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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Tuiskoland

Sträuche und Bäume kaum einen Verlust der Vegetation im Winter merken
lassen, und höchstens einige Frühlingsblumen daran erinnern, daß für die
Pflanzenwelt ein neuer Abschnitt beginnt?" So viel ist allerdings richtig, daß
in Ägypten ein Svnneuwendfest nicht volkstümlich werden kam?, und daß von
Italien aus nordwärts die Inbrunst der Frühlingsluft wächst.

Zur Veranschaulichung der dritten Art von Beweisführung heben wir
den Baldermythus heraus, zu dem Krause in der Geschichte von den Söhnen
des Krösus die griechische Parallele findet. Folgendermaßen faßt er seine
Untersuchung zusammen. "1. König Odin hat zwei Söhne, von denen der
eine, ein Muster aller Vollkommenheit, von Göttern und Menschen geliebt wird,
der andre durch einen Naturfehler (er ist blind) von der Thronfolge ausge¬
schlossen erscheint. König Krösos von Lydien hat zwei Söhne, von denen der
eine durch seine Tugenden alle Altersgenossen überstrahlt, der andre durch
einen Naturfehler (er ist taub) von der Thronfolge ausgeschlossen erscheint.
2. Die Asen haben böse Träume, nach denen ihrem allgeliebten Balder von
einer unheimlichen Waffe Gefahr drohe. Krösos träumt, daß ein spitzes Eisen
seineu geliebten Sohn Alss töten werde. 3. Frigga nimmt alle Geschöpfe in
Eid, ihrem Sohne nicht schaden zu Wollen. Krösos entfernt alle eisernen
Waffen aus dem Bereiche des Sohnes. 4. Balder wird jung vermählt, seine
Gattin heißt Nanna, Atys wird jung vermählt, seine Mutter heißt Nana.
5. Die Asen machen sich ein Vergnügen daraus, auf Balder zu schießen, weil
kein Geschoß ihm schaden kann. Alss giebt sich dem Jagdvergnügen hin, weil
er den Zahn des Ebers nicht zu fürchten braucht. 6. Sein eigner Bruder
tötet ihn (den Balder) unabsichtlich. Ein Freund, durch dessen Versehen be¬
reits ein Bruder ermordet wurde, tötet den Atys unabsichtlich. 7. Dem Loki
wird Schuld gegeben, den Mord veranlaßt zu haben. Die Schuld an dem
Tode des Atys wird einem Gotte beigemessen. 8. Das unschuldige Werkzeug
wird trotzdem ebenfalls ermordet. In der andern Sage entleibt sich der schuld¬
lose Mörder am Grabe. Man wird sogleich bemerken, daß die wenigen, in
diesen beiden Erzählungen nicht übereinstimmenden Stellen in der Edda bei
weitem beßres Gefüge zeigen, als in der Herodotischen Fassung. Denn wenn
man auch nicht wüßte, daß der betreffende Sagenkreis aus demjenigen der
Götterzwillinge hervorgegangen ist, von denen einer den andern tötet, so sieht
man doch nicht ein, weshalb, um das Maß der Leiden des Krösos voll zu
machen ^vielmehr nicht voll zu machen! oder soll das folgende "nicht" hinter
"weshalb" gedacht werden?j, nicht der eigne Bruder den andern "aus Ver¬
sehen" tötet, sondern erst noch ein Fremder herbeigezogen wird, der schon seinen
eignen Bruder versehentlich getötet hat, als ob zu diesen Versehensinorden
einige Übung gehörte! Wozu ist dieser von der Natur vernachlässigte Bruder
überhaupt vorhanden, da er doch den Verlust mindert, anstatt ihn zu mehren?
Der Naturfehler selbst ist in der nordischen Fassung ganz wohl motivirt; denn


Tuiskoland

Sträuche und Bäume kaum einen Verlust der Vegetation im Winter merken
lassen, und höchstens einige Frühlingsblumen daran erinnern, daß für die
Pflanzenwelt ein neuer Abschnitt beginnt?" So viel ist allerdings richtig, daß
in Ägypten ein Svnneuwendfest nicht volkstümlich werden kam?, und daß von
Italien aus nordwärts die Inbrunst der Frühlingsluft wächst.

Zur Veranschaulichung der dritten Art von Beweisführung heben wir
den Baldermythus heraus, zu dem Krause in der Geschichte von den Söhnen
des Krösus die griechische Parallele findet. Folgendermaßen faßt er seine
Untersuchung zusammen. „1. König Odin hat zwei Söhne, von denen der
eine, ein Muster aller Vollkommenheit, von Göttern und Menschen geliebt wird,
der andre durch einen Naturfehler (er ist blind) von der Thronfolge ausge¬
schlossen erscheint. König Krösos von Lydien hat zwei Söhne, von denen der
eine durch seine Tugenden alle Altersgenossen überstrahlt, der andre durch
einen Naturfehler (er ist taub) von der Thronfolge ausgeschlossen erscheint.
2. Die Asen haben böse Träume, nach denen ihrem allgeliebten Balder von
einer unheimlichen Waffe Gefahr drohe. Krösos träumt, daß ein spitzes Eisen
seineu geliebten Sohn Alss töten werde. 3. Frigga nimmt alle Geschöpfe in
Eid, ihrem Sohne nicht schaden zu Wollen. Krösos entfernt alle eisernen
Waffen aus dem Bereiche des Sohnes. 4. Balder wird jung vermählt, seine
Gattin heißt Nanna, Atys wird jung vermählt, seine Mutter heißt Nana.
5. Die Asen machen sich ein Vergnügen daraus, auf Balder zu schießen, weil
kein Geschoß ihm schaden kann. Alss giebt sich dem Jagdvergnügen hin, weil
er den Zahn des Ebers nicht zu fürchten braucht. 6. Sein eigner Bruder
tötet ihn (den Balder) unabsichtlich. Ein Freund, durch dessen Versehen be¬
reits ein Bruder ermordet wurde, tötet den Atys unabsichtlich. 7. Dem Loki
wird Schuld gegeben, den Mord veranlaßt zu haben. Die Schuld an dem
Tode des Atys wird einem Gotte beigemessen. 8. Das unschuldige Werkzeug
wird trotzdem ebenfalls ermordet. In der andern Sage entleibt sich der schuld¬
lose Mörder am Grabe. Man wird sogleich bemerken, daß die wenigen, in
diesen beiden Erzählungen nicht übereinstimmenden Stellen in der Edda bei
weitem beßres Gefüge zeigen, als in der Herodotischen Fassung. Denn wenn
man auch nicht wüßte, daß der betreffende Sagenkreis aus demjenigen der
Götterzwillinge hervorgegangen ist, von denen einer den andern tötet, so sieht
man doch nicht ein, weshalb, um das Maß der Leiden des Krösos voll zu
machen ^vielmehr nicht voll zu machen! oder soll das folgende »nicht« hinter
»weshalb« gedacht werden?j, nicht der eigne Bruder den andern »aus Ver¬
sehen« tötet, sondern erst noch ein Fremder herbeigezogen wird, der schon seinen
eignen Bruder versehentlich getötet hat, als ob zu diesen Versehensinorden
einige Übung gehörte! Wozu ist dieser von der Natur vernachlässigte Bruder
überhaupt vorhanden, da er doch den Verlust mindert, anstatt ihn zu mehren?
Der Naturfehler selbst ist in der nordischen Fassung ganz wohl motivirt; denn


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[0226] Tuiskoland Sträuche und Bäume kaum einen Verlust der Vegetation im Winter merken lassen, und höchstens einige Frühlingsblumen daran erinnern, daß für die Pflanzenwelt ein neuer Abschnitt beginnt?" So viel ist allerdings richtig, daß in Ägypten ein Svnneuwendfest nicht volkstümlich werden kam?, und daß von Italien aus nordwärts die Inbrunst der Frühlingsluft wächst. Zur Veranschaulichung der dritten Art von Beweisführung heben wir den Baldermythus heraus, zu dem Krause in der Geschichte von den Söhnen des Krösus die griechische Parallele findet. Folgendermaßen faßt er seine Untersuchung zusammen. „1. König Odin hat zwei Söhne, von denen der eine, ein Muster aller Vollkommenheit, von Göttern und Menschen geliebt wird, der andre durch einen Naturfehler (er ist blind) von der Thronfolge ausge¬ schlossen erscheint. König Krösos von Lydien hat zwei Söhne, von denen der eine durch seine Tugenden alle Altersgenossen überstrahlt, der andre durch einen Naturfehler (er ist taub) von der Thronfolge ausgeschlossen erscheint. 2. Die Asen haben böse Träume, nach denen ihrem allgeliebten Balder von einer unheimlichen Waffe Gefahr drohe. Krösos träumt, daß ein spitzes Eisen seineu geliebten Sohn Alss töten werde. 3. Frigga nimmt alle Geschöpfe in Eid, ihrem Sohne nicht schaden zu Wollen. Krösos entfernt alle eisernen Waffen aus dem Bereiche des Sohnes. 4. Balder wird jung vermählt, seine Gattin heißt Nanna, Atys wird jung vermählt, seine Mutter heißt Nana. 5. Die Asen machen sich ein Vergnügen daraus, auf Balder zu schießen, weil kein Geschoß ihm schaden kann. Alss giebt sich dem Jagdvergnügen hin, weil er den Zahn des Ebers nicht zu fürchten braucht. 6. Sein eigner Bruder tötet ihn (den Balder) unabsichtlich. Ein Freund, durch dessen Versehen be¬ reits ein Bruder ermordet wurde, tötet den Atys unabsichtlich. 7. Dem Loki wird Schuld gegeben, den Mord veranlaßt zu haben. Die Schuld an dem Tode des Atys wird einem Gotte beigemessen. 8. Das unschuldige Werkzeug wird trotzdem ebenfalls ermordet. In der andern Sage entleibt sich der schuld¬ lose Mörder am Grabe. Man wird sogleich bemerken, daß die wenigen, in diesen beiden Erzählungen nicht übereinstimmenden Stellen in der Edda bei weitem beßres Gefüge zeigen, als in der Herodotischen Fassung. Denn wenn man auch nicht wüßte, daß der betreffende Sagenkreis aus demjenigen der Götterzwillinge hervorgegangen ist, von denen einer den andern tötet, so sieht man doch nicht ein, weshalb, um das Maß der Leiden des Krösos voll zu machen ^vielmehr nicht voll zu machen! oder soll das folgende »nicht« hinter »weshalb« gedacht werden?j, nicht der eigne Bruder den andern »aus Ver¬ sehen« tötet, sondern erst noch ein Fremder herbeigezogen wird, der schon seinen eignen Bruder versehentlich getötet hat, als ob zu diesen Versehensinorden einige Übung gehörte! Wozu ist dieser von der Natur vernachlässigte Bruder überhaupt vorhanden, da er doch den Verlust mindert, anstatt ihn zu mehren? Der Naturfehler selbst ist in der nordischen Fassung ganz wohl motivirt; denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/226>, abgerufen am 08.01.2025.