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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Zur Unfallversicherung der Arbeiter

keine Arbeit, jedenfalls deckt die Rente nicht den Ausstill am Arbeitsverdienst.
Die Einnahmen sind geschmälert, mit der Krankheit aber sind die Ausgaben
gewachsen. Die Ärzte haben schon vor Jahresfrist wenig Aussicht auf weitere
Besserung gemacht, und möglicherweise hätten Erkundigungen bei dem frühern
Arbeitsherrn, beim Vertrauensmann, beim Gemeindevorstand jetzt dasselbe er¬
geben. Aber der Kranke wird zum Arzte geschickt oder erhält dessen Besuch,
und man weiß in der Familie, welchen Grund das hat, wenn auch nicht
darauf besonders hingewiesen werden sollte. Was hilft es, wenn hernach doch
von einer Rentenherabsetzung Abstand genommen wird und werden muß? für
die Aufregung und die Angst, es möchte die geringe Rente, die ohnehin kaum
zum nötigsten ausreicht, noch geschmälert werden, giebt es keine Entschädigung.
Die Verletzten und ihre Angehörigen werden durch die fortgesetzten ärztlichen
Untersuchungen und Ncutenherabsetzungen in ewiger Unruhe und Aufregung
erhalten, sie müssen bei einer Verstümmlung der Hand ordentlich in Sorge
sein, wenn die Beweglichkeit in den verblichnen drei bisher steifen Fingern
etwas zuzunehmen beginnt. Ihr Verdienst bleibt deshalb einstweilen genau
derselbe, aber -- die Rente wird herabgesetzt.

Die Verletzten müssen ein solches Vorgehen als Unbilligkeit empfinden,
und es ist nur zu natürlich, daß in den Arbeiterkreisen dadurch Unzufrieden¬
heit geweckt wird. Es fragt sich, ob das die Ersparnis an Renten wert
ist. Ich glaube kaum. Mau wollte doch durch die Arbeitcrversichernngs-
gesetzgebung Versöhnung in die Massen bringen. Also ändre man Gesetzes¬
bestimmungen, die in ihrer Dehnbarkeit eher das Gegenteil hervorzurufen ge¬
eignet sind. Man bestimme, daß Herabsetzungen von Renten immer nur um
mindestens ein Drittel ihres frühern Betrags und bei Renten von fünfzehn
Prozent und weniger immer nnr um fünf Prozent erfolgen können, und
man wird alleu billigen Anforderungen und Wünschen Rechnung getragen
haben.

Die Berufsgenossenschaften aber brauchten nicht zu befürchten, daß durch
diese kleine Beschränkung ihre Budgets allzu sehr belastet werden würden.
Um ihre Ausgaben herabznschrauben, stehn ihnen ganz andre Mittel zu Ge¬
bote, die viel kräftiger wirken und doch bisher wenig oder gar nicht aus¬
genutzt worden sind: die ihnen durch das Gesetz eingeräumten Rechte und Be¬
fugnisse auf dem Gebiete der Unfallverhütung.

Die Zusammenstellungen, die über die Rechnungsergebnisse der einzelnen
Berufsgenossenschaften und Aufsichtsbehörde,: alljährlich auf dem Reichsver¬
sicherungsamte vorgenommen werden, haben die auffällige und sonderbare Er¬
scheinung zu Tage gefördert, daß sich die Zahl der Unfälle, die in jedem
Jahre angemeldet und entschädigt werden, seit dem Bestehen der Unfallver¬
sicherung verhältnismäßig nicht vermindert, sondern sogar etwas vermehrt hat.

Bei den industriellen Berufsgenossenschaften waren versichert im Jahre:


Zur Unfallversicherung der Arbeiter

keine Arbeit, jedenfalls deckt die Rente nicht den Ausstill am Arbeitsverdienst.
Die Einnahmen sind geschmälert, mit der Krankheit aber sind die Ausgaben
gewachsen. Die Ärzte haben schon vor Jahresfrist wenig Aussicht auf weitere
Besserung gemacht, und möglicherweise hätten Erkundigungen bei dem frühern
Arbeitsherrn, beim Vertrauensmann, beim Gemeindevorstand jetzt dasselbe er¬
geben. Aber der Kranke wird zum Arzte geschickt oder erhält dessen Besuch,
und man weiß in der Familie, welchen Grund das hat, wenn auch nicht
darauf besonders hingewiesen werden sollte. Was hilft es, wenn hernach doch
von einer Rentenherabsetzung Abstand genommen wird und werden muß? für
die Aufregung und die Angst, es möchte die geringe Rente, die ohnehin kaum
zum nötigsten ausreicht, noch geschmälert werden, giebt es keine Entschädigung.
Die Verletzten und ihre Angehörigen werden durch die fortgesetzten ärztlichen
Untersuchungen und Ncutenherabsetzungen in ewiger Unruhe und Aufregung
erhalten, sie müssen bei einer Verstümmlung der Hand ordentlich in Sorge
sein, wenn die Beweglichkeit in den verblichnen drei bisher steifen Fingern
etwas zuzunehmen beginnt. Ihr Verdienst bleibt deshalb einstweilen genau
derselbe, aber — die Rente wird herabgesetzt.

Die Verletzten müssen ein solches Vorgehen als Unbilligkeit empfinden,
und es ist nur zu natürlich, daß in den Arbeiterkreisen dadurch Unzufrieden¬
heit geweckt wird. Es fragt sich, ob das die Ersparnis an Renten wert
ist. Ich glaube kaum. Mau wollte doch durch die Arbeitcrversichernngs-
gesetzgebung Versöhnung in die Massen bringen. Also ändre man Gesetzes¬
bestimmungen, die in ihrer Dehnbarkeit eher das Gegenteil hervorzurufen ge¬
eignet sind. Man bestimme, daß Herabsetzungen von Renten immer nur um
mindestens ein Drittel ihres frühern Betrags und bei Renten von fünfzehn
Prozent und weniger immer nnr um fünf Prozent erfolgen können, und
man wird alleu billigen Anforderungen und Wünschen Rechnung getragen
haben.

Die Berufsgenossenschaften aber brauchten nicht zu befürchten, daß durch
diese kleine Beschränkung ihre Budgets allzu sehr belastet werden würden.
Um ihre Ausgaben herabznschrauben, stehn ihnen ganz andre Mittel zu Ge¬
bote, die viel kräftiger wirken und doch bisher wenig oder gar nicht aus¬
genutzt worden sind: die ihnen durch das Gesetz eingeräumten Rechte und Be¬
fugnisse auf dem Gebiete der Unfallverhütung.

Die Zusammenstellungen, die über die Rechnungsergebnisse der einzelnen
Berufsgenossenschaften und Aufsichtsbehörde,: alljährlich auf dem Reichsver¬
sicherungsamte vorgenommen werden, haben die auffällige und sonderbare Er¬
scheinung zu Tage gefördert, daß sich die Zahl der Unfälle, die in jedem
Jahre angemeldet und entschädigt werden, seit dem Bestehen der Unfallver¬
sicherung verhältnismäßig nicht vermindert, sondern sogar etwas vermehrt hat.

Bei den industriellen Berufsgenossenschaften waren versichert im Jahre:


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[0494] Zur Unfallversicherung der Arbeiter keine Arbeit, jedenfalls deckt die Rente nicht den Ausstill am Arbeitsverdienst. Die Einnahmen sind geschmälert, mit der Krankheit aber sind die Ausgaben gewachsen. Die Ärzte haben schon vor Jahresfrist wenig Aussicht auf weitere Besserung gemacht, und möglicherweise hätten Erkundigungen bei dem frühern Arbeitsherrn, beim Vertrauensmann, beim Gemeindevorstand jetzt dasselbe er¬ geben. Aber der Kranke wird zum Arzte geschickt oder erhält dessen Besuch, und man weiß in der Familie, welchen Grund das hat, wenn auch nicht darauf besonders hingewiesen werden sollte. Was hilft es, wenn hernach doch von einer Rentenherabsetzung Abstand genommen wird und werden muß? für die Aufregung und die Angst, es möchte die geringe Rente, die ohnehin kaum zum nötigsten ausreicht, noch geschmälert werden, giebt es keine Entschädigung. Die Verletzten und ihre Angehörigen werden durch die fortgesetzten ärztlichen Untersuchungen und Ncutenherabsetzungen in ewiger Unruhe und Aufregung erhalten, sie müssen bei einer Verstümmlung der Hand ordentlich in Sorge sein, wenn die Beweglichkeit in den verblichnen drei bisher steifen Fingern etwas zuzunehmen beginnt. Ihr Verdienst bleibt deshalb einstweilen genau derselbe, aber — die Rente wird herabgesetzt. Die Verletzten müssen ein solches Vorgehen als Unbilligkeit empfinden, und es ist nur zu natürlich, daß in den Arbeiterkreisen dadurch Unzufrieden¬ heit geweckt wird. Es fragt sich, ob das die Ersparnis an Renten wert ist. Ich glaube kaum. Mau wollte doch durch die Arbeitcrversichernngs- gesetzgebung Versöhnung in die Massen bringen. Also ändre man Gesetzes¬ bestimmungen, die in ihrer Dehnbarkeit eher das Gegenteil hervorzurufen ge¬ eignet sind. Man bestimme, daß Herabsetzungen von Renten immer nur um mindestens ein Drittel ihres frühern Betrags und bei Renten von fünfzehn Prozent und weniger immer nnr um fünf Prozent erfolgen können, und man wird alleu billigen Anforderungen und Wünschen Rechnung getragen haben. Die Berufsgenossenschaften aber brauchten nicht zu befürchten, daß durch diese kleine Beschränkung ihre Budgets allzu sehr belastet werden würden. Um ihre Ausgaben herabznschrauben, stehn ihnen ganz andre Mittel zu Ge¬ bote, die viel kräftiger wirken und doch bisher wenig oder gar nicht aus¬ genutzt worden sind: die ihnen durch das Gesetz eingeräumten Rechte und Be¬ fugnisse auf dem Gebiete der Unfallverhütung. Die Zusammenstellungen, die über die Rechnungsergebnisse der einzelnen Berufsgenossenschaften und Aufsichtsbehörde,: alljährlich auf dem Reichsver¬ sicherungsamte vorgenommen werden, haben die auffällige und sonderbare Er¬ scheinung zu Tage gefördert, daß sich die Zahl der Unfälle, die in jedem Jahre angemeldet und entschädigt werden, seit dem Bestehen der Unfallver¬ sicherung verhältnismäßig nicht vermindert, sondern sogar etwas vermehrt hat. Bei den industriellen Berufsgenossenschaften waren versichert im Jahre:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/494>, abgerufen am 08.01.2025.