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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Zur Unfallversicherung der Arbeiter

sie nach Möglichkeit bestrebt sind, solche ärztliche Gutachten herbeizuführen, und
zu diesem Zwecke die Verletzten einer fortgesetzten Kontrolle unterwerfen. Sie
haben als treue Verwalter die Pflicht, in der Bewilligung der Renten nicht
über das Maß hinauszugehn, das gesetzlich dafür vorgeschrieben ist, und es
läßt sich auch nicht verkennen, daß sie gerade durch die Neutenherabsetzungen
große Ersparnisse sür ihre Berufsgenossenschaften herbeigeführt haben.

Es fragt sich nur, ob die Herabsetzungen, wenn sich auch vom gesetzlichen
Standpunkte gegen ihre gegenwärtige Handhabung nichts einwenden läßt, auch
immer der Billigkeit und den Interessen der Allgenieinheit entsprechen, und
ob es nicht angebracht wäre, bei einer Revision des Gesetzes auch die Bestim¬
mungen des Z 65 abzuändern.

Drei Erwägungen verdienen hier Beachtung. Erstens können auch die
Ärzte den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit immer nur schätzen, aber
nicht genau wissenschaftlich abmessen. Auch die Ärzte können sich irren, und
wenn auch Fälle, wie der kürzlich in den Zeitungen veröffentlichte, wo drei
Arzte einen Verletzten einstimmig für einen Simulanten gehalten hatten, und
sich nun nach Jahren herausgestellt hat, daß er an traumatischer Neurose,
einer durch äußere Verletzung hervorgernfncn schweren Nervenerkrankung leidet,
zum Glück zu deu Ausnahmen gehören, so fallen doch die Untersuchungen
bei verschiednen Ärzten immer verschieden aus, und selbst für einen Arzt, der
i" der Abschätzung der Arbeitsfähigkeit vou Unfallverletzten große Erfahrung
hat, wird es schwer sein, zu entscheiden, ob ein Patient zu fünfzig oder sechzig,
zu zwanzig oder fünfundzwanzig Prozent erwerbsfähig sei. Der Arzt kann
vielleicht bei einer spätern Untersuchung gegen eine frühere eine kleine Besse¬
rung feststellen. Die Besserung liegt unzweifelhaft vor, und sie läßt sich auch
vielleicht an sich mit einiger Sicherheit in Prozenten der vollen Erwerbsfähig¬
st abschätzen. Aber ihr relatives Maß ist so klein, daß es noch innerhalb
der Fehlergrenze liegt, innerhalb deren bei der ersten Untersuchung eine Unter¬
scheidung nicht mehr möglich war. Vielleicht hat der Verletzte erst jetzt den
Grad von Erwerbsfähigkeit erreicht, der damals irrtümlich etwas zu hoch ge¬
griffen war. Also warte man doch lieber mit der Neufeststellung der Rente,
bis die Besserung solche Fortschritte gemacht hat, daß man, ohne auf die Er¬
gebnisse der frühern Untersuchung zurückgreife!? zu müsse", zu wesentlich andern
Ergebnissen als damals gelangt.

Schlimmer aber als die Herabsetzung der Rente selbst in den Fällen, wo
sie nach dem Urteil des Arztes vorgenommen werden kann, ist, daß man bei
dem Hernbsetzungsverfahreu nicht immer mit der nötigen Schonung zu Werke
geht, namentlich da nicht, wo die Verwaltung zeutralisirt ist und alles etwas
schablonenhaft gehandhabt wird. Man versetze sich in die Lage eines solchen
Verletzten, der aus der ärztlichen Behandlung einstweilen entlassen ist. Er be¬
zieht eine kleine Rente von der Berufsgenossenschaft, hat vielleicht noch gar


Zur Unfallversicherung der Arbeiter

sie nach Möglichkeit bestrebt sind, solche ärztliche Gutachten herbeizuführen, und
zu diesem Zwecke die Verletzten einer fortgesetzten Kontrolle unterwerfen. Sie
haben als treue Verwalter die Pflicht, in der Bewilligung der Renten nicht
über das Maß hinauszugehn, das gesetzlich dafür vorgeschrieben ist, und es
läßt sich auch nicht verkennen, daß sie gerade durch die Neutenherabsetzungen
große Ersparnisse sür ihre Berufsgenossenschaften herbeigeführt haben.

Es fragt sich nur, ob die Herabsetzungen, wenn sich auch vom gesetzlichen
Standpunkte gegen ihre gegenwärtige Handhabung nichts einwenden läßt, auch
immer der Billigkeit und den Interessen der Allgenieinheit entsprechen, und
ob es nicht angebracht wäre, bei einer Revision des Gesetzes auch die Bestim¬
mungen des Z 65 abzuändern.

Drei Erwägungen verdienen hier Beachtung. Erstens können auch die
Ärzte den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit immer nur schätzen, aber
nicht genau wissenschaftlich abmessen. Auch die Ärzte können sich irren, und
wenn auch Fälle, wie der kürzlich in den Zeitungen veröffentlichte, wo drei
Arzte einen Verletzten einstimmig für einen Simulanten gehalten hatten, und
sich nun nach Jahren herausgestellt hat, daß er an traumatischer Neurose,
einer durch äußere Verletzung hervorgernfncn schweren Nervenerkrankung leidet,
zum Glück zu deu Ausnahmen gehören, so fallen doch die Untersuchungen
bei verschiednen Ärzten immer verschieden aus, und selbst für einen Arzt, der
i» der Abschätzung der Arbeitsfähigkeit vou Unfallverletzten große Erfahrung
hat, wird es schwer sein, zu entscheiden, ob ein Patient zu fünfzig oder sechzig,
zu zwanzig oder fünfundzwanzig Prozent erwerbsfähig sei. Der Arzt kann
vielleicht bei einer spätern Untersuchung gegen eine frühere eine kleine Besse¬
rung feststellen. Die Besserung liegt unzweifelhaft vor, und sie läßt sich auch
vielleicht an sich mit einiger Sicherheit in Prozenten der vollen Erwerbsfähig¬
st abschätzen. Aber ihr relatives Maß ist so klein, daß es noch innerhalb
der Fehlergrenze liegt, innerhalb deren bei der ersten Untersuchung eine Unter¬
scheidung nicht mehr möglich war. Vielleicht hat der Verletzte erst jetzt den
Grad von Erwerbsfähigkeit erreicht, der damals irrtümlich etwas zu hoch ge¬
griffen war. Also warte man doch lieber mit der Neufeststellung der Rente,
bis die Besserung solche Fortschritte gemacht hat, daß man, ohne auf die Er¬
gebnisse der frühern Untersuchung zurückgreife!? zu müsse», zu wesentlich andern
Ergebnissen als damals gelangt.

Schlimmer aber als die Herabsetzung der Rente selbst in den Fällen, wo
sie nach dem Urteil des Arztes vorgenommen werden kann, ist, daß man bei
dem Hernbsetzungsverfahreu nicht immer mit der nötigen Schonung zu Werke
geht, namentlich da nicht, wo die Verwaltung zeutralisirt ist und alles etwas
schablonenhaft gehandhabt wird. Man versetze sich in die Lage eines solchen
Verletzten, der aus der ärztlichen Behandlung einstweilen entlassen ist. Er be¬
zieht eine kleine Rente von der Berufsgenossenschaft, hat vielleicht noch gar


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[0493] Zur Unfallversicherung der Arbeiter sie nach Möglichkeit bestrebt sind, solche ärztliche Gutachten herbeizuführen, und zu diesem Zwecke die Verletzten einer fortgesetzten Kontrolle unterwerfen. Sie haben als treue Verwalter die Pflicht, in der Bewilligung der Renten nicht über das Maß hinauszugehn, das gesetzlich dafür vorgeschrieben ist, und es läßt sich auch nicht verkennen, daß sie gerade durch die Neutenherabsetzungen große Ersparnisse sür ihre Berufsgenossenschaften herbeigeführt haben. Es fragt sich nur, ob die Herabsetzungen, wenn sich auch vom gesetzlichen Standpunkte gegen ihre gegenwärtige Handhabung nichts einwenden läßt, auch immer der Billigkeit und den Interessen der Allgenieinheit entsprechen, und ob es nicht angebracht wäre, bei einer Revision des Gesetzes auch die Bestim¬ mungen des Z 65 abzuändern. Drei Erwägungen verdienen hier Beachtung. Erstens können auch die Ärzte den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit immer nur schätzen, aber nicht genau wissenschaftlich abmessen. Auch die Ärzte können sich irren, und wenn auch Fälle, wie der kürzlich in den Zeitungen veröffentlichte, wo drei Arzte einen Verletzten einstimmig für einen Simulanten gehalten hatten, und sich nun nach Jahren herausgestellt hat, daß er an traumatischer Neurose, einer durch äußere Verletzung hervorgernfncn schweren Nervenerkrankung leidet, zum Glück zu deu Ausnahmen gehören, so fallen doch die Untersuchungen bei verschiednen Ärzten immer verschieden aus, und selbst für einen Arzt, der i» der Abschätzung der Arbeitsfähigkeit vou Unfallverletzten große Erfahrung hat, wird es schwer sein, zu entscheiden, ob ein Patient zu fünfzig oder sechzig, zu zwanzig oder fünfundzwanzig Prozent erwerbsfähig sei. Der Arzt kann vielleicht bei einer spätern Untersuchung gegen eine frühere eine kleine Besse¬ rung feststellen. Die Besserung liegt unzweifelhaft vor, und sie läßt sich auch vielleicht an sich mit einiger Sicherheit in Prozenten der vollen Erwerbsfähig¬ st abschätzen. Aber ihr relatives Maß ist so klein, daß es noch innerhalb der Fehlergrenze liegt, innerhalb deren bei der ersten Untersuchung eine Unter¬ scheidung nicht mehr möglich war. Vielleicht hat der Verletzte erst jetzt den Grad von Erwerbsfähigkeit erreicht, der damals irrtümlich etwas zu hoch ge¬ griffen war. Also warte man doch lieber mit der Neufeststellung der Rente, bis die Besserung solche Fortschritte gemacht hat, daß man, ohne auf die Er¬ gebnisse der frühern Untersuchung zurückgreife!? zu müsse», zu wesentlich andern Ergebnissen als damals gelangt. Schlimmer aber als die Herabsetzung der Rente selbst in den Fällen, wo sie nach dem Urteil des Arztes vorgenommen werden kann, ist, daß man bei dem Hernbsetzungsverfahreu nicht immer mit der nötigen Schonung zu Werke geht, namentlich da nicht, wo die Verwaltung zeutralisirt ist und alles etwas schablonenhaft gehandhabt wird. Man versetze sich in die Lage eines solchen Verletzten, der aus der ärztlichen Behandlung einstweilen entlassen ist. Er be¬ zieht eine kleine Rente von der Berufsgenossenschaft, hat vielleicht noch gar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/493>, abgerufen am 08.01.2025.