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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

schnittliche Fabrikarbeiter vermag, was hier nicht ausführlich begründet zu
werden braucht, den durchschnittlichen Bauer weder in wirtschaftlicher, noch in
geistiger, noch in sittlicher, noch in politischer, noch in militärischer Beziehung
zu ersetzen. Schon aus diesem Grunde und abgesehn von allem andern, was
wir bei andern Gelegenheiten gegen die Herrschaft des Jndustrialismus gesagt
haben, würden wir es als ein großes Unglück beklagen, wenn Deutschland ein
Industrie- und Hcmdelsstciat wie England werden müßte. Die Herren Pro¬
fessoren, die einen solchen Wandel als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung
so gelassen hinnehmen, sollen nur einmal ein Jahr lang auf einem schlesischen
Bauerndorfe zubringen und dann ein Jahr in dem Proletarierviertel einer Gro߬
stadt oder in einem Jndustriebezirk, dann würden sie schon einsehn, was der
Wandel bedeutet; selbst die allerhöchsten Löhne in der Industrie vermögen das
Glück des gesunden, freien, behäbigen und gesicherten Vauernlebens nicht nuf-
zuwiegen. In Schlesien würden sie sich zugleich überzeugen, daß der deutsche
Bauernstand denn doch noch nicht daran denkt, vor oder hinter der Industrie
zu verschwinden. Damit soll nicht etwa den Agrarzöllen das Wort geredet
werden; unsre schlesischen Bauern nehmen zwar die jetzigen hohen Preise gern
mit, aber sie brauchen sie nicht. Noch vor zehn Jahren kostete es Mühe,
solchen Bauern, die nicht schon durch vornehmen Umgang "erzogen" worden
waren, die "Not der Landwirtschaft" begreiflich zu macheu. Seitdem ist ihnen
ja die Sache, namentlich in den landwirtschaftlichen Bereinen, soweit klar ge¬
macht worden, daß sie sagen: "Na ja, Wenns weiter nichts ist, als daß wir
mehr Geld einnehmen sollen, das lassen wir uns ja gern gefallen; je mehr,
desto besser!" Unser Ideal ist ein Staat mit einem kräftigen Bauernstande
und einer für den inländischen Bedarf arbeitenden Industrie, die beide den
Schutzzoll weder brauchen noch zu fürchten haben, und die deshalb Zollfragen
mit kaltem Blut als einen für sie gleichgültigen und hauptsächlich die Finanz¬
verwaltung angehenden Gegenstand behandeln.

Den Bauernstand preisgeben will nun allerdings auch Lotz nicht. Am
Schlüsse beantwortet er drei Fragen, die namentlich zu Anfang dieses Jahres
brennend waren: 1. Sollen wir die Agrarzölle ohne Äquivalent preisgeben,
also autonom abschaffen, oder sollen wir sie zu Handelsverträgen verwerten?
2. Bedeutet die Verminderung des Agrarschutzes Preisgebung der Landwirt¬
schaft? 3. Sollen wir etwa bloß das eine erhoffen als Wirkung der abge¬
schafften Getreidezölle, daß bei verbilligter Nahrung die Löhne herab(!)ge-
mindert (!) werden können? Soll unsre Konkurrenzfähigkeit auf niedern Löhnen
basiren? Die dritte Frage beantwortet er, wie man denken kann, mit einem
entschiednen Nein. Wir sagen zwar ebenfalls nein, sind aber überzeugt, daß
die Exportindustrieu aller Länder, sofern es sich nicht um Spezialitäten handelt,
die der Konkurrenz entrückt sind, nur bei Hungerlöhnen werden besteh"
können. Denn woher sollen die Abnehmer kommen, nachdem alle Völker, die


Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

schnittliche Fabrikarbeiter vermag, was hier nicht ausführlich begründet zu
werden braucht, den durchschnittlichen Bauer weder in wirtschaftlicher, noch in
geistiger, noch in sittlicher, noch in politischer, noch in militärischer Beziehung
zu ersetzen. Schon aus diesem Grunde und abgesehn von allem andern, was
wir bei andern Gelegenheiten gegen die Herrschaft des Jndustrialismus gesagt
haben, würden wir es als ein großes Unglück beklagen, wenn Deutschland ein
Industrie- und Hcmdelsstciat wie England werden müßte. Die Herren Pro¬
fessoren, die einen solchen Wandel als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung
so gelassen hinnehmen, sollen nur einmal ein Jahr lang auf einem schlesischen
Bauerndorfe zubringen und dann ein Jahr in dem Proletarierviertel einer Gro߬
stadt oder in einem Jndustriebezirk, dann würden sie schon einsehn, was der
Wandel bedeutet; selbst die allerhöchsten Löhne in der Industrie vermögen das
Glück des gesunden, freien, behäbigen und gesicherten Vauernlebens nicht nuf-
zuwiegen. In Schlesien würden sie sich zugleich überzeugen, daß der deutsche
Bauernstand denn doch noch nicht daran denkt, vor oder hinter der Industrie
zu verschwinden. Damit soll nicht etwa den Agrarzöllen das Wort geredet
werden; unsre schlesischen Bauern nehmen zwar die jetzigen hohen Preise gern
mit, aber sie brauchen sie nicht. Noch vor zehn Jahren kostete es Mühe,
solchen Bauern, die nicht schon durch vornehmen Umgang „erzogen" worden
waren, die „Not der Landwirtschaft" begreiflich zu macheu. Seitdem ist ihnen
ja die Sache, namentlich in den landwirtschaftlichen Bereinen, soweit klar ge¬
macht worden, daß sie sagen: „Na ja, Wenns weiter nichts ist, als daß wir
mehr Geld einnehmen sollen, das lassen wir uns ja gern gefallen; je mehr,
desto besser!" Unser Ideal ist ein Staat mit einem kräftigen Bauernstande
und einer für den inländischen Bedarf arbeitenden Industrie, die beide den
Schutzzoll weder brauchen noch zu fürchten haben, und die deshalb Zollfragen
mit kaltem Blut als einen für sie gleichgültigen und hauptsächlich die Finanz¬
verwaltung angehenden Gegenstand behandeln.

Den Bauernstand preisgeben will nun allerdings auch Lotz nicht. Am
Schlüsse beantwortet er drei Fragen, die namentlich zu Anfang dieses Jahres
brennend waren: 1. Sollen wir die Agrarzölle ohne Äquivalent preisgeben,
also autonom abschaffen, oder sollen wir sie zu Handelsverträgen verwerten?
2. Bedeutet die Verminderung des Agrarschutzes Preisgebung der Landwirt¬
schaft? 3. Sollen wir etwa bloß das eine erhoffen als Wirkung der abge¬
schafften Getreidezölle, daß bei verbilligter Nahrung die Löhne herab(!)ge-
mindert (!) werden können? Soll unsre Konkurrenzfähigkeit auf niedern Löhnen
basiren? Die dritte Frage beantwortet er, wie man denken kann, mit einem
entschiednen Nein. Wir sagen zwar ebenfalls nein, sind aber überzeugt, daß
die Exportindustrieu aller Länder, sofern es sich nicht um Spezialitäten handelt,
die der Konkurrenz entrückt sind, nur bei Hungerlöhnen werden besteh«
können. Denn woher sollen die Abnehmer kommen, nachdem alle Völker, die


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[0414] Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts schnittliche Fabrikarbeiter vermag, was hier nicht ausführlich begründet zu werden braucht, den durchschnittlichen Bauer weder in wirtschaftlicher, noch in geistiger, noch in sittlicher, noch in politischer, noch in militärischer Beziehung zu ersetzen. Schon aus diesem Grunde und abgesehn von allem andern, was wir bei andern Gelegenheiten gegen die Herrschaft des Jndustrialismus gesagt haben, würden wir es als ein großes Unglück beklagen, wenn Deutschland ein Industrie- und Hcmdelsstciat wie England werden müßte. Die Herren Pro¬ fessoren, die einen solchen Wandel als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung so gelassen hinnehmen, sollen nur einmal ein Jahr lang auf einem schlesischen Bauerndorfe zubringen und dann ein Jahr in dem Proletarierviertel einer Gro߬ stadt oder in einem Jndustriebezirk, dann würden sie schon einsehn, was der Wandel bedeutet; selbst die allerhöchsten Löhne in der Industrie vermögen das Glück des gesunden, freien, behäbigen und gesicherten Vauernlebens nicht nuf- zuwiegen. In Schlesien würden sie sich zugleich überzeugen, daß der deutsche Bauernstand denn doch noch nicht daran denkt, vor oder hinter der Industrie zu verschwinden. Damit soll nicht etwa den Agrarzöllen das Wort geredet werden; unsre schlesischen Bauern nehmen zwar die jetzigen hohen Preise gern mit, aber sie brauchen sie nicht. Noch vor zehn Jahren kostete es Mühe, solchen Bauern, die nicht schon durch vornehmen Umgang „erzogen" worden waren, die „Not der Landwirtschaft" begreiflich zu macheu. Seitdem ist ihnen ja die Sache, namentlich in den landwirtschaftlichen Bereinen, soweit klar ge¬ macht worden, daß sie sagen: „Na ja, Wenns weiter nichts ist, als daß wir mehr Geld einnehmen sollen, das lassen wir uns ja gern gefallen; je mehr, desto besser!" Unser Ideal ist ein Staat mit einem kräftigen Bauernstande und einer für den inländischen Bedarf arbeitenden Industrie, die beide den Schutzzoll weder brauchen noch zu fürchten haben, und die deshalb Zollfragen mit kaltem Blut als einen für sie gleichgültigen und hauptsächlich die Finanz¬ verwaltung angehenden Gegenstand behandeln. Den Bauernstand preisgeben will nun allerdings auch Lotz nicht. Am Schlüsse beantwortet er drei Fragen, die namentlich zu Anfang dieses Jahres brennend waren: 1. Sollen wir die Agrarzölle ohne Äquivalent preisgeben, also autonom abschaffen, oder sollen wir sie zu Handelsverträgen verwerten? 2. Bedeutet die Verminderung des Agrarschutzes Preisgebung der Landwirt¬ schaft? 3. Sollen wir etwa bloß das eine erhoffen als Wirkung der abge¬ schafften Getreidezölle, daß bei verbilligter Nahrung die Löhne herab(!)ge- mindert (!) werden können? Soll unsre Konkurrenzfähigkeit auf niedern Löhnen basiren? Die dritte Frage beantwortet er, wie man denken kann, mit einem entschiednen Nein. Wir sagen zwar ebenfalls nein, sind aber überzeugt, daß die Exportindustrieu aller Länder, sofern es sich nicht um Spezialitäten handelt, die der Konkurrenz entrückt sind, nur bei Hungerlöhnen werden besteh« können. Denn woher sollen die Abnehmer kommen, nachdem alle Völker, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/414>, abgerufen am 06.01.2025.