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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Weltgeschichte in Hintenvinkel

die sich dabei entblößenden Beine und Kniee. Dann bot sie einen entsetzlichen
Anblick für mich.

Und doch gestaltete sich mit der Zeit eine Art Freundschaft zwischen uns.
Ich sah, daß ihr meine Gesellschaft wohl that, und wollte nicht stolz gegen
sie scheinen. Deshalb gesellte ich mich manchmal zu ihr und horte ihre Klagen
an, ihre Auseinandersetzungen über soziale Ideen, über arm und reich, die
sie aller drei Worte mit dem Ausruf: "O du kreuzsterbender 5^)enand!" unter¬
brach. Man hat oft seltsame Freunde während seines Lebens.

Besonders weichherzig und weinerlich wurde die Rede der Hanne, wenn
sie das Gespräch auf ihren Cypria" lenkte. Sie hatte als junges Mädchen
in Nürnberg gedient und war mit diesem Chprian nach Hinterwinkel zurück¬
gekehrt. Sie sprach gern von ihm, wenn sie auch sehr dabei greinen mußte;
sie rühmte seine Schönheit und seinen Witz, gelegentlich auch seinen Vater,
einen blauen Reiteroffizier. Wenn ihr Chprian bei ihr wäre, meinte sie, so
ginge es ihr besser, dann wäre sie nicht wie eine Vogelscheuche jedem Wetter
ausgesetzt. Das bildete ihr ewiges Lied. Aber der Chprian hatte sast seit
zwanzig Jahren nichts von sich hören lassen. Beim Dorfschmied hatte er vier
Jahre lang in der Lehre gestanden, dann war er fortgezogen, und seine Mutter
hatte nichts wieder von ihm gehört.

Auch heute fing sie von ihrem Chprian an. Wo er uur sein mochte!
Gewiß lebe er noch; ihr Mutterherz sage ihrs täglich, das könne nicht lügen.
Am Ende sei er gar unter die Preußen gegangen und Soldat geworden. Das
sehe ihm ähnlich, das habe er von seinem Vater. Aber dann möchten sich
die schwäbischen Knollfinken, die Kraut- und Knöpflisschwaben vor ihm in
Acht nehmen.

Während diesen Reden der Hanne kam el" Fuhrwerk des Weges, des¬
selben Weges, der, ohne daß man ihn Straße nennen konnte, die Fahrverbin¬
dung nach Schillingsberg herstellte, das an der großen Landstraße lag. Es
war ein Leiterwagen, mit zwei Braunen bespannt, und als Fuhrmann erkannte
ich Jakob Schmitz von Lnngacker, genannt Schmitzenjockel, eine bekannte Persön¬
lichkeit. Er redete mich an, und ich hörte zu meiner größten Verwundrung,
daß der Schmitzenjockel in den Krieg ziehe, wirklich in den Krieg, weil er zu
Proviantfuhreu gedungen sei. Der alte Hauderer, selber ein ehemaliger Soldat,
las die Wirkung seiner Mitteilung in meinem Gesicht.

Wenn d' kein Schneider wärst, sagte er blinzelnd, würde ich sagen, du
solltest mitkommen, könntest was sehen und hören.

Die Anspielung auf den Schneider rührte mich nicht, ich fühlte mich im
Augenblick keineswegs als solchen. Ich erklärte dem Jockel, daß ich nichts
lieber thäte, wenn meine Eltern nur wüßten, wo ich bliebe, und sich nicht
ängstigten.

Die Hanne könne es ja meinen Eltern ausrichten, meinte Jockel. Wenn


Grenzboten Hi 1892 30
Weltgeschichte in Hintenvinkel

die sich dabei entblößenden Beine und Kniee. Dann bot sie einen entsetzlichen
Anblick für mich.

Und doch gestaltete sich mit der Zeit eine Art Freundschaft zwischen uns.
Ich sah, daß ihr meine Gesellschaft wohl that, und wollte nicht stolz gegen
sie scheinen. Deshalb gesellte ich mich manchmal zu ihr und horte ihre Klagen
an, ihre Auseinandersetzungen über soziale Ideen, über arm und reich, die
sie aller drei Worte mit dem Ausruf: „O du kreuzsterbender 5^)enand!" unter¬
brach. Man hat oft seltsame Freunde während seines Lebens.

Besonders weichherzig und weinerlich wurde die Rede der Hanne, wenn
sie das Gespräch auf ihren Cypria» lenkte. Sie hatte als junges Mädchen
in Nürnberg gedient und war mit diesem Chprian nach Hinterwinkel zurück¬
gekehrt. Sie sprach gern von ihm, wenn sie auch sehr dabei greinen mußte;
sie rühmte seine Schönheit und seinen Witz, gelegentlich auch seinen Vater,
einen blauen Reiteroffizier. Wenn ihr Chprian bei ihr wäre, meinte sie, so
ginge es ihr besser, dann wäre sie nicht wie eine Vogelscheuche jedem Wetter
ausgesetzt. Das bildete ihr ewiges Lied. Aber der Chprian hatte sast seit
zwanzig Jahren nichts von sich hören lassen. Beim Dorfschmied hatte er vier
Jahre lang in der Lehre gestanden, dann war er fortgezogen, und seine Mutter
hatte nichts wieder von ihm gehört.

Auch heute fing sie von ihrem Chprian an. Wo er uur sein mochte!
Gewiß lebe er noch; ihr Mutterherz sage ihrs täglich, das könne nicht lügen.
Am Ende sei er gar unter die Preußen gegangen und Soldat geworden. Das
sehe ihm ähnlich, das habe er von seinem Vater. Aber dann möchten sich
die schwäbischen Knollfinken, die Kraut- und Knöpflisschwaben vor ihm in
Acht nehmen.

Während diesen Reden der Hanne kam el» Fuhrwerk des Weges, des¬
selben Weges, der, ohne daß man ihn Straße nennen konnte, die Fahrverbin¬
dung nach Schillingsberg herstellte, das an der großen Landstraße lag. Es
war ein Leiterwagen, mit zwei Braunen bespannt, und als Fuhrmann erkannte
ich Jakob Schmitz von Lnngacker, genannt Schmitzenjockel, eine bekannte Persön¬
lichkeit. Er redete mich an, und ich hörte zu meiner größten Verwundrung,
daß der Schmitzenjockel in den Krieg ziehe, wirklich in den Krieg, weil er zu
Proviantfuhreu gedungen sei. Der alte Hauderer, selber ein ehemaliger Soldat,
las die Wirkung seiner Mitteilung in meinem Gesicht.

Wenn d' kein Schneider wärst, sagte er blinzelnd, würde ich sagen, du
solltest mitkommen, könntest was sehen und hören.

Die Anspielung auf den Schneider rührte mich nicht, ich fühlte mich im
Augenblick keineswegs als solchen. Ich erklärte dem Jockel, daß ich nichts
lieber thäte, wenn meine Eltern nur wüßten, wo ich bliebe, und sich nicht
ängstigten.

Die Hanne könne es ja meinen Eltern ausrichten, meinte Jockel. Wenn


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[0241] Weltgeschichte in Hintenvinkel die sich dabei entblößenden Beine und Kniee. Dann bot sie einen entsetzlichen Anblick für mich. Und doch gestaltete sich mit der Zeit eine Art Freundschaft zwischen uns. Ich sah, daß ihr meine Gesellschaft wohl that, und wollte nicht stolz gegen sie scheinen. Deshalb gesellte ich mich manchmal zu ihr und horte ihre Klagen an, ihre Auseinandersetzungen über soziale Ideen, über arm und reich, die sie aller drei Worte mit dem Ausruf: „O du kreuzsterbender 5^)enand!" unter¬ brach. Man hat oft seltsame Freunde während seines Lebens. Besonders weichherzig und weinerlich wurde die Rede der Hanne, wenn sie das Gespräch auf ihren Cypria» lenkte. Sie hatte als junges Mädchen in Nürnberg gedient und war mit diesem Chprian nach Hinterwinkel zurück¬ gekehrt. Sie sprach gern von ihm, wenn sie auch sehr dabei greinen mußte; sie rühmte seine Schönheit und seinen Witz, gelegentlich auch seinen Vater, einen blauen Reiteroffizier. Wenn ihr Chprian bei ihr wäre, meinte sie, so ginge es ihr besser, dann wäre sie nicht wie eine Vogelscheuche jedem Wetter ausgesetzt. Das bildete ihr ewiges Lied. Aber der Chprian hatte sast seit zwanzig Jahren nichts von sich hören lassen. Beim Dorfschmied hatte er vier Jahre lang in der Lehre gestanden, dann war er fortgezogen, und seine Mutter hatte nichts wieder von ihm gehört. Auch heute fing sie von ihrem Chprian an. Wo er uur sein mochte! Gewiß lebe er noch; ihr Mutterherz sage ihrs täglich, das könne nicht lügen. Am Ende sei er gar unter die Preußen gegangen und Soldat geworden. Das sehe ihm ähnlich, das habe er von seinem Vater. Aber dann möchten sich die schwäbischen Knollfinken, die Kraut- und Knöpflisschwaben vor ihm in Acht nehmen. Während diesen Reden der Hanne kam el» Fuhrwerk des Weges, des¬ selben Weges, der, ohne daß man ihn Straße nennen konnte, die Fahrverbin¬ dung nach Schillingsberg herstellte, das an der großen Landstraße lag. Es war ein Leiterwagen, mit zwei Braunen bespannt, und als Fuhrmann erkannte ich Jakob Schmitz von Lnngacker, genannt Schmitzenjockel, eine bekannte Persön¬ lichkeit. Er redete mich an, und ich hörte zu meiner größten Verwundrung, daß der Schmitzenjockel in den Krieg ziehe, wirklich in den Krieg, weil er zu Proviantfuhreu gedungen sei. Der alte Hauderer, selber ein ehemaliger Soldat, las die Wirkung seiner Mitteilung in meinem Gesicht. Wenn d' kein Schneider wärst, sagte er blinzelnd, würde ich sagen, du solltest mitkommen, könntest was sehen und hören. Die Anspielung auf den Schneider rührte mich nicht, ich fühlte mich im Augenblick keineswegs als solchen. Ich erklärte dem Jockel, daß ich nichts lieber thäte, wenn meine Eltern nur wüßten, wo ich bliebe, und sich nicht ängstigten. Die Hanne könne es ja meinen Eltern ausrichten, meinte Jockel. Wenn Grenzboten Hi 1892 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/241>, abgerufen am 08.01.2025.