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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Ribbecks Geschichte der römischen Dichtung

In Vergil gipfelt die epische Dichtkunst der Römer. Er ist der Meister
des Heldengedichts, des Lehrgedichts und des Idylls. Unermeßlich ist der
Einfluß gewesen, der von ihm ausgegangen ist. Wie Aristoteles dem Mittel¬
alter als Ursprung aller Wissenschaft gegolten hat, so ist Vergil als der In¬
begriff aller Weisheit und Kunst verehrt worden. Doch hat es ihm nicht an
Widersachern gefehlt. Schon Zeitgenossen, Anhänger der alten Schule und
unfähige Nebenbuhler haben seine Gedichte zum Tummelplatz spitzfindiger und
alberner Kritik gemacht, und die Angriffe der neuern Zeit haben sich mit einer
Art von Haß vorzüglich gegen ihn und Horaz gerichtet und nicht ohne schein¬
baren Erfolg, denn die Geringschätzung der Werke Vergils ist in Laienkreisen
von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachsen. Um so mehr Gewicht muß auf das
Urteil eines so feinsinnigen Kenners wie Ribbeck gelegt werden. Bei der Be¬
sprechung der bukolischen Gedichte Vergils giebt auch Ribbeck zu, daß das Ver¬
dienst der Erfindung in den meisten dieser ländlichen Gedichte gering ist.
"Szenerie und Personal, Stimmung und Kolorit, Gedanken und Bilder, Stil
und Vers, alles ist geliehen oder wenigstens nachgebildet." Doch wird schon
hier das feine Verständnis des Dichters hervorgehoben: "sein offnes Auge für
die Landschaft, sein Sinn für die einfache Sprache der Natur zeigt sich, wenn
er mit wenigen sichern Strichen den hereinbrechenden Abend, die wechselnden
Schatten der Berge, die rauchenden Giebel der Villen, die heimziehenden Rinder
mit der Pflugschar schildert, oder die brütende Mittagsglut, wo selbst das
Vieh den Schatten aufsucht, und die Eidechsen sich in der Dornenhecke bergen"
(II. S. 32). Noch höher stellt Ribbeck die Georgica Vergils, die er ein liebens¬
würdiges, gemut- und geistvolles Werk, eins der edelsten Kleinode der römi¬
schen Dichtung nennt: "Aus einem Guß, von uuübertroffnem Zauber sind
Sprache und Vers. Letztrer ist von edelm Wohllaut, voll und männlich, von
mannigfaltiger, ausdrucksvoller Schattirung; in wohlgemeßnem Wechsel von
Daktylen und Spondeen bei fein berechnetem Gegenspiel der Cäsuren und
Wvrtgruppen strömt er kraftvoll und erfrischend wie ein Gebirgsquell dahin.
Nicht weniger fein abgestuft ist die Sprache: nur wenig altertümlich angehaucht,
markig und klar, reich und anschaulich, von heitrer Majestät übergössen, atmet
sie römischen Geist, der mit griechischer Anmut glücklich vermählt ist." (II. S. 53.)
Am höchsten steht dem Verfasser trotz aller Angriffe die Äneis. Auch bei
diesem Meisterwerke verdankt Vergil seinem Vorbilde fast alles äußerliche, die
ganze Anlage, den künstlerischen Apparat, die Methode des Heldengedichts und
eine Fülle von Einzelheiten. "Und doch ist sein Werk kein Erzeugnis lahmer
Nachahmung. Trotz aller Abhängigkeit atmet es seinen eignen Geist: die
Brust hebt sich höher, der Blick ist weiter, der Gesichtkreis großartiger. Der
Dichter erzählt nicht nur mit unbeteiligter Ruhe, was sich vor Zeiten zuge¬
tragen; er hat nicht nur die persönlichen Schicksale oder Leidenschaften eines
einzelnen Helden zum Vorwurf, nicht den sich vorbereitenden Untergang eines


Ribbecks Geschichte der römischen Dichtung

In Vergil gipfelt die epische Dichtkunst der Römer. Er ist der Meister
des Heldengedichts, des Lehrgedichts und des Idylls. Unermeßlich ist der
Einfluß gewesen, der von ihm ausgegangen ist. Wie Aristoteles dem Mittel¬
alter als Ursprung aller Wissenschaft gegolten hat, so ist Vergil als der In¬
begriff aller Weisheit und Kunst verehrt worden. Doch hat es ihm nicht an
Widersachern gefehlt. Schon Zeitgenossen, Anhänger der alten Schule und
unfähige Nebenbuhler haben seine Gedichte zum Tummelplatz spitzfindiger und
alberner Kritik gemacht, und die Angriffe der neuern Zeit haben sich mit einer
Art von Haß vorzüglich gegen ihn und Horaz gerichtet und nicht ohne schein¬
baren Erfolg, denn die Geringschätzung der Werke Vergils ist in Laienkreisen
von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachsen. Um so mehr Gewicht muß auf das
Urteil eines so feinsinnigen Kenners wie Ribbeck gelegt werden. Bei der Be¬
sprechung der bukolischen Gedichte Vergils giebt auch Ribbeck zu, daß das Ver¬
dienst der Erfindung in den meisten dieser ländlichen Gedichte gering ist.
»Szenerie und Personal, Stimmung und Kolorit, Gedanken und Bilder, Stil
und Vers, alles ist geliehen oder wenigstens nachgebildet." Doch wird schon
hier das feine Verständnis des Dichters hervorgehoben: „sein offnes Auge für
die Landschaft, sein Sinn für die einfache Sprache der Natur zeigt sich, wenn
er mit wenigen sichern Strichen den hereinbrechenden Abend, die wechselnden
Schatten der Berge, die rauchenden Giebel der Villen, die heimziehenden Rinder
mit der Pflugschar schildert, oder die brütende Mittagsglut, wo selbst das
Vieh den Schatten aufsucht, und die Eidechsen sich in der Dornenhecke bergen"
(II. S. 32). Noch höher stellt Ribbeck die Georgica Vergils, die er ein liebens¬
würdiges, gemut- und geistvolles Werk, eins der edelsten Kleinode der römi¬
schen Dichtung nennt: „Aus einem Guß, von uuübertroffnem Zauber sind
Sprache und Vers. Letztrer ist von edelm Wohllaut, voll und männlich, von
mannigfaltiger, ausdrucksvoller Schattirung; in wohlgemeßnem Wechsel von
Daktylen und Spondeen bei fein berechnetem Gegenspiel der Cäsuren und
Wvrtgruppen strömt er kraftvoll und erfrischend wie ein Gebirgsquell dahin.
Nicht weniger fein abgestuft ist die Sprache: nur wenig altertümlich angehaucht,
markig und klar, reich und anschaulich, von heitrer Majestät übergössen, atmet
sie römischen Geist, der mit griechischer Anmut glücklich vermählt ist." (II. S. 53.)
Am höchsten steht dem Verfasser trotz aller Angriffe die Äneis. Auch bei
diesem Meisterwerke verdankt Vergil seinem Vorbilde fast alles äußerliche, die
ganze Anlage, den künstlerischen Apparat, die Methode des Heldengedichts und
eine Fülle von Einzelheiten. „Und doch ist sein Werk kein Erzeugnis lahmer
Nachahmung. Trotz aller Abhängigkeit atmet es seinen eignen Geist: die
Brust hebt sich höher, der Blick ist weiter, der Gesichtkreis großartiger. Der
Dichter erzählt nicht nur mit unbeteiligter Ruhe, was sich vor Zeiten zuge¬
tragen; er hat nicht nur die persönlichen Schicksale oder Leidenschaften eines
einzelnen Helden zum Vorwurf, nicht den sich vorbereitenden Untergang eines


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[0527] Ribbecks Geschichte der römischen Dichtung In Vergil gipfelt die epische Dichtkunst der Römer. Er ist der Meister des Heldengedichts, des Lehrgedichts und des Idylls. Unermeßlich ist der Einfluß gewesen, der von ihm ausgegangen ist. Wie Aristoteles dem Mittel¬ alter als Ursprung aller Wissenschaft gegolten hat, so ist Vergil als der In¬ begriff aller Weisheit und Kunst verehrt worden. Doch hat es ihm nicht an Widersachern gefehlt. Schon Zeitgenossen, Anhänger der alten Schule und unfähige Nebenbuhler haben seine Gedichte zum Tummelplatz spitzfindiger und alberner Kritik gemacht, und die Angriffe der neuern Zeit haben sich mit einer Art von Haß vorzüglich gegen ihn und Horaz gerichtet und nicht ohne schein¬ baren Erfolg, denn die Geringschätzung der Werke Vergils ist in Laienkreisen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachsen. Um so mehr Gewicht muß auf das Urteil eines so feinsinnigen Kenners wie Ribbeck gelegt werden. Bei der Be¬ sprechung der bukolischen Gedichte Vergils giebt auch Ribbeck zu, daß das Ver¬ dienst der Erfindung in den meisten dieser ländlichen Gedichte gering ist. »Szenerie und Personal, Stimmung und Kolorit, Gedanken und Bilder, Stil und Vers, alles ist geliehen oder wenigstens nachgebildet." Doch wird schon hier das feine Verständnis des Dichters hervorgehoben: „sein offnes Auge für die Landschaft, sein Sinn für die einfache Sprache der Natur zeigt sich, wenn er mit wenigen sichern Strichen den hereinbrechenden Abend, die wechselnden Schatten der Berge, die rauchenden Giebel der Villen, die heimziehenden Rinder mit der Pflugschar schildert, oder die brütende Mittagsglut, wo selbst das Vieh den Schatten aufsucht, und die Eidechsen sich in der Dornenhecke bergen" (II. S. 32). Noch höher stellt Ribbeck die Georgica Vergils, die er ein liebens¬ würdiges, gemut- und geistvolles Werk, eins der edelsten Kleinode der römi¬ schen Dichtung nennt: „Aus einem Guß, von uuübertroffnem Zauber sind Sprache und Vers. Letztrer ist von edelm Wohllaut, voll und männlich, von mannigfaltiger, ausdrucksvoller Schattirung; in wohlgemeßnem Wechsel von Daktylen und Spondeen bei fein berechnetem Gegenspiel der Cäsuren und Wvrtgruppen strömt er kraftvoll und erfrischend wie ein Gebirgsquell dahin. Nicht weniger fein abgestuft ist die Sprache: nur wenig altertümlich angehaucht, markig und klar, reich und anschaulich, von heitrer Majestät übergössen, atmet sie römischen Geist, der mit griechischer Anmut glücklich vermählt ist." (II. S. 53.) Am höchsten steht dem Verfasser trotz aller Angriffe die Äneis. Auch bei diesem Meisterwerke verdankt Vergil seinem Vorbilde fast alles äußerliche, die ganze Anlage, den künstlerischen Apparat, die Methode des Heldengedichts und eine Fülle von Einzelheiten. „Und doch ist sein Werk kein Erzeugnis lahmer Nachahmung. Trotz aller Abhängigkeit atmet es seinen eignen Geist: die Brust hebt sich höher, der Blick ist weiter, der Gesichtkreis großartiger. Der Dichter erzählt nicht nur mit unbeteiligter Ruhe, was sich vor Zeiten zuge¬ tragen; er hat nicht nur die persönlichen Schicksale oder Leidenschaften eines einzelnen Helden zum Vorwurf, nicht den sich vorbereitenden Untergang eines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/527>, abgerufen am 08.01.2025.