Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land Jeder von den wechselnden Erscheinungen der Wirklichkeit abgezogne Be¬ Von den beiden vorliegenden Werken läßt sich nun zwar soviel sagen, Grenzboten III 18S2 58
Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land Jeder von den wechselnden Erscheinungen der Wirklichkeit abgezogne Be¬ Von den beiden vorliegenden Werken läßt sich nun zwar soviel sagen, Grenzboten III 18S2 58
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0465" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212941"/> <fw type="header" place="top"> Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land</fw><lb/> <p xml:id="ID_1558"> Jeder von den wechselnden Erscheinungen der Wirklichkeit abgezogne Be¬<lb/> griff des praktischen Lebens fordert zu seiner Ergänzung eine Idee, die dem<lb/> schwankenden Begriff als ein festes Musterbild gegenüber steht, dessen Ver¬<lb/> wirklichung alle Änderungen anzustreben haben. Wenn wir nun finden, daß<lb/> bei jeder Staatenschöpfung zwei Mächte zusammenwirken, ein Volk und eine<lb/> Dynastie, oder eine Aristokratie, oder ein genialer Mann, oder ein revolutio¬<lb/> närer Haufen, der dem dunkeln Sehnen der Menge zur Klarheit und ihren<lb/> vereinzelten Bestrebungen durch Einigung zur Macht verhilft, so erkennen wir<lb/> daraus, daß im Staatsideal dem Volke seine bestimmte Stelle angewiesen<lb/> werden muß, und daß mau sich nicht damit begnügen darf, es nur so nebenbei<lb/> und gelegentlich zu erwähnen. Namentlich über die Streitfrage nach dem<lb/> Verhältnis der Einzelstaaten zur Zentralgewalt, die den Angelpunkt aller ver-<lb/> schiednen Auffassungen des deutschen Staatsrechts bildet, wird man niemals<lb/> ins reine kommen, wenn man nicht untersucht, was das Volk braucht und,<lb/> wenn auch nur unklar, erstrebt. Wie das Verhältnis im Augenblick ist, das<lb/> sagt ja die Reichsverfassung. Aber wenn wir auch weit entfernt davon sind,<lb/> an ihr rütteln und sie ändern zu wollen, so kann sie doch so wenig wie irgend<lb/> ein andres irdisches Wesen unverändert bleiben, und die Richtung, nach der<lb/> hin sie sich verändert, hängt von dem Verfasfungsideal ab, das den leitenden<lb/> Kreisen vorschwebt. Je nachdem dieses partikularistisch oder zentralistisch aus¬<lb/> sieht, wird in jedem einzelnen Streitfalle die Verfassung ausgelegt, und jede<lb/> solche Auslegung begründet ein Gewohnheitsrecht, wodurch die Verfassung ganz<lb/> leise und allmählich in dem einen oder dem andern Sinne umgebildet wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1559" next="#ID_1560"> Von den beiden vorliegenden Werken läßt sich nun zwar soviel sagen,<lb/> daß das Hänelsche mehr dem Einheitsstaate und das von Trieps mehr dem<lb/> Staatenbunde zuneigt, aber ein Ideal stellen sie nicht auf, durften sie vielleicht<lb/> auch nicht aufstellen, weil dann den Verfassern der Vorwurf hätte gemacht<lb/> werden können, daß sie statt wissenschaftlicher Werke Parteischriften geliefert<lb/> hätten. Aber das Volk kann eines Ideals nicht entbehren. Auf die gegen¬<lb/> wärtige Stufe unsers Staatslebens sind wir mit Hilfe von zwei Idealen ge¬<lb/> langt: dem großdeutscheu und dem großpreußischen, die einander so lange be¬<lb/> kämpften, bis es sich zeigte, daß das zweite von der Vorsehung als Werkzeug<lb/> ausersehen sei, das erste wenigstens teilweise zu verwirklichen. Nun fragt es<lb/> sich, in welchem Sinne der politische Vildungs- und Umbildungsprozeß in<lb/> unserm Baterlande weiter gelenkt werden soll. Gar keine Anhaltspunkte dafür<lb/> bietet Trieps. Wie wenig sich mit seinen vorsichtig gewundnen Sätzen an¬<lb/> fangen läßt, mag folgende Probe zeigen. „Die Teilung der staatlichen Auf¬<lb/> gaben unter mehrere Rechtssubjekte bedingt daher die rechtliche Möglichkeit<lb/> einer zwiefachen Gebietshoheit mit der Maßgabe, daß die Zuständigkeit der<lb/> beiderseitigen Staatsgewalten entscheidend ist, daß in Anwendung auf die vor¬<lb/> liegenden Bundesverhältnisse, die Kompetenzgrenze zwischen Reich und Einzel-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 18S2 58</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0465]
Bundesstaat und Staatenbund; Volk und Land
Jeder von den wechselnden Erscheinungen der Wirklichkeit abgezogne Be¬
griff des praktischen Lebens fordert zu seiner Ergänzung eine Idee, die dem
schwankenden Begriff als ein festes Musterbild gegenüber steht, dessen Ver¬
wirklichung alle Änderungen anzustreben haben. Wenn wir nun finden, daß
bei jeder Staatenschöpfung zwei Mächte zusammenwirken, ein Volk und eine
Dynastie, oder eine Aristokratie, oder ein genialer Mann, oder ein revolutio¬
närer Haufen, der dem dunkeln Sehnen der Menge zur Klarheit und ihren
vereinzelten Bestrebungen durch Einigung zur Macht verhilft, so erkennen wir
daraus, daß im Staatsideal dem Volke seine bestimmte Stelle angewiesen
werden muß, und daß mau sich nicht damit begnügen darf, es nur so nebenbei
und gelegentlich zu erwähnen. Namentlich über die Streitfrage nach dem
Verhältnis der Einzelstaaten zur Zentralgewalt, die den Angelpunkt aller ver-
schiednen Auffassungen des deutschen Staatsrechts bildet, wird man niemals
ins reine kommen, wenn man nicht untersucht, was das Volk braucht und,
wenn auch nur unklar, erstrebt. Wie das Verhältnis im Augenblick ist, das
sagt ja die Reichsverfassung. Aber wenn wir auch weit entfernt davon sind,
an ihr rütteln und sie ändern zu wollen, so kann sie doch so wenig wie irgend
ein andres irdisches Wesen unverändert bleiben, und die Richtung, nach der
hin sie sich verändert, hängt von dem Verfasfungsideal ab, das den leitenden
Kreisen vorschwebt. Je nachdem dieses partikularistisch oder zentralistisch aus¬
sieht, wird in jedem einzelnen Streitfalle die Verfassung ausgelegt, und jede
solche Auslegung begründet ein Gewohnheitsrecht, wodurch die Verfassung ganz
leise und allmählich in dem einen oder dem andern Sinne umgebildet wird.
Von den beiden vorliegenden Werken läßt sich nun zwar soviel sagen,
daß das Hänelsche mehr dem Einheitsstaate und das von Trieps mehr dem
Staatenbunde zuneigt, aber ein Ideal stellen sie nicht auf, durften sie vielleicht
auch nicht aufstellen, weil dann den Verfassern der Vorwurf hätte gemacht
werden können, daß sie statt wissenschaftlicher Werke Parteischriften geliefert
hätten. Aber das Volk kann eines Ideals nicht entbehren. Auf die gegen¬
wärtige Stufe unsers Staatslebens sind wir mit Hilfe von zwei Idealen ge¬
langt: dem großdeutscheu und dem großpreußischen, die einander so lange be¬
kämpften, bis es sich zeigte, daß das zweite von der Vorsehung als Werkzeug
ausersehen sei, das erste wenigstens teilweise zu verwirklichen. Nun fragt es
sich, in welchem Sinne der politische Vildungs- und Umbildungsprozeß in
unserm Baterlande weiter gelenkt werden soll. Gar keine Anhaltspunkte dafür
bietet Trieps. Wie wenig sich mit seinen vorsichtig gewundnen Sätzen an¬
fangen läßt, mag folgende Probe zeigen. „Die Teilung der staatlichen Auf¬
gaben unter mehrere Rechtssubjekte bedingt daher die rechtliche Möglichkeit
einer zwiefachen Gebietshoheit mit der Maßgabe, daß die Zuständigkeit der
beiderseitigen Staatsgewalten entscheidend ist, daß in Anwendung auf die vor¬
liegenden Bundesverhältnisse, die Kompetenzgrenze zwischen Reich und Einzel-
Grenzboten III 18S2 58
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |