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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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über ihn und seine Vorträge berichteten, sei erstnnken und erlogen; ganz
Berlin glaube ihm aufs Wort, und wenn heute hunderttausend Mark Kaution
für ihn gefordert würden, so würden sie morgen zusammen sein. Was diese
Erscheinung erklärt, ist ja den Lesern der Grenzboten zur Genüge bekannt.
Man mus; Leute erzählen hören, die zur Zeit des Judenflintenlärms in Berlin
waren, um vou der Großartigkeit der Bewegung einen Begriff zu bekommen;
die Zeitungen haben die Wahrheit nicht verraten, erst das endlose und wahn¬
sinnig leidenschaftliche Geschrei der freisinnigen Blätter nach Pvlizeihilfe gegen
die Ausrufer der "Judenbvrdelle" ließ die Lage einigermaßen ahnen. Die
Sozialdemokraten behaupten mit einem österreichischen Reichstagsabgeordneten,
der Antisemitismus sei weiter nichts als die Sozialdemokratie der dummen
Kerle, die zu schwachsichtig oder zu furchtsam, zum Teil allerdings auch zu
interessirt seien, einzusehn. daß sie eigentlich nicht den Juden, sondern den
Kapitalisten meinten. Dem sei nun. wie ihm wolle, jedenfalls muß man einer¬
seits mit dem klagenden Hiob fragen: "Schreit etwa der Waldesel ohne Grund?"
und andrerseits die für Hartmanns "evolutionistischen Optimismus" wenig
günstige Thatsache verzeichnen, daß ..ganz Berlin" monatelang einem Menschen
wie Ahlwardt nachläuft und das Märchen von der internationalen jüdischen
Verschwörung gegen des deutschen Reiches Flinten glaubt. Dieser Glaube
scheint einen Grad von Gehirnschwund vorauszusetzen, der außerhalb der Stadt
der Intelligenz kaum vorkommen dürfte. Die Wundergläubigkeit der Frommen
kann man nicht ans eine Stufe damit stellen, denn wo einmal die Möglich¬
keit übernatürlicher Einwirkungen angenommen wird, da verletzt der Glaube
ein einzelnes Wunder weder die Logik noch einen Erfahrungssatz; hier aber
handelt es sich um Thatsachen, die ganz innerhalb der Verkettung diesseitiger
Ursüchlichkeit liegen. Da mein .Hausbesitzer einen Schwiegersohn in einem der
nervösesten Ministerien hat, so brachte ich ihn durch die Frage, wie man in
diesen allermaßgebendsten Kreisen über Vismarck denke, ein wenig in Verlegen¬
heit. Er wollte anfänglich mit der Sprache nicht recht heraus, gestand aber
dann, daß Vismarck auch dort noch warme Verehrer zähle.

Hie und da trifft man noch auf äußere Zeichen natürlicher und darum
erfreulicher Verhältnisse. Ju Kiel ist die "Kothes" noch nicht mit der Gnädiger
zu verwechseln, sondern geht im kurzärmligen Jäckchen bloßarmig auf den
Markt, im Lübeckschen und Bohnischen tragen die Bauerfrauen eigentümlich
geformte Strohhüte; die Posener Form ist ganz anders als die Lübeckische.
Die Posenerinnen, die ich in einem Leichenzuge einherstampfen sah. nahmen
sich mit ihren bunten Röcken, Tüchern, Jacken und hellen Hüten, alles von
recht ungeschicktem Schnitt, äußerst putzig aus. Schön ist die Tracht nicht,
aber es ist doch immerhin eine Volkstracht. Wie lange wirds dauern, dachte
ich. dann werden auch diese Weiblein vollkommen "germanisirt," zivilisirt und
aufgeklärt sein! Dann werden sie nicht mehr zwanzig Jahre lang ein und


über ihn und seine Vorträge berichteten, sei erstnnken und erlogen; ganz
Berlin glaube ihm aufs Wort, und wenn heute hunderttausend Mark Kaution
für ihn gefordert würden, so würden sie morgen zusammen sein. Was diese
Erscheinung erklärt, ist ja den Lesern der Grenzboten zur Genüge bekannt.
Man mus; Leute erzählen hören, die zur Zeit des Judenflintenlärms in Berlin
waren, um vou der Großartigkeit der Bewegung einen Begriff zu bekommen;
die Zeitungen haben die Wahrheit nicht verraten, erst das endlose und wahn¬
sinnig leidenschaftliche Geschrei der freisinnigen Blätter nach Pvlizeihilfe gegen
die Ausrufer der „Judenbvrdelle" ließ die Lage einigermaßen ahnen. Die
Sozialdemokraten behaupten mit einem österreichischen Reichstagsabgeordneten,
der Antisemitismus sei weiter nichts als die Sozialdemokratie der dummen
Kerle, die zu schwachsichtig oder zu furchtsam, zum Teil allerdings auch zu
interessirt seien, einzusehn. daß sie eigentlich nicht den Juden, sondern den
Kapitalisten meinten. Dem sei nun. wie ihm wolle, jedenfalls muß man einer¬
seits mit dem klagenden Hiob fragen: „Schreit etwa der Waldesel ohne Grund?"
und andrerseits die für Hartmanns „evolutionistischen Optimismus" wenig
günstige Thatsache verzeichnen, daß ..ganz Berlin" monatelang einem Menschen
wie Ahlwardt nachläuft und das Märchen von der internationalen jüdischen
Verschwörung gegen des deutschen Reiches Flinten glaubt. Dieser Glaube
scheint einen Grad von Gehirnschwund vorauszusetzen, der außerhalb der Stadt
der Intelligenz kaum vorkommen dürfte. Die Wundergläubigkeit der Frommen
kann man nicht ans eine Stufe damit stellen, denn wo einmal die Möglich¬
keit übernatürlicher Einwirkungen angenommen wird, da verletzt der Glaube
ein einzelnes Wunder weder die Logik noch einen Erfahrungssatz; hier aber
handelt es sich um Thatsachen, die ganz innerhalb der Verkettung diesseitiger
Ursüchlichkeit liegen. Da mein .Hausbesitzer einen Schwiegersohn in einem der
nervösesten Ministerien hat, so brachte ich ihn durch die Frage, wie man in
diesen allermaßgebendsten Kreisen über Vismarck denke, ein wenig in Verlegen¬
heit. Er wollte anfänglich mit der Sprache nicht recht heraus, gestand aber
dann, daß Vismarck auch dort noch warme Verehrer zähle.

Hie und da trifft man noch auf äußere Zeichen natürlicher und darum
erfreulicher Verhältnisse. Ju Kiel ist die „Kothes" noch nicht mit der Gnädiger
zu verwechseln, sondern geht im kurzärmligen Jäckchen bloßarmig auf den
Markt, im Lübeckschen und Bohnischen tragen die Bauerfrauen eigentümlich
geformte Strohhüte; die Posener Form ist ganz anders als die Lübeckische.
Die Posenerinnen, die ich in einem Leichenzuge einherstampfen sah. nahmen
sich mit ihren bunten Röcken, Tüchern, Jacken und hellen Hüten, alles von
recht ungeschicktem Schnitt, äußerst putzig aus. Schön ist die Tracht nicht,
aber es ist doch immerhin eine Volkstracht. Wie lange wirds dauern, dachte
ich. dann werden auch diese Weiblein vollkommen „germanisirt," zivilisirt und
aufgeklärt sein! Dann werden sie nicht mehr zwanzig Jahre lang ein und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/423>, abgerufen am 08.01.2025.