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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Mußte es so kommen?

und die Redaktionen versäumen nicht, ihnen fleißig das Wort zu lassen. Der
schon einmal in den Grenzboten gegebne Rat, die sozialistische Presse auf¬
merksam zu verfolgen, kann deshalb nur dringend wiederholt werden. Sie ist
für die besser gestellten Klassen, die nicht selbst im gewerblichen Leben stehn,
fast das einzige Mittel, ein Bild von der Lage der arbeitenden Bevölkerung
zu gewinnen. Auch wäre es thöricht, darin eine Unterstützung der sozial-
demokratischen Partei erblicken zu wollen. An Geld fehlt es ihr wahrlich nicht,
wenn es auch dunkel bleibt, woher sie die offenbar beträchtlichen Mittel nimmt,
die ihr selbst jetzt in der Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs zufließen.
Daß wir nur deu reifen und urteilsfähigen Mann als Leser und etwaigen
Abonnenten im Auge haben, versteht sich von selbst.

Wir setzen unsre Hoffnung darauf, daß jene von der nationalökonomischen
Wissenschaft heute schon gepflegte sachliche Art der Behandlung wirtschaftlicher
Fragen eines Tages auch in den Parlamenten, in der Presse, im öffentlichen
Leben überhaupt durchbrechen und sich behaupten werde. Beschränkte man
sich einmal auf das Thema: Verbesserung der wirtschaftlichen Lage insbesondre
der arbeitenden Klaffen, so wäre die Aufgabe der Verständigung schon so
riesengroß, daß man sie durch Heranziehung der Punkte, über die niemals
eine Einigung möglich scheint: Monarchie, Religion, Privateigentum, nicht
unnötig erschweren sollte. Leitstern bleibt der Satz: Alle berechtigten Inter¬
essen sind harmonisch. An seiner Wahrheit verzweifeln, hieße verzweifeln an
der Weisheit und Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung. In der sozialen
Frage spitzt sich dieser Satz im letzten Grunde auf eine Art von Rechen-
Tempel zu: Wieviel muß dem Unternehmer als Unternehmergewinn, dem
Grundbesitzer als Grundrente verbleiben, damit Industrie und Landwirtschaft
gedeihen und Befriedigung gewähren können? Wie viel vom Produktions¬
gewinn gebührt dem Arbeiter als Ertrag seiner Arbeit, damit er nicht nur
^ben und in der Arbeit Befriedigung finden, sondern auch seinerseits als Kon¬
sument und damit als wirksamster Förderer der Produktion auftreten kann?
Die Lösung kann nur nach der Formel des vielgeschmähten Prätorischen Rechts:
mehr bonos iiZiör oporwt erfolgen.

Es ist nicht die Absicht, hier die eigentlichen wirtschaftlichen Fragen auch
uur andeutungsweise zu verfolgen. Wir kehren vielmehr zu dein Vorschlage
Zurück, der Staat sowohl als die sogenannte bürgerliche Gesellschaft solle sich
entschließen, den sozialdemokratischen Volksgenossen einmal genau so wie jeden
widern Staatsbürger zu nehmen. Man sollte zwar meinen, dies sei einfach
ewe Forderung der Gerechtigkeit, und zwar der Gerechtigkeit, die als t'unäa,-
nondum röAnorum gilt, die deshalb in einem sich christlich nennenden Staats-
^eher längst verwirklicht sein müßte. Und doch, wie gewaltig ist noch heute
der Bann, der in dein bloßen Worte "Sozialdemokrat" liegt. Ist nicht jeder
gesetzgeberische Gedanke, jeder Vorschlag einer Verwaltungsmaßregel oder son-


Grenzbotcn III 1892 50
Mußte es so kommen?

und die Redaktionen versäumen nicht, ihnen fleißig das Wort zu lassen. Der
schon einmal in den Grenzboten gegebne Rat, die sozialistische Presse auf¬
merksam zu verfolgen, kann deshalb nur dringend wiederholt werden. Sie ist
für die besser gestellten Klassen, die nicht selbst im gewerblichen Leben stehn,
fast das einzige Mittel, ein Bild von der Lage der arbeitenden Bevölkerung
zu gewinnen. Auch wäre es thöricht, darin eine Unterstützung der sozial-
demokratischen Partei erblicken zu wollen. An Geld fehlt es ihr wahrlich nicht,
wenn es auch dunkel bleibt, woher sie die offenbar beträchtlichen Mittel nimmt,
die ihr selbst jetzt in der Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs zufließen.
Daß wir nur deu reifen und urteilsfähigen Mann als Leser und etwaigen
Abonnenten im Auge haben, versteht sich von selbst.

Wir setzen unsre Hoffnung darauf, daß jene von der nationalökonomischen
Wissenschaft heute schon gepflegte sachliche Art der Behandlung wirtschaftlicher
Fragen eines Tages auch in den Parlamenten, in der Presse, im öffentlichen
Leben überhaupt durchbrechen und sich behaupten werde. Beschränkte man
sich einmal auf das Thema: Verbesserung der wirtschaftlichen Lage insbesondre
der arbeitenden Klaffen, so wäre die Aufgabe der Verständigung schon so
riesengroß, daß man sie durch Heranziehung der Punkte, über die niemals
eine Einigung möglich scheint: Monarchie, Religion, Privateigentum, nicht
unnötig erschweren sollte. Leitstern bleibt der Satz: Alle berechtigten Inter¬
essen sind harmonisch. An seiner Wahrheit verzweifeln, hieße verzweifeln an
der Weisheit und Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung. In der sozialen
Frage spitzt sich dieser Satz im letzten Grunde auf eine Art von Rechen-
Tempel zu: Wieviel muß dem Unternehmer als Unternehmergewinn, dem
Grundbesitzer als Grundrente verbleiben, damit Industrie und Landwirtschaft
gedeihen und Befriedigung gewähren können? Wie viel vom Produktions¬
gewinn gebührt dem Arbeiter als Ertrag seiner Arbeit, damit er nicht nur
^ben und in der Arbeit Befriedigung finden, sondern auch seinerseits als Kon¬
sument und damit als wirksamster Förderer der Produktion auftreten kann?
Die Lösung kann nur nach der Formel des vielgeschmähten Prätorischen Rechts:
mehr bonos iiZiör oporwt erfolgen.

Es ist nicht die Absicht, hier die eigentlichen wirtschaftlichen Fragen auch
uur andeutungsweise zu verfolgen. Wir kehren vielmehr zu dein Vorschlage
Zurück, der Staat sowohl als die sogenannte bürgerliche Gesellschaft solle sich
entschließen, den sozialdemokratischen Volksgenossen einmal genau so wie jeden
widern Staatsbürger zu nehmen. Man sollte zwar meinen, dies sei einfach
ewe Forderung der Gerechtigkeit, und zwar der Gerechtigkeit, die als t'unäa,-
nondum röAnorum gilt, die deshalb in einem sich christlich nennenden Staats-
^eher längst verwirklicht sein müßte. Und doch, wie gewaltig ist noch heute
der Bann, der in dein bloßen Worte „Sozialdemokrat" liegt. Ist nicht jeder
gesetzgeberische Gedanke, jeder Vorschlag einer Verwaltungsmaßregel oder son-


Grenzbotcn III 1892 50
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[0401] Mußte es so kommen? und die Redaktionen versäumen nicht, ihnen fleißig das Wort zu lassen. Der schon einmal in den Grenzboten gegebne Rat, die sozialistische Presse auf¬ merksam zu verfolgen, kann deshalb nur dringend wiederholt werden. Sie ist für die besser gestellten Klassen, die nicht selbst im gewerblichen Leben stehn, fast das einzige Mittel, ein Bild von der Lage der arbeitenden Bevölkerung zu gewinnen. Auch wäre es thöricht, darin eine Unterstützung der sozial- demokratischen Partei erblicken zu wollen. An Geld fehlt es ihr wahrlich nicht, wenn es auch dunkel bleibt, woher sie die offenbar beträchtlichen Mittel nimmt, die ihr selbst jetzt in der Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs zufließen. Daß wir nur deu reifen und urteilsfähigen Mann als Leser und etwaigen Abonnenten im Auge haben, versteht sich von selbst. Wir setzen unsre Hoffnung darauf, daß jene von der nationalökonomischen Wissenschaft heute schon gepflegte sachliche Art der Behandlung wirtschaftlicher Fragen eines Tages auch in den Parlamenten, in der Presse, im öffentlichen Leben überhaupt durchbrechen und sich behaupten werde. Beschränkte man sich einmal auf das Thema: Verbesserung der wirtschaftlichen Lage insbesondre der arbeitenden Klaffen, so wäre die Aufgabe der Verständigung schon so riesengroß, daß man sie durch Heranziehung der Punkte, über die niemals eine Einigung möglich scheint: Monarchie, Religion, Privateigentum, nicht unnötig erschweren sollte. Leitstern bleibt der Satz: Alle berechtigten Inter¬ essen sind harmonisch. An seiner Wahrheit verzweifeln, hieße verzweifeln an der Weisheit und Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung. In der sozialen Frage spitzt sich dieser Satz im letzten Grunde auf eine Art von Rechen- Tempel zu: Wieviel muß dem Unternehmer als Unternehmergewinn, dem Grundbesitzer als Grundrente verbleiben, damit Industrie und Landwirtschaft gedeihen und Befriedigung gewähren können? Wie viel vom Produktions¬ gewinn gebührt dem Arbeiter als Ertrag seiner Arbeit, damit er nicht nur ^ben und in der Arbeit Befriedigung finden, sondern auch seinerseits als Kon¬ sument und damit als wirksamster Förderer der Produktion auftreten kann? Die Lösung kann nur nach der Formel des vielgeschmähten Prätorischen Rechts: mehr bonos iiZiör oporwt erfolgen. Es ist nicht die Absicht, hier die eigentlichen wirtschaftlichen Fragen auch uur andeutungsweise zu verfolgen. Wir kehren vielmehr zu dein Vorschlage Zurück, der Staat sowohl als die sogenannte bürgerliche Gesellschaft solle sich entschließen, den sozialdemokratischen Volksgenossen einmal genau so wie jeden widern Staatsbürger zu nehmen. Man sollte zwar meinen, dies sei einfach ewe Forderung der Gerechtigkeit, und zwar der Gerechtigkeit, die als t'unäa,- nondum röAnorum gilt, die deshalb in einem sich christlich nennenden Staats- ^eher längst verwirklicht sein müßte. Und doch, wie gewaltig ist noch heute der Bann, der in dein bloßen Worte „Sozialdemokrat" liegt. Ist nicht jeder gesetzgeberische Gedanke, jeder Vorschlag einer Verwaltungsmaßregel oder son- Grenzbotcn III 1892 50

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/401>, abgerufen am 08.01.2025.