Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

die Arroganz, das Geldprotzentum, die sozial durchaus ungefährlich, den Juden
selbst mehr schaden, als sie die Christen vorübergehend ärgern könnten. Spott,
nicht Haß wäre die richtige Antwort darauf. Den allgemeinen Unwillen gegen
die Juden rufen nicht diese Eigenschaften hervor, sondern die Unsittlichkeit
ihres Erwerbslebens.

Andrerseits ist es bekannt, welchen wohlthätigen Einfluß eine anhaltende
Erziehung ausübt, und wie wunderbar sie oft ererbte Instinkte niederhält. Ich
habe selbst Gelegenheit gehabt, dies in der musterhaft geleiteten Besserungs¬
anstalt für minderjährige Verbrecher in Studzieniec (Russisch-Polen) zu be¬
obachten, wo Söhne von Gewohnheitsdieben und öffentlichen Dirnen zu an¬
ständigen und ehrlichen Menschen erzogen werden. Jeder wissenschaftlich ge¬
bildete Pädagoge, jeder Kenner der Psychologie und jeder Kriminalist wird
mir hierin beipflichten. Die Unterdrückung der Juden in der Vergangenheit,
ihre Ausschließung von Ackerbau und Handwerk, die sie seinerzeit fast aus¬
schließlich zum Gcldleihgeschüft ihre Zuflucht nehmen ließ, die Mißachtung, der
sie überall begegneten, haben die schlechten Eigenschaften des ehemaligen Juden
zweifellos hervorgerufen oder doch wesentlich gefördert, wie dies sowohl Lecky
in seiner Geschichte der Aufklärung als auch Macaulay in seiner Rede über
Judenemanzipation betont. Aber das scheint mir denn doch für die Erklärung
der charakteristischen Merkmale des modernen Juden, der seit hundert Jahren
gleichberechtigt ist und unter dem Einfluß der öffentlichen Schule steht, sowie
zur Erklärung des gerade heute so stark hervorbrechenden Antisemitismus nicht
genügend.

Aber selbst wenn dies mit Hilfe der Rasseneigentümlichkeiten und der Juden-
unterdrücknng der Vergangenheit gelänge, so könnte es doch die Judenfrage
nicht lösen. Die Unsittlichkeit und Verworfenheit einer korrupten Presse, eines
blutsaugerischen Wuchers und eines rücksichtslosen Spekulantentums lassen sich
weder durch religionsphilvsophische noch durch naturwissenschaftliche und völker-
Pshchologische oder historische Untersuchungen aus der Welt schaffen. Es ist
zwar wahr, daß nur der, der die ersten Ursachen des Übels kennt, den Ver¬
such zur Heilung machen darf. Aber die Wissenschaft verfügt noch nicht über
eine ausreichende Theorie der Frage, wir vermögen noch nicht mit völliger
Genauigkeit deu Mangel gewisser sittlicher Eigenschaften aus einer besondern
Rcisfenbildung abzuleiten, ihn mit historischen und religiösen Einflüssen in Ein¬
klang zu bringen, diese Einflüsse genau zu begrenzen und die Gesamterschei¬
nung damit erschöpfend zu erklären. So bleibt uns nur die induktive
Methode der Beobachtung konkreter Fälle. An deren Hand aber gelange ich
zu dem Schlüsse, daß die Rücksichtslosigkeit und Unsittlichkeit des jüdischen
Erwerbslebens, die ich für die einzige berechtigte Ursache des Antisemitismus
halte, nicht der Religion und der Rasse, sondern einer andern Ursache zuzu¬
schreiben ist, nämlich -- der Konfessionslosigkeit und dem Weltbürgertum bei


die Arroganz, das Geldprotzentum, die sozial durchaus ungefährlich, den Juden
selbst mehr schaden, als sie die Christen vorübergehend ärgern könnten. Spott,
nicht Haß wäre die richtige Antwort darauf. Den allgemeinen Unwillen gegen
die Juden rufen nicht diese Eigenschaften hervor, sondern die Unsittlichkeit
ihres Erwerbslebens.

Andrerseits ist es bekannt, welchen wohlthätigen Einfluß eine anhaltende
Erziehung ausübt, und wie wunderbar sie oft ererbte Instinkte niederhält. Ich
habe selbst Gelegenheit gehabt, dies in der musterhaft geleiteten Besserungs¬
anstalt für minderjährige Verbrecher in Studzieniec (Russisch-Polen) zu be¬
obachten, wo Söhne von Gewohnheitsdieben und öffentlichen Dirnen zu an¬
ständigen und ehrlichen Menschen erzogen werden. Jeder wissenschaftlich ge¬
bildete Pädagoge, jeder Kenner der Psychologie und jeder Kriminalist wird
mir hierin beipflichten. Die Unterdrückung der Juden in der Vergangenheit,
ihre Ausschließung von Ackerbau und Handwerk, die sie seinerzeit fast aus¬
schließlich zum Gcldleihgeschüft ihre Zuflucht nehmen ließ, die Mißachtung, der
sie überall begegneten, haben die schlechten Eigenschaften des ehemaligen Juden
zweifellos hervorgerufen oder doch wesentlich gefördert, wie dies sowohl Lecky
in seiner Geschichte der Aufklärung als auch Macaulay in seiner Rede über
Judenemanzipation betont. Aber das scheint mir denn doch für die Erklärung
der charakteristischen Merkmale des modernen Juden, der seit hundert Jahren
gleichberechtigt ist und unter dem Einfluß der öffentlichen Schule steht, sowie
zur Erklärung des gerade heute so stark hervorbrechenden Antisemitismus nicht
genügend.

Aber selbst wenn dies mit Hilfe der Rasseneigentümlichkeiten und der Juden-
unterdrücknng der Vergangenheit gelänge, so könnte es doch die Judenfrage
nicht lösen. Die Unsittlichkeit und Verworfenheit einer korrupten Presse, eines
blutsaugerischen Wuchers und eines rücksichtslosen Spekulantentums lassen sich
weder durch religionsphilvsophische noch durch naturwissenschaftliche und völker-
Pshchologische oder historische Untersuchungen aus der Welt schaffen. Es ist
zwar wahr, daß nur der, der die ersten Ursachen des Übels kennt, den Ver¬
such zur Heilung machen darf. Aber die Wissenschaft verfügt noch nicht über
eine ausreichende Theorie der Frage, wir vermögen noch nicht mit völliger
Genauigkeit deu Mangel gewisser sittlicher Eigenschaften aus einer besondern
Rcisfenbildung abzuleiten, ihn mit historischen und religiösen Einflüssen in Ein¬
klang zu bringen, diese Einflüsse genau zu begrenzen und die Gesamterschei¬
nung damit erschöpfend zu erklären. So bleibt uns nur die induktive
Methode der Beobachtung konkreter Fälle. An deren Hand aber gelange ich
zu dem Schlüsse, daß die Rücksichtslosigkeit und Unsittlichkeit des jüdischen
Erwerbslebens, die ich für die einzige berechtigte Ursache des Antisemitismus
halte, nicht der Religion und der Rasse, sondern einer andern Ursache zuzu¬
schreiben ist, nämlich — der Konfessionslosigkeit und dem Weltbürgertum bei


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212935"/>
          <p xml:id="ID_1542" prev="#ID_1541"> die Arroganz, das Geldprotzentum, die sozial durchaus ungefährlich, den Juden<lb/>
selbst mehr schaden, als sie die Christen vorübergehend ärgern könnten. Spott,<lb/>
nicht Haß wäre die richtige Antwort darauf. Den allgemeinen Unwillen gegen<lb/>
die Juden rufen nicht diese Eigenschaften hervor, sondern die Unsittlichkeit<lb/>
ihres Erwerbslebens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1543"> Andrerseits ist es bekannt, welchen wohlthätigen Einfluß eine anhaltende<lb/>
Erziehung ausübt, und wie wunderbar sie oft ererbte Instinkte niederhält. Ich<lb/>
habe selbst Gelegenheit gehabt, dies in der musterhaft geleiteten Besserungs¬<lb/>
anstalt für minderjährige Verbrecher in Studzieniec (Russisch-Polen) zu be¬<lb/>
obachten, wo Söhne von Gewohnheitsdieben und öffentlichen Dirnen zu an¬<lb/>
ständigen und ehrlichen Menschen erzogen werden. Jeder wissenschaftlich ge¬<lb/>
bildete Pädagoge, jeder Kenner der Psychologie und jeder Kriminalist wird<lb/>
mir hierin beipflichten. Die Unterdrückung der Juden in der Vergangenheit,<lb/>
ihre Ausschließung von Ackerbau und Handwerk, die sie seinerzeit fast aus¬<lb/>
schließlich zum Gcldleihgeschüft ihre Zuflucht nehmen ließ, die Mißachtung, der<lb/>
sie überall begegneten, haben die schlechten Eigenschaften des ehemaligen Juden<lb/>
zweifellos hervorgerufen oder doch wesentlich gefördert, wie dies sowohl Lecky<lb/>
in seiner Geschichte der Aufklärung als auch Macaulay in seiner Rede über<lb/>
Judenemanzipation betont. Aber das scheint mir denn doch für die Erklärung<lb/>
der charakteristischen Merkmale des modernen Juden, der seit hundert Jahren<lb/>
gleichberechtigt ist und unter dem Einfluß der öffentlichen Schule steht, sowie<lb/>
zur Erklärung des gerade heute so stark hervorbrechenden Antisemitismus nicht<lb/>
genügend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1544" next="#ID_1545"> Aber selbst wenn dies mit Hilfe der Rasseneigentümlichkeiten und der Juden-<lb/>
unterdrücknng der Vergangenheit gelänge, so könnte es doch die Judenfrage<lb/>
nicht lösen. Die Unsittlichkeit und Verworfenheit einer korrupten Presse, eines<lb/>
blutsaugerischen Wuchers und eines rücksichtslosen Spekulantentums lassen sich<lb/>
weder durch religionsphilvsophische noch durch naturwissenschaftliche und völker-<lb/>
Pshchologische oder historische Untersuchungen aus der Welt schaffen. Es ist<lb/>
zwar wahr, daß nur der, der die ersten Ursachen des Übels kennt, den Ver¬<lb/>
such zur Heilung machen darf. Aber die Wissenschaft verfügt noch nicht über<lb/>
eine ausreichende Theorie der Frage, wir vermögen noch nicht mit völliger<lb/>
Genauigkeit deu Mangel gewisser sittlicher Eigenschaften aus einer besondern<lb/>
Rcisfenbildung abzuleiten, ihn mit historischen und religiösen Einflüssen in Ein¬<lb/>
klang zu bringen, diese Einflüsse genau zu begrenzen und die Gesamterschei¬<lb/>
nung damit erschöpfend zu erklären. So bleibt uns nur die induktive<lb/>
Methode der Beobachtung konkreter Fälle. An deren Hand aber gelange ich<lb/>
zu dem Schlüsse, daß die Rücksichtslosigkeit und Unsittlichkeit des jüdischen<lb/>
Erwerbslebens, die ich für die einzige berechtigte Ursache des Antisemitismus<lb/>
halte, nicht der Religion und der Rasse, sondern einer andern Ursache zuzu¬<lb/>
schreiben ist, nämlich &#x2014; der Konfessionslosigkeit und dem Weltbürgertum bei</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0459] die Arroganz, das Geldprotzentum, die sozial durchaus ungefährlich, den Juden selbst mehr schaden, als sie die Christen vorübergehend ärgern könnten. Spott, nicht Haß wäre die richtige Antwort darauf. Den allgemeinen Unwillen gegen die Juden rufen nicht diese Eigenschaften hervor, sondern die Unsittlichkeit ihres Erwerbslebens. Andrerseits ist es bekannt, welchen wohlthätigen Einfluß eine anhaltende Erziehung ausübt, und wie wunderbar sie oft ererbte Instinkte niederhält. Ich habe selbst Gelegenheit gehabt, dies in der musterhaft geleiteten Besserungs¬ anstalt für minderjährige Verbrecher in Studzieniec (Russisch-Polen) zu be¬ obachten, wo Söhne von Gewohnheitsdieben und öffentlichen Dirnen zu an¬ ständigen und ehrlichen Menschen erzogen werden. Jeder wissenschaftlich ge¬ bildete Pädagoge, jeder Kenner der Psychologie und jeder Kriminalist wird mir hierin beipflichten. Die Unterdrückung der Juden in der Vergangenheit, ihre Ausschließung von Ackerbau und Handwerk, die sie seinerzeit fast aus¬ schließlich zum Gcldleihgeschüft ihre Zuflucht nehmen ließ, die Mißachtung, der sie überall begegneten, haben die schlechten Eigenschaften des ehemaligen Juden zweifellos hervorgerufen oder doch wesentlich gefördert, wie dies sowohl Lecky in seiner Geschichte der Aufklärung als auch Macaulay in seiner Rede über Judenemanzipation betont. Aber das scheint mir denn doch für die Erklärung der charakteristischen Merkmale des modernen Juden, der seit hundert Jahren gleichberechtigt ist und unter dem Einfluß der öffentlichen Schule steht, sowie zur Erklärung des gerade heute so stark hervorbrechenden Antisemitismus nicht genügend. Aber selbst wenn dies mit Hilfe der Rasseneigentümlichkeiten und der Juden- unterdrücknng der Vergangenheit gelänge, so könnte es doch die Judenfrage nicht lösen. Die Unsittlichkeit und Verworfenheit einer korrupten Presse, eines blutsaugerischen Wuchers und eines rücksichtslosen Spekulantentums lassen sich weder durch religionsphilvsophische noch durch naturwissenschaftliche und völker- Pshchologische oder historische Untersuchungen aus der Welt schaffen. Es ist zwar wahr, daß nur der, der die ersten Ursachen des Übels kennt, den Ver¬ such zur Heilung machen darf. Aber die Wissenschaft verfügt noch nicht über eine ausreichende Theorie der Frage, wir vermögen noch nicht mit völliger Genauigkeit deu Mangel gewisser sittlicher Eigenschaften aus einer besondern Rcisfenbildung abzuleiten, ihn mit historischen und religiösen Einflüssen in Ein¬ klang zu bringen, diese Einflüsse genau zu begrenzen und die Gesamterschei¬ nung damit erschöpfend zu erklären. So bleibt uns nur die induktive Methode der Beobachtung konkreter Fälle. An deren Hand aber gelange ich zu dem Schlüsse, daß die Rücksichtslosigkeit und Unsittlichkeit des jüdischen Erwerbslebens, die ich für die einzige berechtigte Ursache des Antisemitismus halte, nicht der Religion und der Rasse, sondern einer andern Ursache zuzu¬ schreiben ist, nämlich — der Konfessionslosigkeit und dem Weltbürgertum bei

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/459
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/459>, abgerufen am 08.01.2025.