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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Weltgeschichte in ^interwinkel

Wenigen Minuten standen sie bereit. Lienhard überreichte mir den unvollen¬
deten Brief an seine Mutter. Grüße sie alle, auch Rothermunds, sagte er
und eilte hinaus, ehe ich ein Wort hatte erwidern können. Die beiden
Kameraden folgten, der Tuttlinger, der einen Augenblick verstummt gewesen
war, mit einem ehnischen Wort auf die Preußen.

Auch mich triebs ins Freie. Ich fühlte mich nicht frei von Furcht und
heimlicher Beklemmung, aber meine Neugierde, von der Phantasie gestachelt,
trieb mich vorwärts.

Auf dem Marktplatz sah ich die einzelnen Kompagnien unter Trommel¬
schlag und Signalblasen abmarschieren. Ich folgte den Abziehenden, aber
keineswegs allein; auch andre vereinzelte Menschen, Schüler, Lehrjungen, auch
einige Bürger, wagten sich vor.

Doch nach kaum zwanzig Schritten hielt ich an. Der Geschützdonner auf
den Höhen hatten nachgelassen, dafür begann, wie es schien, in nächster Nähe
ein heftiges Gewehrfeuer, von Horn- und Trommelsigualen übertönt.

Es wurde Ernst mit dem Kriege.

Ich stand an eine Hausthüre gedrückt und sah mich plötzlich allein auf
der weiten Straße. Da dachte ich, daß es geraten sein möchte, mich irgendwo
in ein Versteck zu flüchten, als ein gewaltiges Hurrageschrei erscholl und unsre
Soldaten in eiliger Flucht sich in die Stadtgasse herein wälzten, von unzäh¬
ligen preußischen Pickelhauben verfolgt, die immer lautere und lustigere Hurra
ausstießen.

Ich hörte Kugeln durch die Luft sausen und sah einen Soldaten blutend
aufs Pflaster hinschlagen. Zu spät begriff ich, wie sehr ich in die Klemme
geraten war, und ich wußte nichts beßres zu beginnen, als ebenfalls die
Flucht zu ergreifen und vor den pfeifenden Kugeln in einer Seitengasse Schutz
zu suche". Aber auch hier war bald alles voll Soldaten, und zwei davon sah
ich sich in eine offne Scheune flüchten. Denen folgte ich.

Wir versteckten uns auf dem dunkeln Heuboden, und als sich die Sol¬
daten von dem ersten Schrecken erholt hatten und Worte zu wechseln be¬
gannen, erkannte ich in dem einen den lustigen Tuttlinger. Die Lustigkeit
war ihm vergangen gewesen; sie kam ihm erst in seinem sichern Versteck lang¬
sam wieder.

Indessen wurden die Flintenschüsse in den Straßen der Stadt seltner
und hörten endlich ganz ans. Nur draußen über dem Fluß knallte es noch
fort, doch nur kurze Zeit, dann ward es still, und alles schien vorüber.

Nun kam dem Tuttlinger sein Humor wieder. Er zeigte sich unerschöpf¬
lich in Auslassungen über die Preußen, ihre Pickelhauben, ihre Zündnadel¬
gewehre und noch andre Dinge an ihnen, auch solche, die man gewöhnlich
nicht nennt -- und alles in seinem wunderbaren Tuttliuger Dialekt, der mir


Weltgeschichte in ^interwinkel

Wenigen Minuten standen sie bereit. Lienhard überreichte mir den unvollen¬
deten Brief an seine Mutter. Grüße sie alle, auch Rothermunds, sagte er
und eilte hinaus, ehe ich ein Wort hatte erwidern können. Die beiden
Kameraden folgten, der Tuttlinger, der einen Augenblick verstummt gewesen
war, mit einem ehnischen Wort auf die Preußen.

Auch mich triebs ins Freie. Ich fühlte mich nicht frei von Furcht und
heimlicher Beklemmung, aber meine Neugierde, von der Phantasie gestachelt,
trieb mich vorwärts.

Auf dem Marktplatz sah ich die einzelnen Kompagnien unter Trommel¬
schlag und Signalblasen abmarschieren. Ich folgte den Abziehenden, aber
keineswegs allein; auch andre vereinzelte Menschen, Schüler, Lehrjungen, auch
einige Bürger, wagten sich vor.

Doch nach kaum zwanzig Schritten hielt ich an. Der Geschützdonner auf
den Höhen hatten nachgelassen, dafür begann, wie es schien, in nächster Nähe
ein heftiges Gewehrfeuer, von Horn- und Trommelsigualen übertönt.

Es wurde Ernst mit dem Kriege.

Ich stand an eine Hausthüre gedrückt und sah mich plötzlich allein auf
der weiten Straße. Da dachte ich, daß es geraten sein möchte, mich irgendwo
in ein Versteck zu flüchten, als ein gewaltiges Hurrageschrei erscholl und unsre
Soldaten in eiliger Flucht sich in die Stadtgasse herein wälzten, von unzäh¬
ligen preußischen Pickelhauben verfolgt, die immer lautere und lustigere Hurra
ausstießen.

Ich hörte Kugeln durch die Luft sausen und sah einen Soldaten blutend
aufs Pflaster hinschlagen. Zu spät begriff ich, wie sehr ich in die Klemme
geraten war, und ich wußte nichts beßres zu beginnen, als ebenfalls die
Flucht zu ergreifen und vor den pfeifenden Kugeln in einer Seitengasse Schutz
zu suche». Aber auch hier war bald alles voll Soldaten, und zwei davon sah
ich sich in eine offne Scheune flüchten. Denen folgte ich.

Wir versteckten uns auf dem dunkeln Heuboden, und als sich die Sol¬
daten von dem ersten Schrecken erholt hatten und Worte zu wechseln be¬
gannen, erkannte ich in dem einen den lustigen Tuttlinger. Die Lustigkeit
war ihm vergangen gewesen; sie kam ihm erst in seinem sichern Versteck lang¬
sam wieder.

Indessen wurden die Flintenschüsse in den Straßen der Stadt seltner
und hörten endlich ganz ans. Nur draußen über dem Fluß knallte es noch
fort, doch nur kurze Zeit, dann ward es still, und alles schien vorüber.

Nun kam dem Tuttlinger sein Humor wieder. Er zeigte sich unerschöpf¬
lich in Auslassungen über die Preußen, ihre Pickelhauben, ihre Zündnadel¬
gewehre und noch andre Dinge an ihnen, auch solche, die man gewöhnlich
nicht nennt — und alles in seinem wunderbaren Tuttliuger Dialekt, der mir


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[0293] Weltgeschichte in ^interwinkel Wenigen Minuten standen sie bereit. Lienhard überreichte mir den unvollen¬ deten Brief an seine Mutter. Grüße sie alle, auch Rothermunds, sagte er und eilte hinaus, ehe ich ein Wort hatte erwidern können. Die beiden Kameraden folgten, der Tuttlinger, der einen Augenblick verstummt gewesen war, mit einem ehnischen Wort auf die Preußen. Auch mich triebs ins Freie. Ich fühlte mich nicht frei von Furcht und heimlicher Beklemmung, aber meine Neugierde, von der Phantasie gestachelt, trieb mich vorwärts. Auf dem Marktplatz sah ich die einzelnen Kompagnien unter Trommel¬ schlag und Signalblasen abmarschieren. Ich folgte den Abziehenden, aber keineswegs allein; auch andre vereinzelte Menschen, Schüler, Lehrjungen, auch einige Bürger, wagten sich vor. Doch nach kaum zwanzig Schritten hielt ich an. Der Geschützdonner auf den Höhen hatten nachgelassen, dafür begann, wie es schien, in nächster Nähe ein heftiges Gewehrfeuer, von Horn- und Trommelsigualen übertönt. Es wurde Ernst mit dem Kriege. Ich stand an eine Hausthüre gedrückt und sah mich plötzlich allein auf der weiten Straße. Da dachte ich, daß es geraten sein möchte, mich irgendwo in ein Versteck zu flüchten, als ein gewaltiges Hurrageschrei erscholl und unsre Soldaten in eiliger Flucht sich in die Stadtgasse herein wälzten, von unzäh¬ ligen preußischen Pickelhauben verfolgt, die immer lautere und lustigere Hurra ausstießen. Ich hörte Kugeln durch die Luft sausen und sah einen Soldaten blutend aufs Pflaster hinschlagen. Zu spät begriff ich, wie sehr ich in die Klemme geraten war, und ich wußte nichts beßres zu beginnen, als ebenfalls die Flucht zu ergreifen und vor den pfeifenden Kugeln in einer Seitengasse Schutz zu suche». Aber auch hier war bald alles voll Soldaten, und zwei davon sah ich sich in eine offne Scheune flüchten. Denen folgte ich. Wir versteckten uns auf dem dunkeln Heuboden, und als sich die Sol¬ daten von dem ersten Schrecken erholt hatten und Worte zu wechseln be¬ gannen, erkannte ich in dem einen den lustigen Tuttlinger. Die Lustigkeit war ihm vergangen gewesen; sie kam ihm erst in seinem sichern Versteck lang¬ sam wieder. Indessen wurden die Flintenschüsse in den Straßen der Stadt seltner und hörten endlich ganz ans. Nur draußen über dem Fluß knallte es noch fort, doch nur kurze Zeit, dann ward es still, und alles schien vorüber. Nun kam dem Tuttlinger sein Humor wieder. Er zeigte sich unerschöpf¬ lich in Auslassungen über die Preußen, ihre Pickelhauben, ihre Zündnadel¬ gewehre und noch andre Dinge an ihnen, auch solche, die man gewöhnlich nicht nennt — und alles in seinem wunderbaren Tuttliuger Dialekt, der mir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/293>, abgerufen am 09.01.2025.