Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land

veralten Kaiser die berechtigten Verschiedenheiten der Landschaften und Pro¬
vinzen zu wahren und dafür zu sorgen, daß ihnen die Gesetzgebung gerecht
werde, so würden sie notwendig und der Idee nach in die Reichsverfassung
hineingehören. Das ist aber nicht der Fall; die Einzelstaaten decken sich keines¬
wegs mit den Stämmen. Nicht bloß das große Preußen, sondern auch Vaiern
und Baden vereinigen Menschen verschiednen Stammes. Die Grenzen namentlich
der allerkleinsten Staaten sind nicht von irgend einer innern Notwendigkeit,
nicht vom Volksbedürfnis gezogen worden, sondern nach den Grundsätzen des
privaten Eigentumserwerbs sind die Gebiete dieser Staaten durch Vererbung
und Erbteilung, durch Kauf, Verkauf und Verpfändung, durch Tauschgeschäfte
und Prozesse, durch Kriege und Fehden bald vergrößert bald verkleinert und
willkürlich zerstückt worden ohne Rücksicht auf die darin wohnenden Menschen,
bis sie endlich, rein zufällig, ihre heutige Gestalt und ihren gegenwärtigen
Umfang erhalten haben. Wenn es daher auch mit Rücksicht auf die in
den Jahren 1866 und 1870 obwaltenden Umstände ein Akt hoher politischer
Weisheit war, das deutsche Reich auf keine andre Weise zu gründen als in
der Form eines Vertrages zwischen den damals zufällig vorhandnen Fürsten,
so darf doch dem deutschen Volke das Bewußtsein nicht abhanden kommen,
daß die vor der Hand allein mögliche Art seiner Einigung weder seinem
Einigungsbedürfnis noch seinem Anspruch auf die Wahrung seiner Stmnmes-
verschicdenheiten in den die Sicherheit und das Gedeihen des Ganzen nicht
berührenden Dingen hinlänglich gerecht wird. Aus diesen begründeten An¬
sprüchen des Volkes heraus ist das Ideal zu schöpfen, dem die zukünftige
Fortentwicklung des Reichs zuzustreben hat. Die Freunde des Staats dürsen
niemals vergessen, daß es keine größere Gefahr für diesen giebt, als wenn
er und das Volk auseinanderfallen. Fehlt dabei dem Volke das Selbst¬
bewußtsein, dann ist der Staat ohnmächtig, und ein Sturm wirft ihn über
den Haufen; fo erging es den deutschen Staaten um das Jahr 1800.
Erwacht aber das Volk zum Bewußtsein, so organisirt es sich gegen den
ihm fremd oder gar zum Feinde gewordnen Staat, wie Schmidt-Warneck
mit Beziehung auf die Sozialdemokratie in der beachtenswerten Schrift "Was
fordert die Menschennatur vom Staate?" (Vraunschweig, Grüneberg, 1890)
ausführt.

Noch mehr als das Volk scheint das Land den Blicken der modernen
Staatsrechtslehre zu entschwinden. Selbstverständlich versäumt es keiner zu
sagen, daß, wie Trieps sich ausdrückt, "Land und Leute die thatsächlichen
Unterlagen jedes Staates sind," und Hänel definirt den Staat als Gebiets¬
körperschaft.' Allein der Bedeutung des Landes für Volk und Staat wird
keiner gerecht. Seite 120 und 121 zählt Huret die Elemente des Staats auf
und sagt in Beziehung auf das Land: "Endlich ist das Gebiet des Staates
ein seine Struktur bedingendes ^ und bestimmendes Element. Seine recht-


Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land

veralten Kaiser die berechtigten Verschiedenheiten der Landschaften und Pro¬
vinzen zu wahren und dafür zu sorgen, daß ihnen die Gesetzgebung gerecht
werde, so würden sie notwendig und der Idee nach in die Reichsverfassung
hineingehören. Das ist aber nicht der Fall; die Einzelstaaten decken sich keines¬
wegs mit den Stämmen. Nicht bloß das große Preußen, sondern auch Vaiern
und Baden vereinigen Menschen verschiednen Stammes. Die Grenzen namentlich
der allerkleinsten Staaten sind nicht von irgend einer innern Notwendigkeit,
nicht vom Volksbedürfnis gezogen worden, sondern nach den Grundsätzen des
privaten Eigentumserwerbs sind die Gebiete dieser Staaten durch Vererbung
und Erbteilung, durch Kauf, Verkauf und Verpfändung, durch Tauschgeschäfte
und Prozesse, durch Kriege und Fehden bald vergrößert bald verkleinert und
willkürlich zerstückt worden ohne Rücksicht auf die darin wohnenden Menschen,
bis sie endlich, rein zufällig, ihre heutige Gestalt und ihren gegenwärtigen
Umfang erhalten haben. Wenn es daher auch mit Rücksicht auf die in
den Jahren 1866 und 1870 obwaltenden Umstände ein Akt hoher politischer
Weisheit war, das deutsche Reich auf keine andre Weise zu gründen als in
der Form eines Vertrages zwischen den damals zufällig vorhandnen Fürsten,
so darf doch dem deutschen Volke das Bewußtsein nicht abhanden kommen,
daß die vor der Hand allein mögliche Art seiner Einigung weder seinem
Einigungsbedürfnis noch seinem Anspruch auf die Wahrung seiner Stmnmes-
verschicdenheiten in den die Sicherheit und das Gedeihen des Ganzen nicht
berührenden Dingen hinlänglich gerecht wird. Aus diesen begründeten An¬
sprüchen des Volkes heraus ist das Ideal zu schöpfen, dem die zukünftige
Fortentwicklung des Reichs zuzustreben hat. Die Freunde des Staats dürsen
niemals vergessen, daß es keine größere Gefahr für diesen giebt, als wenn
er und das Volk auseinanderfallen. Fehlt dabei dem Volke das Selbst¬
bewußtsein, dann ist der Staat ohnmächtig, und ein Sturm wirft ihn über
den Haufen; fo erging es den deutschen Staaten um das Jahr 1800.
Erwacht aber das Volk zum Bewußtsein, so organisirt es sich gegen den
ihm fremd oder gar zum Feinde gewordnen Staat, wie Schmidt-Warneck
mit Beziehung auf die Sozialdemokratie in der beachtenswerten Schrift „Was
fordert die Menschennatur vom Staate?" (Vraunschweig, Grüneberg, 1890)
ausführt.

Noch mehr als das Volk scheint das Land den Blicken der modernen
Staatsrechtslehre zu entschwinden. Selbstverständlich versäumt es keiner zu
sagen, daß, wie Trieps sich ausdrückt, „Land und Leute die thatsächlichen
Unterlagen jedes Staates sind," und Hänel definirt den Staat als Gebiets¬
körperschaft.' Allein der Bedeutung des Landes für Volk und Staat wird
keiner gerecht. Seite 120 und 121 zählt Huret die Elemente des Staats auf
und sagt in Beziehung auf das Land: „Endlich ist das Gebiet des Staates
ein seine Struktur bedingendes ^ und bestimmendes Element. Seine recht-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0468" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212944"/>
          <fw type="header" place="top"> Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1564" prev="#ID_1563"> veralten Kaiser die berechtigten Verschiedenheiten der Landschaften und Pro¬<lb/>
vinzen zu wahren und dafür zu sorgen, daß ihnen die Gesetzgebung gerecht<lb/>
werde, so würden sie notwendig und der Idee nach in die Reichsverfassung<lb/>
hineingehören. Das ist aber nicht der Fall; die Einzelstaaten decken sich keines¬<lb/>
wegs mit den Stämmen. Nicht bloß das große Preußen, sondern auch Vaiern<lb/>
und Baden vereinigen Menschen verschiednen Stammes. Die Grenzen namentlich<lb/>
der allerkleinsten Staaten sind nicht von irgend einer innern Notwendigkeit,<lb/>
nicht vom Volksbedürfnis gezogen worden, sondern nach den Grundsätzen des<lb/>
privaten Eigentumserwerbs sind die Gebiete dieser Staaten durch Vererbung<lb/>
und Erbteilung, durch Kauf, Verkauf und Verpfändung, durch Tauschgeschäfte<lb/>
und Prozesse, durch Kriege und Fehden bald vergrößert bald verkleinert und<lb/>
willkürlich zerstückt worden ohne Rücksicht auf die darin wohnenden Menschen,<lb/>
bis sie endlich, rein zufällig, ihre heutige Gestalt und ihren gegenwärtigen<lb/>
Umfang erhalten haben. Wenn es daher auch mit Rücksicht auf die in<lb/>
den Jahren 1866 und 1870 obwaltenden Umstände ein Akt hoher politischer<lb/>
Weisheit war, das deutsche Reich auf keine andre Weise zu gründen als in<lb/>
der Form eines Vertrages zwischen den damals zufällig vorhandnen Fürsten,<lb/>
so darf doch dem deutschen Volke das Bewußtsein nicht abhanden kommen,<lb/>
daß die vor der Hand allein mögliche Art seiner Einigung weder seinem<lb/>
Einigungsbedürfnis noch seinem Anspruch auf die Wahrung seiner Stmnmes-<lb/>
verschicdenheiten in den die Sicherheit und das Gedeihen des Ganzen nicht<lb/>
berührenden Dingen hinlänglich gerecht wird. Aus diesen begründeten An¬<lb/>
sprüchen des Volkes heraus ist das Ideal zu schöpfen, dem die zukünftige<lb/>
Fortentwicklung des Reichs zuzustreben hat. Die Freunde des Staats dürsen<lb/>
niemals vergessen, daß es keine größere Gefahr für diesen giebt, als wenn<lb/>
er und das Volk auseinanderfallen. Fehlt dabei dem Volke das Selbst¬<lb/>
bewußtsein, dann ist der Staat ohnmächtig, und ein Sturm wirft ihn über<lb/>
den Haufen; fo erging es den deutschen Staaten um das Jahr 1800.<lb/>
Erwacht aber das Volk zum Bewußtsein, so organisirt es sich gegen den<lb/>
ihm fremd oder gar zum Feinde gewordnen Staat, wie Schmidt-Warneck<lb/>
mit Beziehung auf die Sozialdemokratie in der beachtenswerten Schrift &#x201E;Was<lb/>
fordert die Menschennatur vom Staate?" (Vraunschweig, Grüneberg, 1890)<lb/>
ausführt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1565" next="#ID_1566"> Noch mehr als das Volk scheint das Land den Blicken der modernen<lb/>
Staatsrechtslehre zu entschwinden. Selbstverständlich versäumt es keiner zu<lb/>
sagen, daß, wie Trieps sich ausdrückt, &#x201E;Land und Leute die thatsächlichen<lb/>
Unterlagen jedes Staates sind," und Hänel definirt den Staat als Gebiets¬<lb/>
körperschaft.' Allein der Bedeutung des Landes für Volk und Staat wird<lb/>
keiner gerecht. Seite 120 und 121 zählt Huret die Elemente des Staats auf<lb/>
und sagt in Beziehung auf das Land: &#x201E;Endlich ist das Gebiet des Staates<lb/>
ein seine Struktur bedingendes ^ und bestimmendes Element.  Seine recht-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0468] Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land veralten Kaiser die berechtigten Verschiedenheiten der Landschaften und Pro¬ vinzen zu wahren und dafür zu sorgen, daß ihnen die Gesetzgebung gerecht werde, so würden sie notwendig und der Idee nach in die Reichsverfassung hineingehören. Das ist aber nicht der Fall; die Einzelstaaten decken sich keines¬ wegs mit den Stämmen. Nicht bloß das große Preußen, sondern auch Vaiern und Baden vereinigen Menschen verschiednen Stammes. Die Grenzen namentlich der allerkleinsten Staaten sind nicht von irgend einer innern Notwendigkeit, nicht vom Volksbedürfnis gezogen worden, sondern nach den Grundsätzen des privaten Eigentumserwerbs sind die Gebiete dieser Staaten durch Vererbung und Erbteilung, durch Kauf, Verkauf und Verpfändung, durch Tauschgeschäfte und Prozesse, durch Kriege und Fehden bald vergrößert bald verkleinert und willkürlich zerstückt worden ohne Rücksicht auf die darin wohnenden Menschen, bis sie endlich, rein zufällig, ihre heutige Gestalt und ihren gegenwärtigen Umfang erhalten haben. Wenn es daher auch mit Rücksicht auf die in den Jahren 1866 und 1870 obwaltenden Umstände ein Akt hoher politischer Weisheit war, das deutsche Reich auf keine andre Weise zu gründen als in der Form eines Vertrages zwischen den damals zufällig vorhandnen Fürsten, so darf doch dem deutschen Volke das Bewußtsein nicht abhanden kommen, daß die vor der Hand allein mögliche Art seiner Einigung weder seinem Einigungsbedürfnis noch seinem Anspruch auf die Wahrung seiner Stmnmes- verschicdenheiten in den die Sicherheit und das Gedeihen des Ganzen nicht berührenden Dingen hinlänglich gerecht wird. Aus diesen begründeten An¬ sprüchen des Volkes heraus ist das Ideal zu schöpfen, dem die zukünftige Fortentwicklung des Reichs zuzustreben hat. Die Freunde des Staats dürsen niemals vergessen, daß es keine größere Gefahr für diesen giebt, als wenn er und das Volk auseinanderfallen. Fehlt dabei dem Volke das Selbst¬ bewußtsein, dann ist der Staat ohnmächtig, und ein Sturm wirft ihn über den Haufen; fo erging es den deutschen Staaten um das Jahr 1800. Erwacht aber das Volk zum Bewußtsein, so organisirt es sich gegen den ihm fremd oder gar zum Feinde gewordnen Staat, wie Schmidt-Warneck mit Beziehung auf die Sozialdemokratie in der beachtenswerten Schrift „Was fordert die Menschennatur vom Staate?" (Vraunschweig, Grüneberg, 1890) ausführt. Noch mehr als das Volk scheint das Land den Blicken der modernen Staatsrechtslehre zu entschwinden. Selbstverständlich versäumt es keiner zu sagen, daß, wie Trieps sich ausdrückt, „Land und Leute die thatsächlichen Unterlagen jedes Staates sind," und Hänel definirt den Staat als Gebiets¬ körperschaft.' Allein der Bedeutung des Landes für Volk und Staat wird keiner gerecht. Seite 120 und 121 zählt Huret die Elemente des Staats auf und sagt in Beziehung auf das Land: „Endlich ist das Gebiet des Staates ein seine Struktur bedingendes ^ und bestimmendes Element. Seine recht-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/468
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/468>, abgerufen am 08.01.2025.