Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land lich gelungen ist, dem Volte sein Bewußtsein von sich selber zu nehmen und Wir sind also mit Hänel der Ansicht, daß es nur eine wirkliche Sou¬ Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land lich gelungen ist, dem Volte sein Bewußtsein von sich selber zu nehmen und Wir sind also mit Hänel der Ansicht, daß es nur eine wirkliche Sou¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0467" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212943"/> <fw type="header" place="top"> Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land</fw><lb/> <p xml:id="ID_1562" prev="#ID_1561"> lich gelungen ist, dem Volte sein Bewußtsein von sich selber zu nehmen und<lb/> damit auch den Volkswillcn zu vernichten, so muß unser Volk jetzt an der<lb/> Erkenntnis seiner Bedürfnisse wieder wollen lernen. Das deutsche Volk will<lb/> also gleich jedem andern Volke, oder hat zu wollen: Unabhängigkeit vom Aus¬<lb/> lande, Einrichtungen, die ihm die volle Ausnutzung seiner Bodenschätze, seiner<lb/> eignen körperlichen und geistigen Kräfte zur Befriedigung seiner leiblichen und<lb/> geistigen Bedürfnisse ermöglichen, die seiner Eigenart entsprechende Kultur und<lb/> Lebensweise, so viel Anteil an der Beherrschung des Erdballs, als zur Be¬<lb/> friedigung seiner Bedürfnisse nötig ist. Diese Leistungen, die das deutsche<lb/> Volk fordern muß, kaun auf die Dauer nur ein souveränes Zentralorgan über¬<lb/> nehmen, von dem es an sich gleichgiltig ist, ob es König von Preußen oder<lb/> deutscher Kaiser heißt, das aber unbedingt eine einzelne Person sein muß. Die<lb/> „verbündeten Regierungen" sind nur unter der Voraussetzung ein weniger un¬<lb/> taugliches Organ, als der alte Bundestag war, daß der Kaiser, der im König<lb/> von Preußen steckt, bei wichtigen Entscheidungen niemals überstimmt wird,<lb/> und diese Voraussetzung ist nur dann vorhanden, wenn entweder eine über¬<lb/> legne Persönlichkeit, mag es nun der Kaiser selbst oder ein Bismarck als Kanzler<lb/> sein, jeden Widerstand der übrigen Bundesglieder beugt und bricht, oder wenn<lb/> die deutschen Fürsten Einsicht und Patriotismus genug haben, ihr Stimm¬<lb/> recht nie im Interesse ihrer Teilsouveränität zu gebrauchen, sondern diese dem<lb/> Gemeinwohl unbedingt unterzuordnen. Andernfalls ist nicht einmal in der<lb/> Kriegsgefahr die Einheit gesichert, denn in Artikel 11 der Reichsverfassung<lb/> heißt es: „Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustim¬<lb/> mung des Bundesrath erforderlich, es sei denn, daß ein Angriff auf das<lb/> Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt." Wie, wenn die Fürsten der Mittel-<lb/> und Kleinstaaten sagen: Preußen hat den Angriff herausgefordert, es mag ihn<lb/> allein abwehren? Und ist denn der Fall undenkbar, daß das deutsche Volk einmal<lb/> gezwungen würde, um seiner Selbsterhaltung willen einen Angriffskrieg zu<lb/> führen?</p><lb/> <p xml:id="ID_1563" next="#ID_1564"> Wir sind also mit Hänel der Ansicht, daß es nur eine wirkliche Sou¬<lb/> veränität im Reiche geben darf, die des Kaisers. Aber das deutsche Volk<lb/> ist keine ganz gleichartige Masse. Seine Verzweigung in Stämme gehört zu<lb/> seinem Wesen, und auf die Erhaltung dieses Wesens hat es einen Anspruch;<lb/> es würde sich selbst aufgeben, würde sich bereit erklären, ein andres Volk zu<lb/> werden, wenn es diesen Anspruch aufgeben sollte. Der fränkische Bauer hat<lb/> ein andres Erbrecht als der sächsische, der Oberbaier, der Rheinfranke, der<lb/> Alamanne haben ein andres Temperament und eine andre Art, sich zu Ver¬<lb/> gnügen, als der schwerfällige Bewohner der nördlichen Küsten, dazu kommen<lb/> die konfessionellen Unterschiede und mancherlei Verschiedenheiten der Lebens¬<lb/> weise, die in der verschiednen Beschaffenheit der deutschen Landschaften wurzeln.<lb/> Wären nun die deutschen Fürsten Stammesherzöge, berufen, unter dem sou-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0467]
Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land
lich gelungen ist, dem Volte sein Bewußtsein von sich selber zu nehmen und
damit auch den Volkswillcn zu vernichten, so muß unser Volk jetzt an der
Erkenntnis seiner Bedürfnisse wieder wollen lernen. Das deutsche Volk will
also gleich jedem andern Volke, oder hat zu wollen: Unabhängigkeit vom Aus¬
lande, Einrichtungen, die ihm die volle Ausnutzung seiner Bodenschätze, seiner
eignen körperlichen und geistigen Kräfte zur Befriedigung seiner leiblichen und
geistigen Bedürfnisse ermöglichen, die seiner Eigenart entsprechende Kultur und
Lebensweise, so viel Anteil an der Beherrschung des Erdballs, als zur Be¬
friedigung seiner Bedürfnisse nötig ist. Diese Leistungen, die das deutsche
Volk fordern muß, kaun auf die Dauer nur ein souveränes Zentralorgan über¬
nehmen, von dem es an sich gleichgiltig ist, ob es König von Preußen oder
deutscher Kaiser heißt, das aber unbedingt eine einzelne Person sein muß. Die
„verbündeten Regierungen" sind nur unter der Voraussetzung ein weniger un¬
taugliches Organ, als der alte Bundestag war, daß der Kaiser, der im König
von Preußen steckt, bei wichtigen Entscheidungen niemals überstimmt wird,
und diese Voraussetzung ist nur dann vorhanden, wenn entweder eine über¬
legne Persönlichkeit, mag es nun der Kaiser selbst oder ein Bismarck als Kanzler
sein, jeden Widerstand der übrigen Bundesglieder beugt und bricht, oder wenn
die deutschen Fürsten Einsicht und Patriotismus genug haben, ihr Stimm¬
recht nie im Interesse ihrer Teilsouveränität zu gebrauchen, sondern diese dem
Gemeinwohl unbedingt unterzuordnen. Andernfalls ist nicht einmal in der
Kriegsgefahr die Einheit gesichert, denn in Artikel 11 der Reichsverfassung
heißt es: „Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustim¬
mung des Bundesrath erforderlich, es sei denn, daß ein Angriff auf das
Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt." Wie, wenn die Fürsten der Mittel-
und Kleinstaaten sagen: Preußen hat den Angriff herausgefordert, es mag ihn
allein abwehren? Und ist denn der Fall undenkbar, daß das deutsche Volk einmal
gezwungen würde, um seiner Selbsterhaltung willen einen Angriffskrieg zu
führen?
Wir sind also mit Hänel der Ansicht, daß es nur eine wirkliche Sou¬
veränität im Reiche geben darf, die des Kaisers. Aber das deutsche Volk
ist keine ganz gleichartige Masse. Seine Verzweigung in Stämme gehört zu
seinem Wesen, und auf die Erhaltung dieses Wesens hat es einen Anspruch;
es würde sich selbst aufgeben, würde sich bereit erklären, ein andres Volk zu
werden, wenn es diesen Anspruch aufgeben sollte. Der fränkische Bauer hat
ein andres Erbrecht als der sächsische, der Oberbaier, der Rheinfranke, der
Alamanne haben ein andres Temperament und eine andre Art, sich zu Ver¬
gnügen, als der schwerfällige Bewohner der nördlichen Küsten, dazu kommen
die konfessionellen Unterschiede und mancherlei Verschiedenheiten der Lebens¬
weise, die in der verschiednen Beschaffenheit der deutschen Landschaften wurzeln.
Wären nun die deutschen Fürsten Stammesherzöge, berufen, unter dem sou-
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