Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin bedenklicher Widerspruch

reiche Ernten geborgen sind, wie in diesem Jahre, wo Weizen und Roggen
soweit im Preise gefallen sind, daß die Produktionskosten nicht mehr gedeckt
werden, genügen die Schutzzölle nicht, um Grundbesitz und Landwirte aufrecht
zu erhalten. Der zu zahlende Lohn ist die wesentlichste Ausgabe, die den
Reinertrag der Wirtschaften herunterdrücke, und es ist daher selbstverständlich,
daß das Bestreben darauf gerichtet wird, billige Arbeitskräfte zu erlangen.
Die Klage über unerträglich hohe Lohne ist allgemein, selbst da, wo diese so
niedrig sind, daß die ganze Lebensführung der Arbeiter eine äußerst beschränkte
ist. Die sogenannten Sachsengünger verlassen ihre Heimat, die östlichen Pro¬
vinzen, und bringen den Sommer in den Rübengegenden zu, weil sie in der
Heimat nicht so viel verdienen können, .um sich den Winter über durchzu¬
schlagen. Und obwohl etwa 75000 Arbeiter und Arbeiterinnen alljährlich
gen Westen ziehen, um anderswo ihre Hände zu beschäftigen, klagen die Guts¬
besitzer im Osten über Mangel an Arbeitskräften und wissen die Staats¬
regierung zu bestimmen, russische und polnische Arbeiter wieder über die Grenze
zu lassen, die man ihnen aus nationale" Rücksichten verschlossen hatte. Die
Jndnstriegegendeu sind auch bereits angefüllt mit ausländischen Arbeitern, und
die Unternehmer freuen sich der Konkurrenz, die die Eingewanderten den Ein¬
heimischen machen.

Es muß aber doch jedermann einleuchten, daß die Hilfe, die der Land¬
wirtschaft und der Industrie durch Zulassung der Fremden gewährt wird, nur
auf Kosten der Arbeiter des Inlandes gewährt werden kann. Ihre Lage
kann sich nicht nennenswert verbessern, so lange ihnen eine unbeschränkte Ein¬
wanderung immer neue Konkurrenz schafft. Die Vorteile, die ihnen die
Schutzzölle in Aussicht gestellt haben, gehn auf diese Weise wieder verloren;
die nationale Arbeit, die man heben wollte, genießt, soweit es sich um die
Arbeiter handelt, keinen Schutz mehr. Die Unternehmer dagegen genießen die
höhern Preise des Schutzzolls und die niedrigen Löhne, die Folge einer völlig
freien Konkurrenz der Arbeitskräfte Europas. Hier wird nicht mit gleichem
Maße gemessen; die Gesetzgebung begünstigt die Unternehmer ans Kosten der
Arbeiter, ein Verfahren, das höchst bedenklich erscheinen muß und auf die
Länge nicht aufrecht erhalten werden kann.

, Die Sachsengänger würden hübsch in der Heimat bleiben, wenn sie ihr
Brot dort finden könnten. Aus Übermut gehn sie uicht fort, um anderswo
schwer zu arbeite" und mit immerhin spärlichem Gewinn im Herbst zurück¬
zukehren. Bei den Klagen der Landwirte über Arbcitermangel darf man eins
nicht übersehn. Die Natur des landwirtschaftlichen Betriebs bringt es mit sich,
daß im Sommer viele Arbeitskräfte erfordert werden, während man im Winter
die große Zahl nicht beschäftigen kann. Die Arbeiter wollen aber das ganze
Zahr hindurch leben, und wenn sie nicht in der Lage sind, während des
Winters anderweitige lohnende Arbeit zu finden, etwa beim Holzschlägen oder


Lin bedenklicher Widerspruch

reiche Ernten geborgen sind, wie in diesem Jahre, wo Weizen und Roggen
soweit im Preise gefallen sind, daß die Produktionskosten nicht mehr gedeckt
werden, genügen die Schutzzölle nicht, um Grundbesitz und Landwirte aufrecht
zu erhalten. Der zu zahlende Lohn ist die wesentlichste Ausgabe, die den
Reinertrag der Wirtschaften herunterdrücke, und es ist daher selbstverständlich,
daß das Bestreben darauf gerichtet wird, billige Arbeitskräfte zu erlangen.
Die Klage über unerträglich hohe Lohne ist allgemein, selbst da, wo diese so
niedrig sind, daß die ganze Lebensführung der Arbeiter eine äußerst beschränkte
ist. Die sogenannten Sachsengünger verlassen ihre Heimat, die östlichen Pro¬
vinzen, und bringen den Sommer in den Rübengegenden zu, weil sie in der
Heimat nicht so viel verdienen können, .um sich den Winter über durchzu¬
schlagen. Und obwohl etwa 75000 Arbeiter und Arbeiterinnen alljährlich
gen Westen ziehen, um anderswo ihre Hände zu beschäftigen, klagen die Guts¬
besitzer im Osten über Mangel an Arbeitskräften und wissen die Staats¬
regierung zu bestimmen, russische und polnische Arbeiter wieder über die Grenze
zu lassen, die man ihnen aus nationale» Rücksichten verschlossen hatte. Die
Jndnstriegegendeu sind auch bereits angefüllt mit ausländischen Arbeitern, und
die Unternehmer freuen sich der Konkurrenz, die die Eingewanderten den Ein¬
heimischen machen.

Es muß aber doch jedermann einleuchten, daß die Hilfe, die der Land¬
wirtschaft und der Industrie durch Zulassung der Fremden gewährt wird, nur
auf Kosten der Arbeiter des Inlandes gewährt werden kann. Ihre Lage
kann sich nicht nennenswert verbessern, so lange ihnen eine unbeschränkte Ein¬
wanderung immer neue Konkurrenz schafft. Die Vorteile, die ihnen die
Schutzzölle in Aussicht gestellt haben, gehn auf diese Weise wieder verloren;
die nationale Arbeit, die man heben wollte, genießt, soweit es sich um die
Arbeiter handelt, keinen Schutz mehr. Die Unternehmer dagegen genießen die
höhern Preise des Schutzzolls und die niedrigen Löhne, die Folge einer völlig
freien Konkurrenz der Arbeitskräfte Europas. Hier wird nicht mit gleichem
Maße gemessen; die Gesetzgebung begünstigt die Unternehmer ans Kosten der
Arbeiter, ein Verfahren, das höchst bedenklich erscheinen muß und auf die
Länge nicht aufrecht erhalten werden kann.

, Die Sachsengänger würden hübsch in der Heimat bleiben, wenn sie ihr
Brot dort finden könnten. Aus Übermut gehn sie uicht fort, um anderswo
schwer zu arbeite» und mit immerhin spärlichem Gewinn im Herbst zurück¬
zukehren. Bei den Klagen der Landwirte über Arbcitermangel darf man eins
nicht übersehn. Die Natur des landwirtschaftlichen Betriebs bringt es mit sich,
daß im Sommer viele Arbeitskräfte erfordert werden, während man im Winter
die große Zahl nicht beschäftigen kann. Die Arbeiter wollen aber das ganze
Zahr hindurch leben, und wenn sie nicht in der Lage sind, während des
Winters anderweitige lohnende Arbeit zu finden, etwa beim Holzschlägen oder


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0592" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213068"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin bedenklicher Widerspruch</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1964" prev="#ID_1963"> reiche Ernten geborgen sind, wie in diesem Jahre, wo Weizen und Roggen<lb/>
soweit im Preise gefallen sind, daß die Produktionskosten nicht mehr gedeckt<lb/>
werden, genügen die Schutzzölle nicht, um Grundbesitz und Landwirte aufrecht<lb/>
zu erhalten. Der zu zahlende Lohn ist die wesentlichste Ausgabe, die den<lb/>
Reinertrag der Wirtschaften herunterdrücke, und es ist daher selbstverständlich,<lb/>
daß das Bestreben darauf gerichtet wird, billige Arbeitskräfte zu erlangen.<lb/>
Die Klage über unerträglich hohe Lohne ist allgemein, selbst da, wo diese so<lb/>
niedrig sind, daß die ganze Lebensführung der Arbeiter eine äußerst beschränkte<lb/>
ist. Die sogenannten Sachsengünger verlassen ihre Heimat, die östlichen Pro¬<lb/>
vinzen, und bringen den Sommer in den Rübengegenden zu, weil sie in der<lb/>
Heimat nicht so viel verdienen können, .um sich den Winter über durchzu¬<lb/>
schlagen. Und obwohl etwa 75000 Arbeiter und Arbeiterinnen alljährlich<lb/>
gen Westen ziehen, um anderswo ihre Hände zu beschäftigen, klagen die Guts¬<lb/>
besitzer im Osten über Mangel an Arbeitskräften und wissen die Staats¬<lb/>
regierung zu bestimmen, russische und polnische Arbeiter wieder über die Grenze<lb/>
zu lassen, die man ihnen aus nationale» Rücksichten verschlossen hatte. Die<lb/>
Jndnstriegegendeu sind auch bereits angefüllt mit ausländischen Arbeitern, und<lb/>
die Unternehmer freuen sich der Konkurrenz, die die Eingewanderten den Ein¬<lb/>
heimischen machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1965"> Es muß aber doch jedermann einleuchten, daß die Hilfe, die der Land¬<lb/>
wirtschaft und der Industrie durch Zulassung der Fremden gewährt wird, nur<lb/>
auf Kosten der Arbeiter des Inlandes gewährt werden kann. Ihre Lage<lb/>
kann sich nicht nennenswert verbessern, so lange ihnen eine unbeschränkte Ein¬<lb/>
wanderung immer neue Konkurrenz schafft. Die Vorteile, die ihnen die<lb/>
Schutzzölle in Aussicht gestellt haben, gehn auf diese Weise wieder verloren;<lb/>
die nationale Arbeit, die man heben wollte, genießt, soweit es sich um die<lb/>
Arbeiter handelt, keinen Schutz mehr. Die Unternehmer dagegen genießen die<lb/>
höhern Preise des Schutzzolls und die niedrigen Löhne, die Folge einer völlig<lb/>
freien Konkurrenz der Arbeitskräfte Europas. Hier wird nicht mit gleichem<lb/>
Maße gemessen; die Gesetzgebung begünstigt die Unternehmer ans Kosten der<lb/>
Arbeiter, ein Verfahren, das höchst bedenklich erscheinen muß und auf die<lb/>
Länge nicht aufrecht erhalten werden kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1966" next="#ID_1967"> , Die Sachsengänger würden hübsch in der Heimat bleiben, wenn sie ihr<lb/>
Brot dort finden könnten. Aus Übermut gehn sie uicht fort, um anderswo<lb/>
schwer zu arbeite» und mit immerhin spärlichem Gewinn im Herbst zurück¬<lb/>
zukehren. Bei den Klagen der Landwirte über Arbcitermangel darf man eins<lb/>
nicht übersehn. Die Natur des landwirtschaftlichen Betriebs bringt es mit sich,<lb/>
daß im Sommer viele Arbeitskräfte erfordert werden, während man im Winter<lb/>
die große Zahl nicht beschäftigen kann. Die Arbeiter wollen aber das ganze<lb/>
Zahr hindurch leben, und wenn sie nicht in der Lage sind, während des<lb/>
Winters anderweitige lohnende Arbeit zu finden, etwa beim Holzschlägen oder</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0592] Lin bedenklicher Widerspruch reiche Ernten geborgen sind, wie in diesem Jahre, wo Weizen und Roggen soweit im Preise gefallen sind, daß die Produktionskosten nicht mehr gedeckt werden, genügen die Schutzzölle nicht, um Grundbesitz und Landwirte aufrecht zu erhalten. Der zu zahlende Lohn ist die wesentlichste Ausgabe, die den Reinertrag der Wirtschaften herunterdrücke, und es ist daher selbstverständlich, daß das Bestreben darauf gerichtet wird, billige Arbeitskräfte zu erlangen. Die Klage über unerträglich hohe Lohne ist allgemein, selbst da, wo diese so niedrig sind, daß die ganze Lebensführung der Arbeiter eine äußerst beschränkte ist. Die sogenannten Sachsengünger verlassen ihre Heimat, die östlichen Pro¬ vinzen, und bringen den Sommer in den Rübengegenden zu, weil sie in der Heimat nicht so viel verdienen können, .um sich den Winter über durchzu¬ schlagen. Und obwohl etwa 75000 Arbeiter und Arbeiterinnen alljährlich gen Westen ziehen, um anderswo ihre Hände zu beschäftigen, klagen die Guts¬ besitzer im Osten über Mangel an Arbeitskräften und wissen die Staats¬ regierung zu bestimmen, russische und polnische Arbeiter wieder über die Grenze zu lassen, die man ihnen aus nationale» Rücksichten verschlossen hatte. Die Jndnstriegegendeu sind auch bereits angefüllt mit ausländischen Arbeitern, und die Unternehmer freuen sich der Konkurrenz, die die Eingewanderten den Ein¬ heimischen machen. Es muß aber doch jedermann einleuchten, daß die Hilfe, die der Land¬ wirtschaft und der Industrie durch Zulassung der Fremden gewährt wird, nur auf Kosten der Arbeiter des Inlandes gewährt werden kann. Ihre Lage kann sich nicht nennenswert verbessern, so lange ihnen eine unbeschränkte Ein¬ wanderung immer neue Konkurrenz schafft. Die Vorteile, die ihnen die Schutzzölle in Aussicht gestellt haben, gehn auf diese Weise wieder verloren; die nationale Arbeit, die man heben wollte, genießt, soweit es sich um die Arbeiter handelt, keinen Schutz mehr. Die Unternehmer dagegen genießen die höhern Preise des Schutzzolls und die niedrigen Löhne, die Folge einer völlig freien Konkurrenz der Arbeitskräfte Europas. Hier wird nicht mit gleichem Maße gemessen; die Gesetzgebung begünstigt die Unternehmer ans Kosten der Arbeiter, ein Verfahren, das höchst bedenklich erscheinen muß und auf die Länge nicht aufrecht erhalten werden kann. , Die Sachsengänger würden hübsch in der Heimat bleiben, wenn sie ihr Brot dort finden könnten. Aus Übermut gehn sie uicht fort, um anderswo schwer zu arbeite» und mit immerhin spärlichem Gewinn im Herbst zurück¬ zukehren. Bei den Klagen der Landwirte über Arbcitermangel darf man eins nicht übersehn. Die Natur des landwirtschaftlichen Betriebs bringt es mit sich, daß im Sommer viele Arbeitskräfte erfordert werden, während man im Winter die große Zahl nicht beschäftigen kann. Die Arbeiter wollen aber das ganze Zahr hindurch leben, und wenn sie nicht in der Lage sind, während des Winters anderweitige lohnende Arbeit zu finden, etwa beim Holzschlägen oder

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/592
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/592>, abgerufen am 09.01.2025.