu ihr ent¬
standen und emporgekommen sind, haben an dem politischen Bilduugsprvzeß
unsers Jahrhunderts gleichfalls ihren Anteil gehabt. Und so ist es nun auch
in der Theorie. Die Konstitutionen, die sich allenthalben neu gebildet haben,
sind so gut wie unbestritten, selbst die Konservativen der äußersten Rechten
lassen sie wohl gelten und haben sich mit ihr abgefunden. Aber nicht als
die allein berechtigte, gleichsam allein seligmachende Form des Staatslebens
sieht man sie an, sondern als Einrichtungen, die zum Teil bloßen Wünschen,
zum Teil wirklichen Bedürfnissen entsprungen, nun durch jahrzehntelangen
Bestand eine Art historischen Rechts gewonnen haben. Diese Auffassung steht
aber im Grunde der Hallerschen sehr nahe: er ist nun auch ein natürliches
Verhältnis geworden, dieser Konstitutionalismus, in dem Fortgang der Dinge
hat er sich allmählich neu gebildet. Aber daß unter Umständen ans andre
Weise besser regiert werden kann, wird heute niemand leugnen: Bosnien u. a.
legt Zeugnis davon ab.

Und so sehn wir denn den Grundgedanken der Hallerschen "Restauration"
nicht nur als leitende Idee des modernen Konservatismus angenommen, er
hat auch auf die politische Anschauung des Jahrhunderts überhaupt Einfluß
gehabt. Beinahe gänzlich aufgegeben ist dagegen alles, was Haller gegen das
System der neuern Staatsverwaltung vorgebracht hat; insbesondre empfinden
wir die Verquickung seiner Theorie -- mau kann nicht sagen mit katholischen,
aber mit hierarchisch-priesterlichen Tendenzen als einen Anachronismus. Aber
schon zu Hallers Lebzeiten hat man darauf nicht so großen Wert gelegt, die
meisten Mitarbeiter der Berliner politischen Wochenschrift waren doch eifrige
Protestanten. Seine eigne Abwendung vom Protestantismus erschien zwar
ihm selber als eine notwendige Folge seines politischen Glaubensbekenntnisses,
und von den sechs Bänden seines Hauptwerkes beschäftigen sich zwei mit
den Priesterstaaten; aber diesen Zusammenhang vermögen wir heute, wo sich
die katholische Kirche nicht scheut, durchaus demokratische Staatsformen an¬
zuerkennen und innerhalb dieser doch eine große Herrschaft über die Gemüter
auszuüben fortfährt, nicht mehr einzusehen.




Zur Geschichte der konservativen Doktrin

dings, die Revolution hat sehr viel dazu beigetragen, unsre Staaten so zu
machen, wie sie heute siud, aber ausschließlich von ihr haben sie doch keines¬
wegs ihre Gestalt empfangen; Kräfte, die gerade im Gegensatz zu ihr ent¬
standen und emporgekommen sind, haben an dem politischen Bilduugsprvzeß
unsers Jahrhunderts gleichfalls ihren Anteil gehabt. Und so ist es nun auch
in der Theorie. Die Konstitutionen, die sich allenthalben neu gebildet haben,
sind so gut wie unbestritten, selbst die Konservativen der äußersten Rechten
lassen sie wohl gelten und haben sich mit ihr abgefunden. Aber nicht als
die allein berechtigte, gleichsam allein seligmachende Form des Staatslebens
sieht man sie an, sondern als Einrichtungen, die zum Teil bloßen Wünschen,
zum Teil wirklichen Bedürfnissen entsprungen, nun durch jahrzehntelangen
Bestand eine Art historischen Rechts gewonnen haben. Diese Auffassung steht
aber im Grunde der Hallerschen sehr nahe: er ist nun auch ein natürliches
Verhältnis geworden, dieser Konstitutionalismus, in dem Fortgang der Dinge
hat er sich allmählich neu gebildet. Aber daß unter Umständen ans andre
Weise besser regiert werden kann, wird heute niemand leugnen: Bosnien u. a.
legt Zeugnis davon ab.

Und so sehn wir denn den Grundgedanken der Hallerschen „Restauration"
nicht nur als leitende Idee des modernen Konservatismus angenommen, er
hat auch auf die politische Anschauung des Jahrhunderts überhaupt Einfluß
gehabt. Beinahe gänzlich aufgegeben ist dagegen alles, was Haller gegen das
System der neuern Staatsverwaltung vorgebracht hat; insbesondre empfinden
wir die Verquickung seiner Theorie — mau kann nicht sagen mit katholischen,
aber mit hierarchisch-priesterlichen Tendenzen als einen Anachronismus. Aber
schon zu Hallers Lebzeiten hat man darauf nicht so großen Wert gelegt, die
meisten Mitarbeiter der Berliner politischen Wochenschrift waren doch eifrige
Protestanten. Seine eigne Abwendung vom Protestantismus erschien zwar
ihm selber als eine notwendige Folge seines politischen Glaubensbekenntnisses,
und von den sechs Bänden seines Hauptwerkes beschäftigen sich zwei mit
den Priesterstaaten; aber diesen Zusammenhang vermögen wir heute, wo sich
die katholische Kirche nicht scheut, durchaus demokratische Staatsformen an¬
zuerkennen und innerhalb dieser doch eine große Herrschaft über die Gemüter
auszuüben fortfährt, nicht mehr einzusehen.




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[0602] Zur Geschichte der konservativen Doktrin dings, die Revolution hat sehr viel dazu beigetragen, unsre Staaten so zu machen, wie sie heute siud, aber ausschließlich von ihr haben sie doch keines¬ wegs ihre Gestalt empfangen; Kräfte, die gerade im Gegensatz zu ihr ent¬ standen und emporgekommen sind, haben an dem politischen Bilduugsprvzeß unsers Jahrhunderts gleichfalls ihren Anteil gehabt. Und so ist es nun auch in der Theorie. Die Konstitutionen, die sich allenthalben neu gebildet haben, sind so gut wie unbestritten, selbst die Konservativen der äußersten Rechten lassen sie wohl gelten und haben sich mit ihr abgefunden. Aber nicht als die allein berechtigte, gleichsam allein seligmachende Form des Staatslebens sieht man sie an, sondern als Einrichtungen, die zum Teil bloßen Wünschen, zum Teil wirklichen Bedürfnissen entsprungen, nun durch jahrzehntelangen Bestand eine Art historischen Rechts gewonnen haben. Diese Auffassung steht aber im Grunde der Hallerschen sehr nahe: er ist nun auch ein natürliches Verhältnis geworden, dieser Konstitutionalismus, in dem Fortgang der Dinge hat er sich allmählich neu gebildet. Aber daß unter Umständen ans andre Weise besser regiert werden kann, wird heute niemand leugnen: Bosnien u. a. legt Zeugnis davon ab. Und so sehn wir denn den Grundgedanken der Hallerschen „Restauration" nicht nur als leitende Idee des modernen Konservatismus angenommen, er hat auch auf die politische Anschauung des Jahrhunderts überhaupt Einfluß gehabt. Beinahe gänzlich aufgegeben ist dagegen alles, was Haller gegen das System der neuern Staatsverwaltung vorgebracht hat; insbesondre empfinden wir die Verquickung seiner Theorie — mau kann nicht sagen mit katholischen, aber mit hierarchisch-priesterlichen Tendenzen als einen Anachronismus. Aber schon zu Hallers Lebzeiten hat man darauf nicht so großen Wert gelegt, die meisten Mitarbeiter der Berliner politischen Wochenschrift waren doch eifrige Protestanten. Seine eigne Abwendung vom Protestantismus erschien zwar ihm selber als eine notwendige Folge seines politischen Glaubensbekenntnisses, und von den sechs Bänden seines Hauptwerkes beschäftigen sich zwei mit den Priesterstaaten; aber diesen Zusammenhang vermögen wir heute, wo sich die katholische Kirche nicht scheut, durchaus demokratische Staatsformen an¬ zuerkennen und innerhalb dieser doch eine große Herrschaft über die Gemüter auszuüben fortfährt, nicht mehr einzusehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/602>, abgerufen am 06.01.2025.