Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Mußte es so kommen? feigen Einrichtung schon deshalb des vielseitigsten und erbittertsten Widerspruchs Mußte es so kommen? feigen Einrichtung schon deshalb des vielseitigsten und erbittertsten Widerspruchs <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0402" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212878"/> <fw type="header" place="top"> Mußte es so kommen?</fw><lb/> <p xml:id="ID_1351" prev="#ID_1350" next="#ID_1352"> feigen Einrichtung schon deshalb des vielseitigsten und erbittertsten Widerspruchs<lb/> gewiß, weil er, gleichviel welchen Inhalts, aus dem sozialdemvkmtischen<lb/> Lager kommt? Und ist es nicht einer der beliebtesten Kunstgriffe parla¬<lb/> mentarischer oder publizistischer Dialektik, derartige Vorschläge völlig unver¬<lb/> dächtiger Herkunft damit zu bekämpfen, daß man sie als sozialdemokratischcr<lb/> Denkweise entsprungen hinzustellen versucht? Ist es nicht lange Jahre hin¬<lb/> durch gelungen, das soziale Reformwerk unsers ehrwürdigen Kaisers Wilhelm<lb/> und seines großen Kanzlers mit eben diesen Mitteln zu verdächtigen? Das;<lb/> sie immer noch versagen, erklärt sich erstens aus der Unbekanntschaft mit den<lb/> eigentlichen sozialistischen Lehren, die z. B. dem sogenannten Staatssozialismus<lb/> grundsätzlich entgegengesetzt sind. Vor allem aber aus der modernen Cha¬<lb/> rakterschwäche, die es nicht über sich gewinnt, sich eine eigne Überzeugung<lb/> von der Güte einer Sache zu erkämpfen und damit auf die Gefahr hin, ver¬<lb/> ketzert zu werden, furchtlos herauszutreten. Es bleibt tief zu beklagen, daß<lb/> dieser Terrorismus, die Gefahr, der öffentlichen Meinung sowohl als der<lb/> eignen Regierung als verkappter Sozialdemokrat denunzirt zu werden (so erst<lb/> unlängst in dem Wörrishvferschen Falle), auch die Beamten, namentlich die<lb/> Verwaltungsbeamten, noch vielfach hindert, mit den arbeitenden Klassen nähere<lb/> Fühlung zu gewinnen. Wäre es z. B. auch bei uns, wie in andern Ländern,<lb/> denkbar, daß die Beamten — wir haben vorzugsweise die Gewerbeinspektvren,<lb/> aber nicht sie allein im Auge — in Arbeitervereinen Vorträge hielten, der<lb/> Arbeiterpresse belehrende Aufsätze zugehen ließen, ja auch die Arbeitervereinsfeste<lb/> besuchten, die segensreichen Folgen würden nicht ausbleiben für beide Teile.<lb/> Freilich setzt es einen natürlichen Schatz von Takt und ungekünsteltem Wohl¬<lb/> wollen sowie den Verzicht auf jede Proselytenmacherei voraus, wenn ein Be¬<lb/> amter bei einem Arbeiterauditorium Vertrauen gewinnen soll. Daß es hoff¬<lb/> nungslos wäre, mögen wir nicht glauben. Doch einstweilen sind dies fromme<lb/> Wünsche. In republikanischen Staatswesen mag über manche äußere Schwierig¬<lb/> keit leichter hinwegzukommen sein. Im monarchischen Deutschland ist es ein<lb/> verhängnisvolles Hemmnis sür ein kräftiges und entschloßnes Vorwärts¬<lb/> schreiten auf der Bahn sozialer Reformen, daß die sozialistische Partei zugleich<lb/> eine demokratische ist. In der That, es gehörte fast mehr als hochherzige<lb/> Selbstverleugnung des Monarchen dazu, vorerst auch einmal darüber hinweg¬<lb/> zusehen, sich nur an das Vertrauen seiner Arbeiternntcrthanen zu wenden, ihre<lb/> berechtigten wirtschaftliche» Bedürfnisse zu befriedigen und abzuwarten, ob die<lb/> Zeit sie nicht doch noch um seinen Thron scharen werde. Für den verant¬<lb/> wortlichen Minister dürfte es schließlich auf seine Ansicht über die angeborne<lb/> Schlechtigkeit oder die angeborne Güte der menschlichen Natur hinauskommen,<lb/> ob er zu diesem Experiment raten soll. Jedenfalls hat der große Friedrich<lb/> mit seinen der schwerbedrückten Bauernschaft erzeigten wirtschaftlichen Wohl¬<lb/> thaten einst große Erfolge auch für das monarchische Prinzip erzielt. Noch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0402]
Mußte es so kommen?
feigen Einrichtung schon deshalb des vielseitigsten und erbittertsten Widerspruchs
gewiß, weil er, gleichviel welchen Inhalts, aus dem sozialdemvkmtischen
Lager kommt? Und ist es nicht einer der beliebtesten Kunstgriffe parla¬
mentarischer oder publizistischer Dialektik, derartige Vorschläge völlig unver¬
dächtiger Herkunft damit zu bekämpfen, daß man sie als sozialdemokratischcr
Denkweise entsprungen hinzustellen versucht? Ist es nicht lange Jahre hin¬
durch gelungen, das soziale Reformwerk unsers ehrwürdigen Kaisers Wilhelm
und seines großen Kanzlers mit eben diesen Mitteln zu verdächtigen? Das;
sie immer noch versagen, erklärt sich erstens aus der Unbekanntschaft mit den
eigentlichen sozialistischen Lehren, die z. B. dem sogenannten Staatssozialismus
grundsätzlich entgegengesetzt sind. Vor allem aber aus der modernen Cha¬
rakterschwäche, die es nicht über sich gewinnt, sich eine eigne Überzeugung
von der Güte einer Sache zu erkämpfen und damit auf die Gefahr hin, ver¬
ketzert zu werden, furchtlos herauszutreten. Es bleibt tief zu beklagen, daß
dieser Terrorismus, die Gefahr, der öffentlichen Meinung sowohl als der
eignen Regierung als verkappter Sozialdemokrat denunzirt zu werden (so erst
unlängst in dem Wörrishvferschen Falle), auch die Beamten, namentlich die
Verwaltungsbeamten, noch vielfach hindert, mit den arbeitenden Klassen nähere
Fühlung zu gewinnen. Wäre es z. B. auch bei uns, wie in andern Ländern,
denkbar, daß die Beamten — wir haben vorzugsweise die Gewerbeinspektvren,
aber nicht sie allein im Auge — in Arbeitervereinen Vorträge hielten, der
Arbeiterpresse belehrende Aufsätze zugehen ließen, ja auch die Arbeitervereinsfeste
besuchten, die segensreichen Folgen würden nicht ausbleiben für beide Teile.
Freilich setzt es einen natürlichen Schatz von Takt und ungekünsteltem Wohl¬
wollen sowie den Verzicht auf jede Proselytenmacherei voraus, wenn ein Be¬
amter bei einem Arbeiterauditorium Vertrauen gewinnen soll. Daß es hoff¬
nungslos wäre, mögen wir nicht glauben. Doch einstweilen sind dies fromme
Wünsche. In republikanischen Staatswesen mag über manche äußere Schwierig¬
keit leichter hinwegzukommen sein. Im monarchischen Deutschland ist es ein
verhängnisvolles Hemmnis sür ein kräftiges und entschloßnes Vorwärts¬
schreiten auf der Bahn sozialer Reformen, daß die sozialistische Partei zugleich
eine demokratische ist. In der That, es gehörte fast mehr als hochherzige
Selbstverleugnung des Monarchen dazu, vorerst auch einmal darüber hinweg¬
zusehen, sich nur an das Vertrauen seiner Arbeiternntcrthanen zu wenden, ihre
berechtigten wirtschaftliche» Bedürfnisse zu befriedigen und abzuwarten, ob die
Zeit sie nicht doch noch um seinen Thron scharen werde. Für den verant¬
wortlichen Minister dürfte es schließlich auf seine Ansicht über die angeborne
Schlechtigkeit oder die angeborne Güte der menschlichen Natur hinauskommen,
ob er zu diesem Experiment raten soll. Jedenfalls hat der große Friedrich
mit seinen der schwerbedrückten Bauernschaft erzeigten wirtschaftlichen Wohl¬
thaten einst große Erfolge auch für das monarchische Prinzip erzielt. Noch
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