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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Zur Unfallversicherung der Arbeiter

hatten, so war ungerechtfertigten Ansprüchen Thür und Thor geöffnet, und
das führte dazu, daß die Kontrolle der Genossenschaftsorgane verschärft wurde,
der Unternehmer in der Anmeldung gewissenhafter wurde.

Über die Gründe für die Zunahme der zu entschädigenden Unfälle gingen
die Ansichten weit aus einander. Die einen hatten auf die angespanntere
Thätigkeit des Jahres 1890 in der Industrie und die dadurch veranlaßte Ein¬
stellung ungeübterer Arbeitskräfte hingewiesen. Die andern hatten darauf auf¬
merksam gemacht, daß die immer weiter fortschreitende Verdrängung der Hand¬
arbeit durch die Maschine" eine größere Gefährlichkeit der Fabrikation mit sich
führe, während in den Bangewerben die ständig wachsende Zahl der nicht vor¬
gebildeten Unternehmer an der Vermehrung der Unfälle die Schuld tragen
sollte. Auch die Genußsucht der Arbeiter und ihre dadurch hervorgerufne
Schlaffheit wurde als Grund für einen großen Teil der Verletzungen ange¬
geben. Eine Anzahl der Genossenschaftsorgane leugnete überhaupt eine Zu¬
nahme der Unfälle. Durch die wohlwollende Rechtsprechung des Neichsver-
sicherungsamts und der Schiedsgerichte und durch die immer größer werdende
Vertrautheit der Arbeiter mit den Rechten, die sich aus dem Unfallversiche-
rnngsgesetz für sie ergeben, seien mich von Jahr zu Jahr mehr Ansprüche ans
Schadenersatz erhoben worden, und zwar für Schäden, die früher und noch in
den ersten Jahren nach Einführung der Gesetze gar nicht beachtet worden
wären. Nicht die Zahl der Unfälle an sich, nur die Zahl solcher Unfälle,
für die Entschädigung verlangt und zugestanden worden wäre, hätte eine Zu¬
nahme auszuweisen gehabt.

Ich lasse dahingestellt, ob die letzte Annahme auf Thatsachen beruht.
Ausgesprochen worden ist sie nnr als Vermutung, den Beweis ist man schuldig
geblieben. We^n man aber berücksichtigt, daß meist noch heute über die Fest¬
setzung der Renten dieselben Personen zu entscheiden haben wie in den ersten
Jahren nach Einführung der llnfallversicherung, daß auch für die unbedeu¬
tendsten Verletzungen, sie nnr eine erwiesene, wenn auch noch so kleine
Erwerbsunfähigkeit zur Folge hatten, stets Entschädigungen bewilligt worden
sind, und daß den des Gesetzes unkundigen Verletzten gleich zu Anfang die
Arbeitsherrn und Mitarbeiter als Berater zur Seite gestanden haben, so kann
diese vermehrte Erhebung von Eutschädigungsansprüchen die Zahl der ent¬
schädigten Unfälle nur unwesentlich beeinflußt haben. Die Zunahme der Un¬
fälle in den Betrieben bleibt also eine Thatsache.

Von den sonst zu ihrer Erklärung angeführten Ursachen ist nur einer
eine allgemeinere Bedeutung zuzusprechen. Es ist richtig, daß durch die stetig
zunehmende Verdrängung der Handarbeit durch die Maschinen die Gefahr für
die Arbeiter erhöht wird. Doch kann diese Umwälzung in der Industrie, da
sie doch ganz allmählich vor sich geht, keines wegsallein die Zunahme der Un¬
fälle erklären. Die Vermehrung nicht vorgebildeter Unternehmer ist nur für


Zur Unfallversicherung der Arbeiter

hatten, so war ungerechtfertigten Ansprüchen Thür und Thor geöffnet, und
das führte dazu, daß die Kontrolle der Genossenschaftsorgane verschärft wurde,
der Unternehmer in der Anmeldung gewissenhafter wurde.

Über die Gründe für die Zunahme der zu entschädigenden Unfälle gingen
die Ansichten weit aus einander. Die einen hatten auf die angespanntere
Thätigkeit des Jahres 1890 in der Industrie und die dadurch veranlaßte Ein¬
stellung ungeübterer Arbeitskräfte hingewiesen. Die andern hatten darauf auf¬
merksam gemacht, daß die immer weiter fortschreitende Verdrängung der Hand¬
arbeit durch die Maschine« eine größere Gefährlichkeit der Fabrikation mit sich
führe, während in den Bangewerben die ständig wachsende Zahl der nicht vor¬
gebildeten Unternehmer an der Vermehrung der Unfälle die Schuld tragen
sollte. Auch die Genußsucht der Arbeiter und ihre dadurch hervorgerufne
Schlaffheit wurde als Grund für einen großen Teil der Verletzungen ange¬
geben. Eine Anzahl der Genossenschaftsorgane leugnete überhaupt eine Zu¬
nahme der Unfälle. Durch die wohlwollende Rechtsprechung des Neichsver-
sicherungsamts und der Schiedsgerichte und durch die immer größer werdende
Vertrautheit der Arbeiter mit den Rechten, die sich aus dem Unfallversiche-
rnngsgesetz für sie ergeben, seien mich von Jahr zu Jahr mehr Ansprüche ans
Schadenersatz erhoben worden, und zwar für Schäden, die früher und noch in
den ersten Jahren nach Einführung der Gesetze gar nicht beachtet worden
wären. Nicht die Zahl der Unfälle an sich, nur die Zahl solcher Unfälle,
für die Entschädigung verlangt und zugestanden worden wäre, hätte eine Zu¬
nahme auszuweisen gehabt.

Ich lasse dahingestellt, ob die letzte Annahme auf Thatsachen beruht.
Ausgesprochen worden ist sie nnr als Vermutung, den Beweis ist man schuldig
geblieben. We^n man aber berücksichtigt, daß meist noch heute über die Fest¬
setzung der Renten dieselben Personen zu entscheiden haben wie in den ersten
Jahren nach Einführung der llnfallversicherung, daß auch für die unbedeu¬
tendsten Verletzungen, sie nnr eine erwiesene, wenn auch noch so kleine
Erwerbsunfähigkeit zur Folge hatten, stets Entschädigungen bewilligt worden
sind, und daß den des Gesetzes unkundigen Verletzten gleich zu Anfang die
Arbeitsherrn und Mitarbeiter als Berater zur Seite gestanden haben, so kann
diese vermehrte Erhebung von Eutschädigungsansprüchen die Zahl der ent¬
schädigten Unfälle nur unwesentlich beeinflußt haben. Die Zunahme der Un¬
fälle in den Betrieben bleibt also eine Thatsache.

Von den sonst zu ihrer Erklärung angeführten Ursachen ist nur einer
eine allgemeinere Bedeutung zuzusprechen. Es ist richtig, daß durch die stetig
zunehmende Verdrängung der Handarbeit durch die Maschinen die Gefahr für
die Arbeiter erhöht wird. Doch kann diese Umwälzung in der Industrie, da
sie doch ganz allmählich vor sich geht, keines wegsallein die Zunahme der Un¬
fälle erklären. Die Vermehrung nicht vorgebildeter Unternehmer ist nur für


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[0496] Zur Unfallversicherung der Arbeiter hatten, so war ungerechtfertigten Ansprüchen Thür und Thor geöffnet, und das führte dazu, daß die Kontrolle der Genossenschaftsorgane verschärft wurde, der Unternehmer in der Anmeldung gewissenhafter wurde. Über die Gründe für die Zunahme der zu entschädigenden Unfälle gingen die Ansichten weit aus einander. Die einen hatten auf die angespanntere Thätigkeit des Jahres 1890 in der Industrie und die dadurch veranlaßte Ein¬ stellung ungeübterer Arbeitskräfte hingewiesen. Die andern hatten darauf auf¬ merksam gemacht, daß die immer weiter fortschreitende Verdrängung der Hand¬ arbeit durch die Maschine« eine größere Gefährlichkeit der Fabrikation mit sich führe, während in den Bangewerben die ständig wachsende Zahl der nicht vor¬ gebildeten Unternehmer an der Vermehrung der Unfälle die Schuld tragen sollte. Auch die Genußsucht der Arbeiter und ihre dadurch hervorgerufne Schlaffheit wurde als Grund für einen großen Teil der Verletzungen ange¬ geben. Eine Anzahl der Genossenschaftsorgane leugnete überhaupt eine Zu¬ nahme der Unfälle. Durch die wohlwollende Rechtsprechung des Neichsver- sicherungsamts und der Schiedsgerichte und durch die immer größer werdende Vertrautheit der Arbeiter mit den Rechten, die sich aus dem Unfallversiche- rnngsgesetz für sie ergeben, seien mich von Jahr zu Jahr mehr Ansprüche ans Schadenersatz erhoben worden, und zwar für Schäden, die früher und noch in den ersten Jahren nach Einführung der Gesetze gar nicht beachtet worden wären. Nicht die Zahl der Unfälle an sich, nur die Zahl solcher Unfälle, für die Entschädigung verlangt und zugestanden worden wäre, hätte eine Zu¬ nahme auszuweisen gehabt. Ich lasse dahingestellt, ob die letzte Annahme auf Thatsachen beruht. Ausgesprochen worden ist sie nnr als Vermutung, den Beweis ist man schuldig geblieben. We^n man aber berücksichtigt, daß meist noch heute über die Fest¬ setzung der Renten dieselben Personen zu entscheiden haben wie in den ersten Jahren nach Einführung der llnfallversicherung, daß auch für die unbedeu¬ tendsten Verletzungen, sie nnr eine erwiesene, wenn auch noch so kleine Erwerbsunfähigkeit zur Folge hatten, stets Entschädigungen bewilligt worden sind, und daß den des Gesetzes unkundigen Verletzten gleich zu Anfang die Arbeitsherrn und Mitarbeiter als Berater zur Seite gestanden haben, so kann diese vermehrte Erhebung von Eutschädigungsansprüchen die Zahl der ent¬ schädigten Unfälle nur unwesentlich beeinflußt haben. Die Zunahme der Un¬ fälle in den Betrieben bleibt also eine Thatsache. Von den sonst zu ihrer Erklärung angeführten Ursachen ist nur einer eine allgemeinere Bedeutung zuzusprechen. Es ist richtig, daß durch die stetig zunehmende Verdrängung der Handarbeit durch die Maschinen die Gefahr für die Arbeiter erhöht wird. Doch kann diese Umwälzung in der Industrie, da sie doch ganz allmählich vor sich geht, keines wegsallein die Zunahme der Un¬ fälle erklären. Die Vermehrung nicht vorgebildeter Unternehmer ist nur für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/496>, abgerufen am 08.01.2025.