Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Robert Schumanns gesammelte Schriften an ihn darüber: "Kritisiren nach dein ersten Hören eines solchen Stücks kann Schumanns Kritiken erschienen zuerst im Jean Parischen Gewände, aber Robert Schumanns gesammelte Schriften an ihn darüber: „Kritisiren nach dein ersten Hören eines solchen Stücks kann Schumanns Kritiken erschienen zuerst im Jean Parischen Gewände, aber <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0235" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212711"/> <fw type="header" place="top"> Robert Schumanns gesammelte Schriften</fw><lb/> <p xml:id="ID_764" prev="#ID_763"> an ihn darüber: „Kritisiren nach dein ersten Hören eines solchen Stücks kann<lb/> ich nicht — aber mich ganz hingeben. Dann drängt sich mir wohl ein Bild<lb/> auf, und daß ichs nicht verschweige, welches es war, das einer Grazie, die<lb/> auf Augenblicke, wie sich selbst vergessend, von leidenschaftlichem Regungen<lb/> ergriffen wird, sodaß sie wie die Muse selber anzusehn ist; gleich malen möchte<lb/> ich es." Wohl versteht er es auch, ein Musikstück mechanisch zu zergliedern,<lb/> und dabei verschmäht er es nicht, den geringsten Unregelmäßigkeiten in seinem<lb/> Bau nachzuspüren. Doch hält er immer die für die höchste Kritik, „die durch<lb/> sich selbst einen Eindruck hinterläßt, dem gleich, den das anregende Original<lb/> hervorbringt. Das ist freilich leichter gesagt als gethan und würde einen nur<lb/> höhern Gegendichter verlangen." Er selbst war aber ein solcher Dichter,<lb/> und darum kann man feine Kritiken mit Genuß lesen, selbst ohne die besprochnen<lb/> Musikstücke zu kennen. Aber man wird höchst begierig gemacht, sie kennen zu<lb/> lernen, man möchte sich womöglich eine kleine Bibliothek anlegen von all den<lb/> Kompositionen, die in Schumanns Schriften genannt sind. Darum hat Jansen<lb/> mit Recht der neuen Ausgabe viele Notenbeispiele hinzugefügt, besonders aus<lb/> Werken, die nicht in jedem Notenschranke zu finden sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_765" next="#ID_766"> Schumanns Kritiken erschienen zuerst im Jean Parischen Gewände, aber<lb/> das legte er mit der Zeit ab. Sein Stil wird später ganz anders, er ge¬<lb/> winnt ein wahrhaft klassisches Gepräge, er ist anmutig, glänzend, ruhig,<lb/> klar und überzeugend. Man lese mir die in Wien geschriebne Vorrede<lb/> zum Jahrgange 1839, den Aufsatz über Schuberts <ü-aur-Symphonie oder die<lb/> goldnen Haus- und Lebensregeln. Daß sich ein Schriftsteller von unfreier<lb/> Nachahmung eines einflußreichen Vorbildes so zur Selbständigkeit erhebt,<lb/> dafür wird es wohl mir wenige Beispiele geben. Moltke gehört zu ihnen,<lb/> dessen erste Abhandlung (Holland und Belgien seit ihrer Trennung nnter<lb/> Philipp II.) ebenso gut von Schiller verfaßt sein könnte; aber schon seine<lb/> türkischen Briefe zeigen volle Selbständigkeit des Stils. Beiden gemein ist<lb/> auch ein reiches Gemüt und eine Fülle von Humor. Namentlich den Tadel<lb/> kleidet Schumann gern humoristisch ein. „Herz, mein Herz, warum so traurig?"<lb/> ruft er bei dem in der ernsten Tonart D-moll gehenden Klavierkonzert von<lb/> H.Herz, und weist dann nach, daß das ganze Werk aus Reminiscenzen zu¬<lb/> sammengeflickt ist. „Sogar eine Stelle ans Beethovens neunter Symphonie<lb/> kommt darin vor, die doch Herz gewiß nicht kennt." Von einer Sonate<lb/> eines andern sagt er, der letzte Satz würde neu sein, wenn es keinen letzten<lb/> aus der ?-mol1-Sonate von Beethoven gäbe; über eine Serenade von Tedesco:<lb/> „Wer kein Musiker ist, sollte nicht musiziren"; von Balfe: „Er ist ein wahrer<lb/> musikalischer Taugenichts." Welch ein Humor, wenn er einen Kantor vom<lb/> Lande in die Musikstadt kommen läßt: „man legt ihm Neustes vor, von nichts<lb/> will er wissen, endlich nimmt er eine Sonate mit, die erste von Chopin (ox. 35).<lb/> Zu Hause fällt er her über das Stück — aber schon nach der ersten Seite</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0235]
Robert Schumanns gesammelte Schriften
an ihn darüber: „Kritisiren nach dein ersten Hören eines solchen Stücks kann
ich nicht — aber mich ganz hingeben. Dann drängt sich mir wohl ein Bild
auf, und daß ichs nicht verschweige, welches es war, das einer Grazie, die
auf Augenblicke, wie sich selbst vergessend, von leidenschaftlichem Regungen
ergriffen wird, sodaß sie wie die Muse selber anzusehn ist; gleich malen möchte
ich es." Wohl versteht er es auch, ein Musikstück mechanisch zu zergliedern,
und dabei verschmäht er es nicht, den geringsten Unregelmäßigkeiten in seinem
Bau nachzuspüren. Doch hält er immer die für die höchste Kritik, „die durch
sich selbst einen Eindruck hinterläßt, dem gleich, den das anregende Original
hervorbringt. Das ist freilich leichter gesagt als gethan und würde einen nur
höhern Gegendichter verlangen." Er selbst war aber ein solcher Dichter,
und darum kann man feine Kritiken mit Genuß lesen, selbst ohne die besprochnen
Musikstücke zu kennen. Aber man wird höchst begierig gemacht, sie kennen zu
lernen, man möchte sich womöglich eine kleine Bibliothek anlegen von all den
Kompositionen, die in Schumanns Schriften genannt sind. Darum hat Jansen
mit Recht der neuen Ausgabe viele Notenbeispiele hinzugefügt, besonders aus
Werken, die nicht in jedem Notenschranke zu finden sind.
Schumanns Kritiken erschienen zuerst im Jean Parischen Gewände, aber
das legte er mit der Zeit ab. Sein Stil wird später ganz anders, er ge¬
winnt ein wahrhaft klassisches Gepräge, er ist anmutig, glänzend, ruhig,
klar und überzeugend. Man lese mir die in Wien geschriebne Vorrede
zum Jahrgange 1839, den Aufsatz über Schuberts <ü-aur-Symphonie oder die
goldnen Haus- und Lebensregeln. Daß sich ein Schriftsteller von unfreier
Nachahmung eines einflußreichen Vorbildes so zur Selbständigkeit erhebt,
dafür wird es wohl mir wenige Beispiele geben. Moltke gehört zu ihnen,
dessen erste Abhandlung (Holland und Belgien seit ihrer Trennung nnter
Philipp II.) ebenso gut von Schiller verfaßt sein könnte; aber schon seine
türkischen Briefe zeigen volle Selbständigkeit des Stils. Beiden gemein ist
auch ein reiches Gemüt und eine Fülle von Humor. Namentlich den Tadel
kleidet Schumann gern humoristisch ein. „Herz, mein Herz, warum so traurig?"
ruft er bei dem in der ernsten Tonart D-moll gehenden Klavierkonzert von
H.Herz, und weist dann nach, daß das ganze Werk aus Reminiscenzen zu¬
sammengeflickt ist. „Sogar eine Stelle ans Beethovens neunter Symphonie
kommt darin vor, die doch Herz gewiß nicht kennt." Von einer Sonate
eines andern sagt er, der letzte Satz würde neu sein, wenn es keinen letzten
aus der ?-mol1-Sonate von Beethoven gäbe; über eine Serenade von Tedesco:
„Wer kein Musiker ist, sollte nicht musiziren"; von Balfe: „Er ist ein wahrer
musikalischer Taugenichts." Welch ein Humor, wenn er einen Kantor vom
Lande in die Musikstadt kommen läßt: „man legt ihm Neustes vor, von nichts
will er wissen, endlich nimmt er eine Sonate mit, die erste von Chopin (ox. 35).
Zu Hause fällt er her über das Stück — aber schon nach der ersten Seite
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