Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.es mit einem Volke im Sinne einer national gleichartigen Masse zu thun, Das andre merkwürdige ist nun, daß während es ein Schweizervolk und es mit einem Volke im Sinne einer national gleichartigen Masse zu thun, Das andre merkwürdige ist nun, daß während es ein Schweizervolk und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212939"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1555" prev="#ID_1554"> es mit einem Volke im Sinne einer national gleichartigen Masse zu thun,<lb/> einem Volke, das seit Jahrhunderten sein Land bewohnend und sich dessen<lb/> Besitz durch fleißige Arbeit jahraus jahrein aufs neue verdienend, von vorn¬<lb/> herein wo nicht auf den Einheitsstaat so doch auf den Bundesstaat den aller-<lb/> begründetsten Anspruch hatte. In der Schweiz sehn wir drei Völkerbruchteile,<lb/> deren an einander anstoßende und beim Bau der Großstaaten sozusagen übrig<lb/> gebliebne Landzipfel so günstig gelegen sind, daß sie ihren Bewohnern die<lb/> Macht des Großstaats entbehrlich machen und seine Last ersparen. In Nord¬<lb/> amerika endlich sehn wir einige Millionen englischer Kolonisten, die, mehr<lb/> durch des Mutterlandes Ungeschick als durch eigne Tüchtigkeit unumschränkte<lb/> Herren eines ungeheuern Landes geworden, ein Reich gründen, dessen Glieder<lb/> in Zukunft erst geschaffen werden sollen und nur mit Hilfe eines bunten<lb/> Völkergemisches von Einwanderern geschaffen werden können.</p><lb/> <p xml:id="ID_1556" next="#ID_1557"> Das andre merkwürdige ist nun, daß während es ein Schweizervolk und<lb/> ein nordamerikanisches Volk im nationalen Sinne gar nicht giebt, aber trotzdem<lb/> der Schweizerstaat und die Union im strengsten Sinne des Wortes die organi-<lb/> sirten Bevölkerungen und ihre Verfassungen der Ausdruck ihres Willens sind,<lb/> in Deutschland das unzweifelhaft vorhandne uralte Volk hinter dem Staate<lb/> gänzlich verschwindet. Jahrzehnte hindurch sind die berechtigten Einigungs¬<lb/> bestrebungen unsers Volks von den Regierungen als revolutionär gebrand¬<lb/> markt und bekämpft worden; in der Form eines Vertrags zwischen den Re¬<lb/> gierungen, wenn auch unter dem Drucke der Volkswünsche, wurde dann der<lb/> neue Bundesstaat aufgerichtet, und noch heute stehen die verbündeten Regie¬<lb/> rungen an Macht so hoch über dein Reichstage, daß im Falle eines Konflikts<lb/> der Ausgang keinen Augenblick zweifelhaft sein könnte. Bei den herrschenden<lb/> sozialen Zuständen und bei der geographischen Lage des Reichs inmitten teils<lb/> eifersüchtiger, teils offenbar feindlicher Großmächte ist das ja wohl vor der<lb/> Hand auch das beste, aber das an sich natürliche ist es nicht. In den beiden<lb/> vorliegenden Werken ist es uns aufgefallen, wie ängstlich die Verfasser den<lb/> Namen Volk selbst an solchen Stellen vermeiden, wo er notwendig hingehört.<lb/> S. 92 und W z. B. spricht Hänel von der verschiednen Weise, wie die Über-<lb/> und Unterordnung der Behörden im Staate geregelt sein kann, und unter¬<lb/> scheidet von der absolutistischen Form, wo alle Behörden ihre Vollmacht vom<lb/> Hauptorgan empfangen, die demokratische und die konstitutionell-monarchische,<lb/> wo „wenigstens die dem souveränen Organ untergeordneten Hauptorgmie in<lb/> der nämlichen Weise wie das souveräne Hauptorgan selbst ihre Kompetenz un¬<lb/> mittelbar auf die Verfassung gründen, dergestalt, daß ein rechtliches Verhältnis<lb/> der Ableitung der Kompetenz der einen von der der andern ausgeschlossen ist."<lb/> Aus die Verfassung gründen — ja, aber von wem leiten sie ihre Kompetenz<lb/> ab? Von wem empfangen sie sie? Von der Verfassung doch nicht! Die ist<lb/> eine Regel, nach der abgeleitet und gespendet wird, aber keine Person oder</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0463]
es mit einem Volke im Sinne einer national gleichartigen Masse zu thun,
einem Volke, das seit Jahrhunderten sein Land bewohnend und sich dessen
Besitz durch fleißige Arbeit jahraus jahrein aufs neue verdienend, von vorn¬
herein wo nicht auf den Einheitsstaat so doch auf den Bundesstaat den aller-
begründetsten Anspruch hatte. In der Schweiz sehn wir drei Völkerbruchteile,
deren an einander anstoßende und beim Bau der Großstaaten sozusagen übrig
gebliebne Landzipfel so günstig gelegen sind, daß sie ihren Bewohnern die
Macht des Großstaats entbehrlich machen und seine Last ersparen. In Nord¬
amerika endlich sehn wir einige Millionen englischer Kolonisten, die, mehr
durch des Mutterlandes Ungeschick als durch eigne Tüchtigkeit unumschränkte
Herren eines ungeheuern Landes geworden, ein Reich gründen, dessen Glieder
in Zukunft erst geschaffen werden sollen und nur mit Hilfe eines bunten
Völkergemisches von Einwanderern geschaffen werden können.
Das andre merkwürdige ist nun, daß während es ein Schweizervolk und
ein nordamerikanisches Volk im nationalen Sinne gar nicht giebt, aber trotzdem
der Schweizerstaat und die Union im strengsten Sinne des Wortes die organi-
sirten Bevölkerungen und ihre Verfassungen der Ausdruck ihres Willens sind,
in Deutschland das unzweifelhaft vorhandne uralte Volk hinter dem Staate
gänzlich verschwindet. Jahrzehnte hindurch sind die berechtigten Einigungs¬
bestrebungen unsers Volks von den Regierungen als revolutionär gebrand¬
markt und bekämpft worden; in der Form eines Vertrags zwischen den Re¬
gierungen, wenn auch unter dem Drucke der Volkswünsche, wurde dann der
neue Bundesstaat aufgerichtet, und noch heute stehen die verbündeten Regie¬
rungen an Macht so hoch über dein Reichstage, daß im Falle eines Konflikts
der Ausgang keinen Augenblick zweifelhaft sein könnte. Bei den herrschenden
sozialen Zuständen und bei der geographischen Lage des Reichs inmitten teils
eifersüchtiger, teils offenbar feindlicher Großmächte ist das ja wohl vor der
Hand auch das beste, aber das an sich natürliche ist es nicht. In den beiden
vorliegenden Werken ist es uns aufgefallen, wie ängstlich die Verfasser den
Namen Volk selbst an solchen Stellen vermeiden, wo er notwendig hingehört.
S. 92 und W z. B. spricht Hänel von der verschiednen Weise, wie die Über-
und Unterordnung der Behörden im Staate geregelt sein kann, und unter¬
scheidet von der absolutistischen Form, wo alle Behörden ihre Vollmacht vom
Hauptorgan empfangen, die demokratische und die konstitutionell-monarchische,
wo „wenigstens die dem souveränen Organ untergeordneten Hauptorgmie in
der nämlichen Weise wie das souveräne Hauptorgan selbst ihre Kompetenz un¬
mittelbar auf die Verfassung gründen, dergestalt, daß ein rechtliches Verhältnis
der Ableitung der Kompetenz der einen von der der andern ausgeschlossen ist."
Aus die Verfassung gründen — ja, aber von wem leiten sie ihre Kompetenz
ab? Von wem empfangen sie sie? Von der Verfassung doch nicht! Die ist
eine Regel, nach der abgeleitet und gespendet wird, aber keine Person oder
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