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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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dasselbe Urgrvßmutterhütlein tragen, sondern der Murr wird jedes Frühjahr
und jeden Herbst für Frau und Töchter neue Hüte kaufen müssen. Dann
wird er anfangen, in das Lied von der Not der Landwirtschaft einzustimmen
und statt eines von der Fraktion Admiralski einen Agrarier oder einen Anti¬
semiten wählen, und wieder ein paar Jahre später, wenn der hilfreiche Freund
aus der Stadt sein Gütchen verspeist hat, einen Sozialdemokraten. Recht
gemütlich gehts auch noch in Marienburg zu. Wie billig muß dort noch
Grund und Boden sein! Nicht in die Höhe, sondern in die Breite bauen die
Leute. Die meisten Häuser und Häuschen haben nur ein Erdgeschoß und
allenfalls noch ein Dachstübchen. Architekturstndien lassen sich da freilich nicht
machen, aber die alte Hvchmeisterburg hat ja Architektur genug für ein ganzes
Dutzend solcher Stüdtlein. Von den Krisen des Weltmarkts verspüren die
Handwerksmeister, kleinen Fabrikanten und Krümer des Ortes nicht viel, denn
ihre Abnehmer sind die umwohnenden Bauern. Hier gilt noch das Wort:
Hat der Bauer Geld, so hats die ganze Welt, hier herrscht noch Interessen-
Harmonie. Der Städter wünscht dem Bauer eine gute Einnahme, diesem aber
kommt es weniger auf hohe Preise als auf gute Ernten an, denn, sagt er,
was hilft mir der hohe Preis, wenn ich nichts zu verkaufen habe oder wohl
gar selbst Viehfutter und Brotkvrn kaufen muß? Das war leider im letzten
Jahre der Fall, in diesem aber siehts zum Glück anders aus. In Pommern,
in Preußen, in der Mark, in Posen, in Schlesien, überall im Nordosten körnert
das Getreide so reichlich, daß wir nicht bloß eine gute Mittelernte, sondern
eine wirklich gute Ernte erwarten dürfen; in Schlesien liefert der Probedrusch
geradezu erstaunliche Ergebnisse. Ganz so schlimm wie der vergangne wird
also der bevorstehende Winter nicht ausfallen. Das ist ein lichter Punkt am
düstern volkswirtschaftlichen Himmel.

Wird das billige Brot imstande sein, die finstern Sozialdemvkratengesichter
ein wenig aufzuhellen? Schwerlich! Der Ingrimm hat sich zu tief eingefressen.
es ist ein "prinzipieller" Ingrimm, den keine Verbesserung der Lage mehr zu
überwinden vermag. Scheint er doch gerade bei solchen Leuten, deren Lage
verhältnismäßig sehr befriedigend ist, am stärksten zu sein. Hütte ich nur einen
kleinen Anschütz bei mir gehabt, als ich an der Seite eines Marinebeamten
durch die Reihen der fünftausend am Feierabend heimkehrenden Werftarbeiter
in Kiel Spießruten lief! Die Augeublicksaufuahmen würden zeigen, daß die
Mehrzahl dieser Arbeiter trotz sehr guten Verdienstes ungefähr von denselben
Empfindungen beseelt ist, wie die römischen Sklaven vor Ausbruch der Sklaven¬
kriege. Es ist nicht möglich, daß ich mir die bösen Blicke, die mich trafen,
nur sollte eingebildet haben, denn ich kam nicht allein ohne Vorurteil, sondern
als erholungsbedürftiger Ferienbummler beinahe ohne Gedanken hin und bin
so harmlos und frei von Argwohn, daß ich vor Jahren an andern Orten
etlichemal die mir zugerufnen Schimpfworte für Grüße genommen und mit


dasselbe Urgrvßmutterhütlein tragen, sondern der Murr wird jedes Frühjahr
und jeden Herbst für Frau und Töchter neue Hüte kaufen müssen. Dann
wird er anfangen, in das Lied von der Not der Landwirtschaft einzustimmen
und statt eines von der Fraktion Admiralski einen Agrarier oder einen Anti¬
semiten wählen, und wieder ein paar Jahre später, wenn der hilfreiche Freund
aus der Stadt sein Gütchen verspeist hat, einen Sozialdemokraten. Recht
gemütlich gehts auch noch in Marienburg zu. Wie billig muß dort noch
Grund und Boden sein! Nicht in die Höhe, sondern in die Breite bauen die
Leute. Die meisten Häuser und Häuschen haben nur ein Erdgeschoß und
allenfalls noch ein Dachstübchen. Architekturstndien lassen sich da freilich nicht
machen, aber die alte Hvchmeisterburg hat ja Architektur genug für ein ganzes
Dutzend solcher Stüdtlein. Von den Krisen des Weltmarkts verspüren die
Handwerksmeister, kleinen Fabrikanten und Krümer des Ortes nicht viel, denn
ihre Abnehmer sind die umwohnenden Bauern. Hier gilt noch das Wort:
Hat der Bauer Geld, so hats die ganze Welt, hier herrscht noch Interessen-
Harmonie. Der Städter wünscht dem Bauer eine gute Einnahme, diesem aber
kommt es weniger auf hohe Preise als auf gute Ernten an, denn, sagt er,
was hilft mir der hohe Preis, wenn ich nichts zu verkaufen habe oder wohl
gar selbst Viehfutter und Brotkvrn kaufen muß? Das war leider im letzten
Jahre der Fall, in diesem aber siehts zum Glück anders aus. In Pommern,
in Preußen, in der Mark, in Posen, in Schlesien, überall im Nordosten körnert
das Getreide so reichlich, daß wir nicht bloß eine gute Mittelernte, sondern
eine wirklich gute Ernte erwarten dürfen; in Schlesien liefert der Probedrusch
geradezu erstaunliche Ergebnisse. Ganz so schlimm wie der vergangne wird
also der bevorstehende Winter nicht ausfallen. Das ist ein lichter Punkt am
düstern volkswirtschaftlichen Himmel.

Wird das billige Brot imstande sein, die finstern Sozialdemvkratengesichter
ein wenig aufzuhellen? Schwerlich! Der Ingrimm hat sich zu tief eingefressen.
es ist ein „prinzipieller" Ingrimm, den keine Verbesserung der Lage mehr zu
überwinden vermag. Scheint er doch gerade bei solchen Leuten, deren Lage
verhältnismäßig sehr befriedigend ist, am stärksten zu sein. Hütte ich nur einen
kleinen Anschütz bei mir gehabt, als ich an der Seite eines Marinebeamten
durch die Reihen der fünftausend am Feierabend heimkehrenden Werftarbeiter
in Kiel Spießruten lief! Die Augeublicksaufuahmen würden zeigen, daß die
Mehrzahl dieser Arbeiter trotz sehr guten Verdienstes ungefähr von denselben
Empfindungen beseelt ist, wie die römischen Sklaven vor Ausbruch der Sklaven¬
kriege. Es ist nicht möglich, daß ich mir die bösen Blicke, die mich trafen,
nur sollte eingebildet haben, denn ich kam nicht allein ohne Vorurteil, sondern
als erholungsbedürftiger Ferienbummler beinahe ohne Gedanken hin und bin
so harmlos und frei von Argwohn, daß ich vor Jahren an andern Orten
etlichemal die mir zugerufnen Schimpfworte für Grüße genommen und mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/424>, abgerufen am 08.01.2025.