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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Ribbecks Geschichte der römischen Dichtung

worfnen umbrischen Landstädtchen Sarsina ein Knabe nach Rom, der aus
seiner Heimat die Namen Maccius Plotus (Plattfuß) mitbrachte. Seit früher
Jugend uuter den Handlangern und Arbeitern des Theaters beschäftigt, erwarb
er sich einiges Geld, womit er Handelsgeschäfte unternahm und sich auf Reisen
begab. Aber es glückte ihm nicht, sodaß er gänzlich mittellos und verschuldet
uach Rom heimkehrte und genötigt war, sich als Knecht bei einem Müller
zum Drehen der Handmühle zu verdingen. Dieser beschwerliche Dienst ließ
doch dem jungen Manne noch Muße und Munterkeit genug übrig, sich in
Erinnerung seiner frühern Beziehungen zur Bühne auf das Komödienschreiben
zu verlegen. Wirklich brachte er in seiner öden Werkstatt drei Stücke zustande,
deren zwei die Titel Ls-Wrio (ein Parasitenname) und ^.Äcliows (der Hörige)
trugen. Der letztere erinnert an die eigne Lage des Verfassers. Es gelang
ihm, diese Arbeiten an einen Schanspielunternehmer zu verkaufen und sich mit
dem Erlös wieder auf eigne Füße zu stellen. Der glückliche Erfolg dieser
ersten Versuche gab ihm Vertrauen zu seiner Begabung, sodaß er, nunmehr
etwa ein Dreißiger, sich der Thätigkeit eines Komödiendichters, und zwar dieser
ausschließlich, widmete. Vierzig Jahre lang, bis zu seinem Tode (570/184),
hat T. Maceius Plautus, wie sich der zu Ansehn gelangte Bürger nannte,
seine Kunst mit nicht versiegender Schöpferkraft und Frische des Geistes gepflegt."
(I. Seite 57 f.)

Mit gleicher Klarheit und Anschaulichkeit wird ans den Trümmern der
Überlieferung der Inhalt einer Tragödie des naevius in großen Umrissen
und in feinerer Ausführung der Plan der Ennianischen Annalen wiederher¬
gestellt und der Gedankengang in Varros Satiren verfolgt. Eine von diesen,
die LöXÄAvLis (d. i. der Mann von sechzig Jahren), deren Held, der gute
Marcus, als zehnjähriger Knabe wie ein zweiter Epimenides in einen Zauber¬
schlaf verfallen ist, wird uns in folgender Weise vorgeführt: "Als er nun nach
einem halben Jahrhundert wieder erwacht und sich umschaut, findet er alles
verändert, zunächst sich selbst, denn aus einem glätten Bürschlein ist ein Igel
mit weißen Borsten und einem Rüssel von Nase geworden. Dann aber Rom!
An Stelle der frühern, jetzt verbannten Tugenden sind als Einwohnerinnen
eingezogen Ruchlosigkeit, Treulosigkeit, Schamlosigkeit. Wo ist z. B. die Pietät
des Äneas hin, der seinen Vater auf den Schultern ans Trojas Flammen
trug? Freilich jeder zehnjährige Knabe ist jetzt fähig, den seinigen nicht davon
zu tragen, sondern aus dem Wege zu rciumeu, aber mit Gift. Wo man ehe¬
mals ernste, ehrliche Wahlversammlungen hielt, da wird jetzt Markt gehalten
mit Stimmen. Die Richter thun nicht, was die Gesetze vorschreiben, sondern
"gieb und nimm" ist das Gesetz, welches durchschlägt. Der alte Marcus
bricht in elegische Klage über diesen Umsturz der Dinge aus; aber er wird
über seinen Irrtum, in Erinnerungen an das Altertum zu wühlen und die
Lebenden anzuklagen, zurecht gesetzt; ja die schamlose Jugend vollzieht an ihm,


Ribbecks Geschichte der römischen Dichtung

worfnen umbrischen Landstädtchen Sarsina ein Knabe nach Rom, der aus
seiner Heimat die Namen Maccius Plotus (Plattfuß) mitbrachte. Seit früher
Jugend uuter den Handlangern und Arbeitern des Theaters beschäftigt, erwarb
er sich einiges Geld, womit er Handelsgeschäfte unternahm und sich auf Reisen
begab. Aber es glückte ihm nicht, sodaß er gänzlich mittellos und verschuldet
uach Rom heimkehrte und genötigt war, sich als Knecht bei einem Müller
zum Drehen der Handmühle zu verdingen. Dieser beschwerliche Dienst ließ
doch dem jungen Manne noch Muße und Munterkeit genug übrig, sich in
Erinnerung seiner frühern Beziehungen zur Bühne auf das Komödienschreiben
zu verlegen. Wirklich brachte er in seiner öden Werkstatt drei Stücke zustande,
deren zwei die Titel Ls-Wrio (ein Parasitenname) und ^.Äcliows (der Hörige)
trugen. Der letztere erinnert an die eigne Lage des Verfassers. Es gelang
ihm, diese Arbeiten an einen Schanspielunternehmer zu verkaufen und sich mit
dem Erlös wieder auf eigne Füße zu stellen. Der glückliche Erfolg dieser
ersten Versuche gab ihm Vertrauen zu seiner Begabung, sodaß er, nunmehr
etwa ein Dreißiger, sich der Thätigkeit eines Komödiendichters, und zwar dieser
ausschließlich, widmete. Vierzig Jahre lang, bis zu seinem Tode (570/184),
hat T. Maceius Plautus, wie sich der zu Ansehn gelangte Bürger nannte,
seine Kunst mit nicht versiegender Schöpferkraft und Frische des Geistes gepflegt."
(I. Seite 57 f.)

Mit gleicher Klarheit und Anschaulichkeit wird ans den Trümmern der
Überlieferung der Inhalt einer Tragödie des naevius in großen Umrissen
und in feinerer Ausführung der Plan der Ennianischen Annalen wiederher¬
gestellt und der Gedankengang in Varros Satiren verfolgt. Eine von diesen,
die LöXÄAvLis (d. i. der Mann von sechzig Jahren), deren Held, der gute
Marcus, als zehnjähriger Knabe wie ein zweiter Epimenides in einen Zauber¬
schlaf verfallen ist, wird uns in folgender Weise vorgeführt: „Als er nun nach
einem halben Jahrhundert wieder erwacht und sich umschaut, findet er alles
verändert, zunächst sich selbst, denn aus einem glätten Bürschlein ist ein Igel
mit weißen Borsten und einem Rüssel von Nase geworden. Dann aber Rom!
An Stelle der frühern, jetzt verbannten Tugenden sind als Einwohnerinnen
eingezogen Ruchlosigkeit, Treulosigkeit, Schamlosigkeit. Wo ist z. B. die Pietät
des Äneas hin, der seinen Vater auf den Schultern ans Trojas Flammen
trug? Freilich jeder zehnjährige Knabe ist jetzt fähig, den seinigen nicht davon
zu tragen, sondern aus dem Wege zu rciumeu, aber mit Gift. Wo man ehe¬
mals ernste, ehrliche Wahlversammlungen hielt, da wird jetzt Markt gehalten
mit Stimmen. Die Richter thun nicht, was die Gesetze vorschreiben, sondern
»gieb und nimm« ist das Gesetz, welches durchschlägt. Der alte Marcus
bricht in elegische Klage über diesen Umsturz der Dinge aus; aber er wird
über seinen Irrtum, in Erinnerungen an das Altertum zu wühlen und die
Lebenden anzuklagen, zurecht gesetzt; ja die schamlose Jugend vollzieht an ihm,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/524>, abgerufen am 08.01.2025.