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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

mit dem liberalen Stempel zu versehn geschickt genug gewesen waren, ein
letztes Band zwischen Regierung und Volksvertretung, während alle andern
Bänder zerreißen zu wollen schienen: die ganze Konfliktszeit hindurch waren
Regierung und Landtag in allen Zollfragen ein Herz und eine Seele. Beim
Umschwunge sodann war es einerseits die unabweisbare Notwendigkeit, das
Reich finanziell auf eigne Füße zu stellen, was zur Einführung von neuen
indirekten Steuern und Finanzzöllen zwang, andrerseits der Wunsch, den sozialen
Forderungen der Zeit Rechnung zu tragen, die bei den nunmehr zum Schutz¬
zoll bekehrten Konservativen und Zentrumsleuten mehr Verständnis fanden als
bei den Liberalen, was den Reichskanzler den Schutzzöllnern näher brachte.
Für seine Person hat sich Bismarck bekanntlich damit entschuldigt, daß ihm
bis dahin die Politik noch keine Zeit gelassen habe, sich mit wirtschaftlichen
Fragen zu beschäftigen.

Wie der märchenhaft rasche Wechsel zu stände kommen konnte und wirk¬
lich zu stände kam, das mag man bei Lotz selbst nachlesen. Die Grundansicht,
die Bismarck damals entwickelte: Deutschland müsse dahin streben, sich selbst
genügen zu können, alle seine Bedürfnisse müsse es selbst erzeugen, und andrer¬
seits müsse seine Produktion bei den heimischen Konsumenten genügenden Absatz
sinden, ist an sich vollkommen richtig. Der sich selbst genügende Staat ist
der Jdealstciat, auch nach Adam Smith; der Auslandshandel sollte sich auf
Luxusgegeustünde und Erzeugnisse andrer Himmelsstriche beschränken; Jndustrie-
erzeugnisse für den Bedarf sollten zwischen den Staaten nur soweit ausgetauscht
werden, daß durch die stete Berührung mit dem Auslande die Stagnation der
heimischen Gewerbe verhütet würde; vor allem seine Nahrungsmittel muß jedes
Volk in ausreichender Menge selbst erzeugen. Die Frage ist nur, ob das
deutsche Reich in seiner heutigen Gestalt und bei seinen heutigen Bevvlkerungs-
verhältniffen ein Ideal zu erreichen vermag, das in den Vereinigten Staaten
Nordamerikas nahezu verwirklicht ist. Wir bezweifeln es. Und zwar erstens
seiner Gestalt und Lage wegen. Ostpreußen würde ja mit seinem überschüs¬
sigen Getreide die überzähligen Bewohner Badens oder Hessens ganz gut er¬
nähren können, wenn diese hinzogen und sich auf ostpreußischen Rittergütern
ansiedelten, aber soll der Ausgleich auf dem Wege des Handels erfolgen, so
Kurt es keine Bahntnrifreform dahin bringen, daß ostpreußisches Getreide in
Mannheim so billig und vorteilhaft verkauft werden könnte wie in Stockholm
oder London. Und dann, selbst eine andre Verteilung der Bevölkerung über
das Land vorausgesetzt, genügt sich Deutschland nicht mehr, weil es nicht
mehr die ausreichende Nahrungsmittelmenge hervorbringt. Im Jahre 1879
lag die Zeit, wo Deutschland für fttnfunddreißig Millionen Mark mehr Weizen
aus- als eingeführt hatte, erst fünfzehn Jahre zurück, heute liegt sie weit hinter
uns. Zwar behaupten unsre Agrarier, sie seien imstande, den vaterländischen
Getreide- und Fleischbedarf zu decken, allein Behauptungen gelten in einem


Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

mit dem liberalen Stempel zu versehn geschickt genug gewesen waren, ein
letztes Band zwischen Regierung und Volksvertretung, während alle andern
Bänder zerreißen zu wollen schienen: die ganze Konfliktszeit hindurch waren
Regierung und Landtag in allen Zollfragen ein Herz und eine Seele. Beim
Umschwunge sodann war es einerseits die unabweisbare Notwendigkeit, das
Reich finanziell auf eigne Füße zu stellen, was zur Einführung von neuen
indirekten Steuern und Finanzzöllen zwang, andrerseits der Wunsch, den sozialen
Forderungen der Zeit Rechnung zu tragen, die bei den nunmehr zum Schutz¬
zoll bekehrten Konservativen und Zentrumsleuten mehr Verständnis fanden als
bei den Liberalen, was den Reichskanzler den Schutzzöllnern näher brachte.
Für seine Person hat sich Bismarck bekanntlich damit entschuldigt, daß ihm
bis dahin die Politik noch keine Zeit gelassen habe, sich mit wirtschaftlichen
Fragen zu beschäftigen.

Wie der märchenhaft rasche Wechsel zu stände kommen konnte und wirk¬
lich zu stände kam, das mag man bei Lotz selbst nachlesen. Die Grundansicht,
die Bismarck damals entwickelte: Deutschland müsse dahin streben, sich selbst
genügen zu können, alle seine Bedürfnisse müsse es selbst erzeugen, und andrer¬
seits müsse seine Produktion bei den heimischen Konsumenten genügenden Absatz
sinden, ist an sich vollkommen richtig. Der sich selbst genügende Staat ist
der Jdealstciat, auch nach Adam Smith; der Auslandshandel sollte sich auf
Luxusgegeustünde und Erzeugnisse andrer Himmelsstriche beschränken; Jndustrie-
erzeugnisse für den Bedarf sollten zwischen den Staaten nur soweit ausgetauscht
werden, daß durch die stete Berührung mit dem Auslande die Stagnation der
heimischen Gewerbe verhütet würde; vor allem seine Nahrungsmittel muß jedes
Volk in ausreichender Menge selbst erzeugen. Die Frage ist nur, ob das
deutsche Reich in seiner heutigen Gestalt und bei seinen heutigen Bevvlkerungs-
verhältniffen ein Ideal zu erreichen vermag, das in den Vereinigten Staaten
Nordamerikas nahezu verwirklicht ist. Wir bezweifeln es. Und zwar erstens
seiner Gestalt und Lage wegen. Ostpreußen würde ja mit seinem überschüs¬
sigen Getreide die überzähligen Bewohner Badens oder Hessens ganz gut er¬
nähren können, wenn diese hinzogen und sich auf ostpreußischen Rittergütern
ansiedelten, aber soll der Ausgleich auf dem Wege des Handels erfolgen, so
Kurt es keine Bahntnrifreform dahin bringen, daß ostpreußisches Getreide in
Mannheim so billig und vorteilhaft verkauft werden könnte wie in Stockholm
oder London. Und dann, selbst eine andre Verteilung der Bevölkerung über
das Land vorausgesetzt, genügt sich Deutschland nicht mehr, weil es nicht
mehr die ausreichende Nahrungsmittelmenge hervorbringt. Im Jahre 1879
lag die Zeit, wo Deutschland für fttnfunddreißig Millionen Mark mehr Weizen
aus- als eingeführt hatte, erst fünfzehn Jahre zurück, heute liegt sie weit hinter
uns. Zwar behaupten unsre Agrarier, sie seien imstande, den vaterländischen
Getreide- und Fleischbedarf zu decken, allein Behauptungen gelten in einem


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[0411] Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts mit dem liberalen Stempel zu versehn geschickt genug gewesen waren, ein letztes Band zwischen Regierung und Volksvertretung, während alle andern Bänder zerreißen zu wollen schienen: die ganze Konfliktszeit hindurch waren Regierung und Landtag in allen Zollfragen ein Herz und eine Seele. Beim Umschwunge sodann war es einerseits die unabweisbare Notwendigkeit, das Reich finanziell auf eigne Füße zu stellen, was zur Einführung von neuen indirekten Steuern und Finanzzöllen zwang, andrerseits der Wunsch, den sozialen Forderungen der Zeit Rechnung zu tragen, die bei den nunmehr zum Schutz¬ zoll bekehrten Konservativen und Zentrumsleuten mehr Verständnis fanden als bei den Liberalen, was den Reichskanzler den Schutzzöllnern näher brachte. Für seine Person hat sich Bismarck bekanntlich damit entschuldigt, daß ihm bis dahin die Politik noch keine Zeit gelassen habe, sich mit wirtschaftlichen Fragen zu beschäftigen. Wie der märchenhaft rasche Wechsel zu stände kommen konnte und wirk¬ lich zu stände kam, das mag man bei Lotz selbst nachlesen. Die Grundansicht, die Bismarck damals entwickelte: Deutschland müsse dahin streben, sich selbst genügen zu können, alle seine Bedürfnisse müsse es selbst erzeugen, und andrer¬ seits müsse seine Produktion bei den heimischen Konsumenten genügenden Absatz sinden, ist an sich vollkommen richtig. Der sich selbst genügende Staat ist der Jdealstciat, auch nach Adam Smith; der Auslandshandel sollte sich auf Luxusgegeustünde und Erzeugnisse andrer Himmelsstriche beschränken; Jndustrie- erzeugnisse für den Bedarf sollten zwischen den Staaten nur soweit ausgetauscht werden, daß durch die stete Berührung mit dem Auslande die Stagnation der heimischen Gewerbe verhütet würde; vor allem seine Nahrungsmittel muß jedes Volk in ausreichender Menge selbst erzeugen. Die Frage ist nur, ob das deutsche Reich in seiner heutigen Gestalt und bei seinen heutigen Bevvlkerungs- verhältniffen ein Ideal zu erreichen vermag, das in den Vereinigten Staaten Nordamerikas nahezu verwirklicht ist. Wir bezweifeln es. Und zwar erstens seiner Gestalt und Lage wegen. Ostpreußen würde ja mit seinem überschüs¬ sigen Getreide die überzähligen Bewohner Badens oder Hessens ganz gut er¬ nähren können, wenn diese hinzogen und sich auf ostpreußischen Rittergütern ansiedelten, aber soll der Ausgleich auf dem Wege des Handels erfolgen, so Kurt es keine Bahntnrifreform dahin bringen, daß ostpreußisches Getreide in Mannheim so billig und vorteilhaft verkauft werden könnte wie in Stockholm oder London. Und dann, selbst eine andre Verteilung der Bevölkerung über das Land vorausgesetzt, genügt sich Deutschland nicht mehr, weil es nicht mehr die ausreichende Nahrungsmittelmenge hervorbringt. Im Jahre 1879 lag die Zeit, wo Deutschland für fttnfunddreißig Millionen Mark mehr Weizen aus- als eingeführt hatte, erst fünfzehn Jahre zurück, heute liegt sie weit hinter uns. Zwar behaupten unsre Agrarier, sie seien imstande, den vaterländischen Getreide- und Fleischbedarf zu decken, allein Behauptungen gelten in einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/411>, abgerufen am 08.01.2025.