Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zolas Ariegsroman Oud^Llo

Sind diese Dokumente erst vollständig da, so macht sich sein Roman ganz von
selbst. Der Schriftsteller hat die Thatsachen nur logisch zu ordnen. Aus
dem gesammelten Stoff entwickelt sich allmählich die ganze Handlung, die
Fabel, die notwendig ist, um die einzelnen Kapitel des Romans aufzubauen.
Das Interesse liegt nicht mehr in der Seltsamkeit und Fremdartigkeit der Fabel;
im Gegenteil, je alltäglicher und allgemeiner sie ist, desto mehr wird sie
typisch. Wirkliche Menschen in einer wirklichen Umgebung (uülieu) in Be¬
wegung setzen, dem Leser ein herausgetrenntes Stück des menschlichen Lebens
geben, das ist das Wesen des naturalistischen Romans."

Man merkt es dem neuesten Roman Zolas sehr bald an, daß er nach
diesem Rezept gearbeitet worden ist; der Notizenkram guckt aus jeder Seite
heraus. Vor allem hat Zola seine Urkunden bei gemeinen Soldaten gesam¬
melt, die den Krieg mitgemacht haben. Das sind aber nur wenig zuverlässige
Quellen, denn der im Feuer stehende Füsilier hat von der Entwicklung einer
Schlacht nicht die geringste Ahnung. Aber was Zola 1'air g-mbiaut nennt,
das läßt sich allerdings aus dem Verkehr mit dem Soldaten gewinnen: die
militärischen Bezeichnungen, die Kommandos, die Schlagwörter, die Redens¬
arten, die Flüche, die großen und kleinen Dienstverrichtungen, das Biwakleben,
die Sorgen, Strapazen und Bedürfnisse. Daher kommt es auch, daß in diesem
Roman das Essen und das Hungern eine so große Rolle spielen, denn wo die
Leute einmal tüchtig gehungert haben, das vergessen sie Zeitlebens nicht.
Hatte Zola in den frühern Romanen den Geschlechtstrieb gleichsam als Leit¬
motiv für seine Geschichten benutzt, so nimmt er hier den Hunger dazu. Die
französischen Soldaten hungern in dem Roman fortwährend. Bald werden sie
durch deu unerwartet eiligen Ausbruch des Lagers am Abkochen gehindert,
bald sind die Proviantwngen abhanden gekommen, bald haben die Leute, um
sich den Marsch zu erleichtern, ihren Mundvorrat weggeworfen und finden
dann in den Quartieren nichts oder können von den geizigen Bauern nichts
erlangen. So hat Zola zu den Umständen, die eine fortwährende Niederlage
bei seinen Landsleuten herbeiführten, sehr geschickt einen neuen aufgedeckt, der
in der Verpflegung und in dem Verhalten der französischen Truppen selbst lag,
und mit dem er doch die Eitelkeit der Franzosen nicht verletzt, denn eine
hungernde Truppe, das ist doch klar, ist schon halb geschlagen.

Sein ganzer Kriegsroman ist die Geschichte einer Kvrporalschaft, und zwar
der Korporalschaft, die der Reserveunterofsizier Jean Macanart während des
Krieges unter seiner Führung hat. Die Soldaten dieser Zeltgenvsfenschaft
sollen gleichsam die Typen des ganzen französischen Heeres bilden. Ihre
geistigen und moralischen Eigenschaften, ihre Ideen und Gesinnungen sollen
das Wesen und den Charakter wiederspiegeln, die in den Truppen des zweiten
Kaiserreichs herrschten. Den Korporal Jean Macquart kennen wir schon aus
1^ Isriö. Gleich im Anfange dieses Vauernrvmans haben wir ihn in jener


Zolas Ariegsroman Oud^Llo

Sind diese Dokumente erst vollständig da, so macht sich sein Roman ganz von
selbst. Der Schriftsteller hat die Thatsachen nur logisch zu ordnen. Aus
dem gesammelten Stoff entwickelt sich allmählich die ganze Handlung, die
Fabel, die notwendig ist, um die einzelnen Kapitel des Romans aufzubauen.
Das Interesse liegt nicht mehr in der Seltsamkeit und Fremdartigkeit der Fabel;
im Gegenteil, je alltäglicher und allgemeiner sie ist, desto mehr wird sie
typisch. Wirkliche Menschen in einer wirklichen Umgebung (uülieu) in Be¬
wegung setzen, dem Leser ein herausgetrenntes Stück des menschlichen Lebens
geben, das ist das Wesen des naturalistischen Romans."

Man merkt es dem neuesten Roman Zolas sehr bald an, daß er nach
diesem Rezept gearbeitet worden ist; der Notizenkram guckt aus jeder Seite
heraus. Vor allem hat Zola seine Urkunden bei gemeinen Soldaten gesam¬
melt, die den Krieg mitgemacht haben. Das sind aber nur wenig zuverlässige
Quellen, denn der im Feuer stehende Füsilier hat von der Entwicklung einer
Schlacht nicht die geringste Ahnung. Aber was Zola 1'air g-mbiaut nennt,
das läßt sich allerdings aus dem Verkehr mit dem Soldaten gewinnen: die
militärischen Bezeichnungen, die Kommandos, die Schlagwörter, die Redens¬
arten, die Flüche, die großen und kleinen Dienstverrichtungen, das Biwakleben,
die Sorgen, Strapazen und Bedürfnisse. Daher kommt es auch, daß in diesem
Roman das Essen und das Hungern eine so große Rolle spielen, denn wo die
Leute einmal tüchtig gehungert haben, das vergessen sie Zeitlebens nicht.
Hatte Zola in den frühern Romanen den Geschlechtstrieb gleichsam als Leit¬
motiv für seine Geschichten benutzt, so nimmt er hier den Hunger dazu. Die
französischen Soldaten hungern in dem Roman fortwährend. Bald werden sie
durch deu unerwartet eiligen Ausbruch des Lagers am Abkochen gehindert,
bald sind die Proviantwngen abhanden gekommen, bald haben die Leute, um
sich den Marsch zu erleichtern, ihren Mundvorrat weggeworfen und finden
dann in den Quartieren nichts oder können von den geizigen Bauern nichts
erlangen. So hat Zola zu den Umständen, die eine fortwährende Niederlage
bei seinen Landsleuten herbeiführten, sehr geschickt einen neuen aufgedeckt, der
in der Verpflegung und in dem Verhalten der französischen Truppen selbst lag,
und mit dem er doch die Eitelkeit der Franzosen nicht verletzt, denn eine
hungernde Truppe, das ist doch klar, ist schon halb geschlagen.

Sein ganzer Kriegsroman ist die Geschichte einer Kvrporalschaft, und zwar
der Korporalschaft, die der Reserveunterofsizier Jean Macanart während des
Krieges unter seiner Führung hat. Die Soldaten dieser Zeltgenvsfenschaft
sollen gleichsam die Typen des ganzen französischen Heeres bilden. Ihre
geistigen und moralischen Eigenschaften, ihre Ideen und Gesinnungen sollen
das Wesen und den Charakter wiederspiegeln, die in den Truppen des zweiten
Kaiserreichs herrschten. Den Korporal Jean Macquart kennen wir schon aus
1^ Isriö. Gleich im Anfange dieses Vauernrvmans haben wir ihn in jener


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0364" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212840"/>
          <fw type="header" place="top"> Zolas Ariegsroman Oud^Llo</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1218" prev="#ID_1217"> Sind diese Dokumente erst vollständig da, so macht sich sein Roman ganz von<lb/>
selbst. Der Schriftsteller hat die Thatsachen nur logisch zu ordnen. Aus<lb/>
dem gesammelten Stoff entwickelt sich allmählich die ganze Handlung, die<lb/>
Fabel, die notwendig ist, um die einzelnen Kapitel des Romans aufzubauen.<lb/>
Das Interesse liegt nicht mehr in der Seltsamkeit und Fremdartigkeit der Fabel;<lb/>
im Gegenteil, je alltäglicher und allgemeiner sie ist, desto mehr wird sie<lb/>
typisch. Wirkliche Menschen in einer wirklichen Umgebung (uülieu) in Be¬<lb/>
wegung setzen, dem Leser ein herausgetrenntes Stück des menschlichen Lebens<lb/>
geben, das ist das Wesen des naturalistischen Romans."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1219"> Man merkt es dem neuesten Roman Zolas sehr bald an, daß er nach<lb/>
diesem Rezept gearbeitet worden ist; der Notizenkram guckt aus jeder Seite<lb/>
heraus. Vor allem hat Zola seine Urkunden bei gemeinen Soldaten gesam¬<lb/>
melt, die den Krieg mitgemacht haben. Das sind aber nur wenig zuverlässige<lb/>
Quellen, denn der im Feuer stehende Füsilier hat von der Entwicklung einer<lb/>
Schlacht nicht die geringste Ahnung. Aber was Zola 1'air g-mbiaut nennt,<lb/>
das läßt sich allerdings aus dem Verkehr mit dem Soldaten gewinnen: die<lb/>
militärischen Bezeichnungen, die Kommandos, die Schlagwörter, die Redens¬<lb/>
arten, die Flüche, die großen und kleinen Dienstverrichtungen, das Biwakleben,<lb/>
die Sorgen, Strapazen und Bedürfnisse. Daher kommt es auch, daß in diesem<lb/>
Roman das Essen und das Hungern eine so große Rolle spielen, denn wo die<lb/>
Leute einmal tüchtig gehungert haben, das vergessen sie Zeitlebens nicht.<lb/>
Hatte Zola in den frühern Romanen den Geschlechtstrieb gleichsam als Leit¬<lb/>
motiv für seine Geschichten benutzt, so nimmt er hier den Hunger dazu. Die<lb/>
französischen Soldaten hungern in dem Roman fortwährend. Bald werden sie<lb/>
durch deu unerwartet eiligen Ausbruch des Lagers am Abkochen gehindert,<lb/>
bald sind die Proviantwngen abhanden gekommen, bald haben die Leute, um<lb/>
sich den Marsch zu erleichtern, ihren Mundvorrat weggeworfen und finden<lb/>
dann in den Quartieren nichts oder können von den geizigen Bauern nichts<lb/>
erlangen. So hat Zola zu den Umständen, die eine fortwährende Niederlage<lb/>
bei seinen Landsleuten herbeiführten, sehr geschickt einen neuen aufgedeckt, der<lb/>
in der Verpflegung und in dem Verhalten der französischen Truppen selbst lag,<lb/>
und mit dem er doch die Eitelkeit der Franzosen nicht verletzt, denn eine<lb/>
hungernde Truppe, das ist doch klar, ist schon halb geschlagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1220" next="#ID_1221"> Sein ganzer Kriegsroman ist die Geschichte einer Kvrporalschaft, und zwar<lb/>
der Korporalschaft, die der Reserveunterofsizier Jean Macanart während des<lb/>
Krieges unter seiner Führung hat. Die Soldaten dieser Zeltgenvsfenschaft<lb/>
sollen gleichsam die Typen des ganzen französischen Heeres bilden. Ihre<lb/>
geistigen und moralischen Eigenschaften, ihre Ideen und Gesinnungen sollen<lb/>
das Wesen und den Charakter wiederspiegeln, die in den Truppen des zweiten<lb/>
Kaiserreichs herrschten. Den Korporal Jean Macquart kennen wir schon aus<lb/>
1^ Isriö.  Gleich im Anfange dieses Vauernrvmans haben wir ihn in jener</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0364] Zolas Ariegsroman Oud^Llo Sind diese Dokumente erst vollständig da, so macht sich sein Roman ganz von selbst. Der Schriftsteller hat die Thatsachen nur logisch zu ordnen. Aus dem gesammelten Stoff entwickelt sich allmählich die ganze Handlung, die Fabel, die notwendig ist, um die einzelnen Kapitel des Romans aufzubauen. Das Interesse liegt nicht mehr in der Seltsamkeit und Fremdartigkeit der Fabel; im Gegenteil, je alltäglicher und allgemeiner sie ist, desto mehr wird sie typisch. Wirkliche Menschen in einer wirklichen Umgebung (uülieu) in Be¬ wegung setzen, dem Leser ein herausgetrenntes Stück des menschlichen Lebens geben, das ist das Wesen des naturalistischen Romans." Man merkt es dem neuesten Roman Zolas sehr bald an, daß er nach diesem Rezept gearbeitet worden ist; der Notizenkram guckt aus jeder Seite heraus. Vor allem hat Zola seine Urkunden bei gemeinen Soldaten gesam¬ melt, die den Krieg mitgemacht haben. Das sind aber nur wenig zuverlässige Quellen, denn der im Feuer stehende Füsilier hat von der Entwicklung einer Schlacht nicht die geringste Ahnung. Aber was Zola 1'air g-mbiaut nennt, das läßt sich allerdings aus dem Verkehr mit dem Soldaten gewinnen: die militärischen Bezeichnungen, die Kommandos, die Schlagwörter, die Redens¬ arten, die Flüche, die großen und kleinen Dienstverrichtungen, das Biwakleben, die Sorgen, Strapazen und Bedürfnisse. Daher kommt es auch, daß in diesem Roman das Essen und das Hungern eine so große Rolle spielen, denn wo die Leute einmal tüchtig gehungert haben, das vergessen sie Zeitlebens nicht. Hatte Zola in den frühern Romanen den Geschlechtstrieb gleichsam als Leit¬ motiv für seine Geschichten benutzt, so nimmt er hier den Hunger dazu. Die französischen Soldaten hungern in dem Roman fortwährend. Bald werden sie durch deu unerwartet eiligen Ausbruch des Lagers am Abkochen gehindert, bald sind die Proviantwngen abhanden gekommen, bald haben die Leute, um sich den Marsch zu erleichtern, ihren Mundvorrat weggeworfen und finden dann in den Quartieren nichts oder können von den geizigen Bauern nichts erlangen. So hat Zola zu den Umständen, die eine fortwährende Niederlage bei seinen Landsleuten herbeiführten, sehr geschickt einen neuen aufgedeckt, der in der Verpflegung und in dem Verhalten der französischen Truppen selbst lag, und mit dem er doch die Eitelkeit der Franzosen nicht verletzt, denn eine hungernde Truppe, das ist doch klar, ist schon halb geschlagen. Sein ganzer Kriegsroman ist die Geschichte einer Kvrporalschaft, und zwar der Korporalschaft, die der Reserveunterofsizier Jean Macanart während des Krieges unter seiner Führung hat. Die Soldaten dieser Zeltgenvsfenschaft sollen gleichsam die Typen des ganzen französischen Heeres bilden. Ihre geistigen und moralischen Eigenschaften, ihre Ideen und Gesinnungen sollen das Wesen und den Charakter wiederspiegeln, die in den Truppen des zweiten Kaiserreichs herrschten. Den Korporal Jean Macquart kennen wir schon aus 1^ Isriö. Gleich im Anfange dieses Vauernrvmans haben wir ihn in jener

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/364
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/364>, abgerufen am 09.01.2025.