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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

Wurde schutzzöllnerisch, als sie schutzzöllnerisch interessirt wurden. Und doch
wäre es heute ein Anachronismus, allein von diesem Interesse in Zukunft
den Ausschlag geben zu lasse". Deal konntet ihr auch zweifelhaft sein im
Jahre 1860. als noch fünf Achtel des Volkes agrarisch interessirt waren,
konntet ihr zweifelhaft sein 1879. als noch eine sehr erhebliche Minorität der
Deutschen landwirtschaftlich interessirt war, so haben sich heute die Dinge ge¬
ändert. Deutschland kann nicht mehr im Zweifel sein, wohin sein Lauf treibt,
es opfert seine Zukunft, seine wirtschaftliche, seine politische und kulturelle selle!j
Zukunft, wenn es nicht das Interesse der exportirenden Großindustrie in erste
Linie stellt. Die Frage, ob Industriestaat oder Agrarstaat, ist nicht bloß eine
Majoritätsfrage, sondern vor allem eine Frage der Entwicklungstendenz. Welches
Interesse ist dasjenige, welches einen immer größern Bruchteil der Nation um
seine Fahnen sammelt? Das Interesse, welches jährlich wachsende Millionen
Arbeiter lohnend zu beschäftigen vermag, ist das der Großindustrie; das Inter¬
esse, dessen Anteil an der Erzeugung des Volkswohlstandes der Minorität zu¬
strebt, ist das agrarische. Jede andre Politik, als die mit Rücksicht auf die
Industrie unternommene, wird als Interessenpolitik für künstlich geschützte Mino¬
ritäten, wird als reaktionär ans die Dauer empfunden. Wie lange sie haltbar
ist. ist lediglich die Frage weniger Jahre. Heute gilt uicht mehr der Satz:
Hat der Bauer Geld, so hats die ganze Welt! sondern der Konsument der
Zukunft, von dessen Zahlungskraft das Gedeihen der Gewerbe und auch mittel¬
bar der Landwirtschaft abhängig ist, diese zukünftige Säule von Deutschlands
Kraft ist der industrielle Arbeiter."

So der aus dem Grabe erweckte List. Wir sind mit ihm einverstanden
in dem Gedanken, den Lvtz an andern Stellen weiter ausführt, daß die Pro¬
duktion nur blühen könne, wenn die Massen kaufkräftig sind; es ist der alte
Gedanke des Nodbertus, den wir in diesen Blättern mehr als einmal ent¬
wickelt haben, und der seit einiger Zeit unter der Losung: nicht Überproduk¬
tion, sondern Unterkonsumtion ist es, woran wir leiden, aller Orten gepredigt
wird. Wir verwerfen auch mit Lotz die Mittelchen, mit denen sich manche
Industrien für den fehlenden inländischen Absatz zu entschädigen suchen: Preis¬
steigerung durch Kartelle und Schutzzölle, Exportprämien, die so viel Gewinn
bringen/ daß die Waren, die der inländische Konsument teurer bezahlen
muß, im Auslande zu Schleuderpreisen verkauft werden können. Wir lassen
es auch gelten, daß der Fabrikarbeiter als Produzent wie als Konsument in
dem Maße eine Sünle des Staats wird, als er an Zahl zunimmt, und daß
er. wenn er einmal den Hauptbestandteil des deutschen Volks bilden sollte,
allerdings nicht bloß eine, °soudern die "Säule von Deutschlands Kraft" sein
würde. Es fragt sich nnr, wie es mir Deutschlands Kraft dann stehn würde.
Wir leugnen ganz entschieden, daß irgend ein Fabrikarbeiterstand der Welt
jemals als Kern der Volkskraft den Bauernstand ersetzen könne. Der durch-


Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

Wurde schutzzöllnerisch, als sie schutzzöllnerisch interessirt wurden. Und doch
wäre es heute ein Anachronismus, allein von diesem Interesse in Zukunft
den Ausschlag geben zu lasse». Deal konntet ihr auch zweifelhaft sein im
Jahre 1860. als noch fünf Achtel des Volkes agrarisch interessirt waren,
konntet ihr zweifelhaft sein 1879. als noch eine sehr erhebliche Minorität der
Deutschen landwirtschaftlich interessirt war, so haben sich heute die Dinge ge¬
ändert. Deutschland kann nicht mehr im Zweifel sein, wohin sein Lauf treibt,
es opfert seine Zukunft, seine wirtschaftliche, seine politische und kulturelle selle!j
Zukunft, wenn es nicht das Interesse der exportirenden Großindustrie in erste
Linie stellt. Die Frage, ob Industriestaat oder Agrarstaat, ist nicht bloß eine
Majoritätsfrage, sondern vor allem eine Frage der Entwicklungstendenz. Welches
Interesse ist dasjenige, welches einen immer größern Bruchteil der Nation um
seine Fahnen sammelt? Das Interesse, welches jährlich wachsende Millionen
Arbeiter lohnend zu beschäftigen vermag, ist das der Großindustrie; das Inter¬
esse, dessen Anteil an der Erzeugung des Volkswohlstandes der Minorität zu¬
strebt, ist das agrarische. Jede andre Politik, als die mit Rücksicht auf die
Industrie unternommene, wird als Interessenpolitik für künstlich geschützte Mino¬
ritäten, wird als reaktionär ans die Dauer empfunden. Wie lange sie haltbar
ist. ist lediglich die Frage weniger Jahre. Heute gilt uicht mehr der Satz:
Hat der Bauer Geld, so hats die ganze Welt! sondern der Konsument der
Zukunft, von dessen Zahlungskraft das Gedeihen der Gewerbe und auch mittel¬
bar der Landwirtschaft abhängig ist, diese zukünftige Säule von Deutschlands
Kraft ist der industrielle Arbeiter."

So der aus dem Grabe erweckte List. Wir sind mit ihm einverstanden
in dem Gedanken, den Lvtz an andern Stellen weiter ausführt, daß die Pro¬
duktion nur blühen könne, wenn die Massen kaufkräftig sind; es ist der alte
Gedanke des Nodbertus, den wir in diesen Blättern mehr als einmal ent¬
wickelt haben, und der seit einiger Zeit unter der Losung: nicht Überproduk¬
tion, sondern Unterkonsumtion ist es, woran wir leiden, aller Orten gepredigt
wird. Wir verwerfen auch mit Lotz die Mittelchen, mit denen sich manche
Industrien für den fehlenden inländischen Absatz zu entschädigen suchen: Preis¬
steigerung durch Kartelle und Schutzzölle, Exportprämien, die so viel Gewinn
bringen/ daß die Waren, die der inländische Konsument teurer bezahlen
muß, im Auslande zu Schleuderpreisen verkauft werden können. Wir lassen
es auch gelten, daß der Fabrikarbeiter als Produzent wie als Konsument in
dem Maße eine Sünle des Staats wird, als er an Zahl zunimmt, und daß
er. wenn er einmal den Hauptbestandteil des deutschen Volks bilden sollte,
allerdings nicht bloß eine, °soudern die „Säule von Deutschlands Kraft" sein
würde. Es fragt sich nnr, wie es mir Deutschlands Kraft dann stehn würde.
Wir leugnen ganz entschieden, daß irgend ein Fabrikarbeiterstand der Welt
jemals als Kern der Volkskraft den Bauernstand ersetzen könne. Der durch-


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[0413] Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts Wurde schutzzöllnerisch, als sie schutzzöllnerisch interessirt wurden. Und doch wäre es heute ein Anachronismus, allein von diesem Interesse in Zukunft den Ausschlag geben zu lasse». Deal konntet ihr auch zweifelhaft sein im Jahre 1860. als noch fünf Achtel des Volkes agrarisch interessirt waren, konntet ihr zweifelhaft sein 1879. als noch eine sehr erhebliche Minorität der Deutschen landwirtschaftlich interessirt war, so haben sich heute die Dinge ge¬ ändert. Deutschland kann nicht mehr im Zweifel sein, wohin sein Lauf treibt, es opfert seine Zukunft, seine wirtschaftliche, seine politische und kulturelle selle!j Zukunft, wenn es nicht das Interesse der exportirenden Großindustrie in erste Linie stellt. Die Frage, ob Industriestaat oder Agrarstaat, ist nicht bloß eine Majoritätsfrage, sondern vor allem eine Frage der Entwicklungstendenz. Welches Interesse ist dasjenige, welches einen immer größern Bruchteil der Nation um seine Fahnen sammelt? Das Interesse, welches jährlich wachsende Millionen Arbeiter lohnend zu beschäftigen vermag, ist das der Großindustrie; das Inter¬ esse, dessen Anteil an der Erzeugung des Volkswohlstandes der Minorität zu¬ strebt, ist das agrarische. Jede andre Politik, als die mit Rücksicht auf die Industrie unternommene, wird als Interessenpolitik für künstlich geschützte Mino¬ ritäten, wird als reaktionär ans die Dauer empfunden. Wie lange sie haltbar ist. ist lediglich die Frage weniger Jahre. Heute gilt uicht mehr der Satz: Hat der Bauer Geld, so hats die ganze Welt! sondern der Konsument der Zukunft, von dessen Zahlungskraft das Gedeihen der Gewerbe und auch mittel¬ bar der Landwirtschaft abhängig ist, diese zukünftige Säule von Deutschlands Kraft ist der industrielle Arbeiter." So der aus dem Grabe erweckte List. Wir sind mit ihm einverstanden in dem Gedanken, den Lvtz an andern Stellen weiter ausführt, daß die Pro¬ duktion nur blühen könne, wenn die Massen kaufkräftig sind; es ist der alte Gedanke des Nodbertus, den wir in diesen Blättern mehr als einmal ent¬ wickelt haben, und der seit einiger Zeit unter der Losung: nicht Überproduk¬ tion, sondern Unterkonsumtion ist es, woran wir leiden, aller Orten gepredigt wird. Wir verwerfen auch mit Lotz die Mittelchen, mit denen sich manche Industrien für den fehlenden inländischen Absatz zu entschädigen suchen: Preis¬ steigerung durch Kartelle und Schutzzölle, Exportprämien, die so viel Gewinn bringen/ daß die Waren, die der inländische Konsument teurer bezahlen muß, im Auslande zu Schleuderpreisen verkauft werden können. Wir lassen es auch gelten, daß der Fabrikarbeiter als Produzent wie als Konsument in dem Maße eine Sünle des Staats wird, als er an Zahl zunimmt, und daß er. wenn er einmal den Hauptbestandteil des deutschen Volks bilden sollte, allerdings nicht bloß eine, °soudern die „Säule von Deutschlands Kraft" sein würde. Es fragt sich nnr, wie es mir Deutschlands Kraft dann stehn würde. Wir leugnen ganz entschieden, daß irgend ein Fabrikarbeiterstand der Welt jemals als Kern der Volkskraft den Bauernstand ersetzen könne. Der durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/413>, abgerufen am 08.01.2025.