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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Tuiskolaud

Hödur ist der Sohn des oft blind oder einäugig gedachten Odin; er ist, nach¬
dem die Dioskurenmythe mit der svlarischen zusammengeflossen war, außerdem
der Vertreter des lichtarmer, finstern, blinden Wintergottes. So spricht alles
dafür, daß der nordische Baldermythus schon vor drei Jahrtausenden vorhanden
war, daß er zu Herodots Ohren ^dem Herodot zu Ohrenkam, ohne völliges
Verständnis zu finden, und dadurch (?) in verballhornter Gestalt in die lydische
Geschichte verwebt wurde."

Hierzu mochten wir uns einige Bemerkungen erlauben. Es vergeht kein
Monat, wo man nicht in der Zeitung von irgend einem dummen Jungen läse,
der mit einem Schießgewehre gespielt und ein Geschwister oder sonst jemand
erschossen hat. Auch absichtliche Brudermorde aus Eifersucht, Neid, Habsucht
kommen in allen Jahrhunderten vor. Selbstverständlich ist der Ermordete
stets der beßre Bruder. Nun ist es ja gar nicht zu bezweifeln, daß sich die
mytheubildende Phantasie namentlich im Norden die Nacht als den schlimmern
Bruder des Tages und als seinen Mörder gedacht und nach Phantafiebmuch
bald dem Tage das Tagesgestirn, bald der Sonne den Tag untergeschoben
hat. Aber muß darum jede Brudermordgeschichte ein Naturmhthus sein, da
doch Brudermorde leider nichts so ganz seltnes sind? Und kann nicht so ein
Ereignis am Hofe des Krösus wirklich vorgekommen sein, wenn es auch viel¬
leicht von der Sage ausgeschmückt worden ist? Trügende Träume und Orakel
aber find ein in den alten Sagen so häufig vorkommender Zug, daß wir
darum, weil er auch in die Geschichte des Krösus mehrfach verwebt ist, die
Hauptereignisse dieser Geschichte noch nicht für unwahr zu halten brauchen.

Und diesen Gedanken weiterspinuend, sagen wir serner: gewiß haben die
Alten überall, wie es auch der Psalmist thut, in der Sonne bald einen glän¬
zenden Helden gesehen, der aus seinem Zelte hervorgeht, die ruhmvolle Bahn
zu laufen, bald einen Bräutigam, der sich des Morgens, strahlend von Glück
und Schönheit, vom Lager erhebt. Aber hat es in alten Zeiten nicht auch
wirkliche Helden und wirkliche Bräutigame gegeben, und muß jeder Held, jeder
Bräutigam und Ehemann, der in alten Geschichten vorkommt, unbedingt ein
Sonnengott sein? Denn selbstverständlich gelten den modernen Mythologen,
auch unserm Krause, Achilleus und Odysseus für Sonnengötter. Und nicht
minder sollen alle Geschichten von Ehemännern, die nach langer Abwesenheit
zu ihren Gattinnen heimgekehrt sind, Variationen des Sonncnmhthus sein, als
ob nicht solche Geschichten auch bei uns noch zuweilen vorkämen! Und jedes
junge frische Mädchen ist ja allerdings eine Frühlingsgöttin -- als solche
wird Nausikan bezeichnet -, aber zum Glück ist sie doch meistens kein bloßer
Mythus, sondern nebenbei auch ein wirkliches Mädchen, und die liebliche
Tochter des Phüakenkönigs wird doch so menschlich geschildert, sie ist doch so
aus dem Leben gegriffen, daß der Gedanke an ein menschliches Modell weit
näher liegt, als an einen nebelhaften Mythus. ,


Tuiskolaud

Hödur ist der Sohn des oft blind oder einäugig gedachten Odin; er ist, nach¬
dem die Dioskurenmythe mit der svlarischen zusammengeflossen war, außerdem
der Vertreter des lichtarmer, finstern, blinden Wintergottes. So spricht alles
dafür, daß der nordische Baldermythus schon vor drei Jahrtausenden vorhanden
war, daß er zu Herodots Ohren ^dem Herodot zu Ohrenkam, ohne völliges
Verständnis zu finden, und dadurch (?) in verballhornter Gestalt in die lydische
Geschichte verwebt wurde."

Hierzu mochten wir uns einige Bemerkungen erlauben. Es vergeht kein
Monat, wo man nicht in der Zeitung von irgend einem dummen Jungen läse,
der mit einem Schießgewehre gespielt und ein Geschwister oder sonst jemand
erschossen hat. Auch absichtliche Brudermorde aus Eifersucht, Neid, Habsucht
kommen in allen Jahrhunderten vor. Selbstverständlich ist der Ermordete
stets der beßre Bruder. Nun ist es ja gar nicht zu bezweifeln, daß sich die
mytheubildende Phantasie namentlich im Norden die Nacht als den schlimmern
Bruder des Tages und als seinen Mörder gedacht und nach Phantafiebmuch
bald dem Tage das Tagesgestirn, bald der Sonne den Tag untergeschoben
hat. Aber muß darum jede Brudermordgeschichte ein Naturmhthus sein, da
doch Brudermorde leider nichts so ganz seltnes sind? Und kann nicht so ein
Ereignis am Hofe des Krösus wirklich vorgekommen sein, wenn es auch viel¬
leicht von der Sage ausgeschmückt worden ist? Trügende Träume und Orakel
aber find ein in den alten Sagen so häufig vorkommender Zug, daß wir
darum, weil er auch in die Geschichte des Krösus mehrfach verwebt ist, die
Hauptereignisse dieser Geschichte noch nicht für unwahr zu halten brauchen.

Und diesen Gedanken weiterspinuend, sagen wir serner: gewiß haben die
Alten überall, wie es auch der Psalmist thut, in der Sonne bald einen glän¬
zenden Helden gesehen, der aus seinem Zelte hervorgeht, die ruhmvolle Bahn
zu laufen, bald einen Bräutigam, der sich des Morgens, strahlend von Glück
und Schönheit, vom Lager erhebt. Aber hat es in alten Zeiten nicht auch
wirkliche Helden und wirkliche Bräutigame gegeben, und muß jeder Held, jeder
Bräutigam und Ehemann, der in alten Geschichten vorkommt, unbedingt ein
Sonnengott sein? Denn selbstverständlich gelten den modernen Mythologen,
auch unserm Krause, Achilleus und Odysseus für Sonnengötter. Und nicht
minder sollen alle Geschichten von Ehemännern, die nach langer Abwesenheit
zu ihren Gattinnen heimgekehrt sind, Variationen des Sonncnmhthus sein, als
ob nicht solche Geschichten auch bei uns noch zuweilen vorkämen! Und jedes
junge frische Mädchen ist ja allerdings eine Frühlingsgöttin — als solche
wird Nausikan bezeichnet -, aber zum Glück ist sie doch meistens kein bloßer
Mythus, sondern nebenbei auch ein wirkliches Mädchen, und die liebliche
Tochter des Phüakenkönigs wird doch so menschlich geschildert, sie ist doch so
aus dem Leben gegriffen, daß der Gedanke an ein menschliches Modell weit
näher liegt, als an einen nebelhaften Mythus. ,


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[0227] Tuiskolaud Hödur ist der Sohn des oft blind oder einäugig gedachten Odin; er ist, nach¬ dem die Dioskurenmythe mit der svlarischen zusammengeflossen war, außerdem der Vertreter des lichtarmer, finstern, blinden Wintergottes. So spricht alles dafür, daß der nordische Baldermythus schon vor drei Jahrtausenden vorhanden war, daß er zu Herodots Ohren ^dem Herodot zu Ohrenkam, ohne völliges Verständnis zu finden, und dadurch (?) in verballhornter Gestalt in die lydische Geschichte verwebt wurde." Hierzu mochten wir uns einige Bemerkungen erlauben. Es vergeht kein Monat, wo man nicht in der Zeitung von irgend einem dummen Jungen läse, der mit einem Schießgewehre gespielt und ein Geschwister oder sonst jemand erschossen hat. Auch absichtliche Brudermorde aus Eifersucht, Neid, Habsucht kommen in allen Jahrhunderten vor. Selbstverständlich ist der Ermordete stets der beßre Bruder. Nun ist es ja gar nicht zu bezweifeln, daß sich die mytheubildende Phantasie namentlich im Norden die Nacht als den schlimmern Bruder des Tages und als seinen Mörder gedacht und nach Phantafiebmuch bald dem Tage das Tagesgestirn, bald der Sonne den Tag untergeschoben hat. Aber muß darum jede Brudermordgeschichte ein Naturmhthus sein, da doch Brudermorde leider nichts so ganz seltnes sind? Und kann nicht so ein Ereignis am Hofe des Krösus wirklich vorgekommen sein, wenn es auch viel¬ leicht von der Sage ausgeschmückt worden ist? Trügende Träume und Orakel aber find ein in den alten Sagen so häufig vorkommender Zug, daß wir darum, weil er auch in die Geschichte des Krösus mehrfach verwebt ist, die Hauptereignisse dieser Geschichte noch nicht für unwahr zu halten brauchen. Und diesen Gedanken weiterspinuend, sagen wir serner: gewiß haben die Alten überall, wie es auch der Psalmist thut, in der Sonne bald einen glän¬ zenden Helden gesehen, der aus seinem Zelte hervorgeht, die ruhmvolle Bahn zu laufen, bald einen Bräutigam, der sich des Morgens, strahlend von Glück und Schönheit, vom Lager erhebt. Aber hat es in alten Zeiten nicht auch wirkliche Helden und wirkliche Bräutigame gegeben, und muß jeder Held, jeder Bräutigam und Ehemann, der in alten Geschichten vorkommt, unbedingt ein Sonnengott sein? Denn selbstverständlich gelten den modernen Mythologen, auch unserm Krause, Achilleus und Odysseus für Sonnengötter. Und nicht minder sollen alle Geschichten von Ehemännern, die nach langer Abwesenheit zu ihren Gattinnen heimgekehrt sind, Variationen des Sonncnmhthus sein, als ob nicht solche Geschichten auch bei uns noch zuweilen vorkämen! Und jedes junge frische Mädchen ist ja allerdings eine Frühlingsgöttin — als solche wird Nausikan bezeichnet -, aber zum Glück ist sie doch meistens kein bloßer Mythus, sondern nebenbei auch ein wirkliches Mädchen, und die liebliche Tochter des Phüakenkönigs wird doch so menschlich geschildert, sie ist doch so aus dem Leben gegriffen, daß der Gedanke an ein menschliches Modell weit näher liegt, als an einen nebelhaften Mythus. ,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/227>, abgerufen am 08.01.2025.