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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die christliche Lthik in der Gegenwart

Lehre ist es die Kirche selbst, die alle wirklichen Rechtsformen erst schasst
und alle wirklichen Rechte erst überträgt. Sie unterscheidet menschliches und
göttliches Recht, hält aber die Tugenden der Heiden für glänzende Laster und
den Staat für ein totes, mechanisches Ding. Erst wenn die Kirche ihren Auf¬
trag erteilt, wird Recht Recht und Sitte Sitte. Es ist keine bloße Fri¬
volität gewesen, wenn man Karl dein Fünften einreden wollte, daß er einem
Ketzer das Wort nicht zu halten brauche. Der Ketzer hat eben kein Recht.
Das ist die Folgerung längst festgesetzten päpstlichen Rechts. Diese Folge¬
rung widerstreitet aber so sehr dem natürlichen Rechtsbewußtsein, daß man
sich natürlich hütet, so etwas unverhüllt zu lehren; doch im Geheimarsennl der
Kirche wird diese Waffe gegen den Staat wohl aufgehoben. Es ist doch
eine Rückkehr zu vorchristlichen Anschauungen, wenn es innerhalb und außer¬
halb der Kirche verschiednes Recht geben soll.

Wenn nun nach dieser Lehre die katholische Kirche dem nicht katholischen
Staate nur soviel Recht einräumt, als ihr beliebt, so ist es dem protestantischen
Staate nicht zu verdenken, wenn er auf seiner Hut ist. Man wendet ein: Das ist ja
alles nur Einbildung, das ist eure protestantische Katholikenfurcht, eine reine
Gespensterfurcht. Wann hat die katholische Kirche dem Staate gegenüber ihre
Schuldigkeit uicht gethan? Etwa 1864, 1866 oder 1870? Nun, das fehlte
auch noch, daß die Kirche in solchen Zeitlüufeu den Staat im Stiche lassen
wollte; dennoch geschieht manches nicht, was geschehen sollte, und im geheimen
geschieht manches, was nicht geschehen sollte.")

Nach biblischer Lehre ist jede Obrigkeit von Gott, und es ist keine, die
nicht von Gott wäre, jegliche Rechtsordnung ist ein Teil der göttlichen Welt-
ordnung, und der Christ ist gehalten, Unterthan zu sei", nicht um des Zwanges,
sondern um des Gewissens willen. Dies ist der Standpunkt der evangelischen
Kirche, der sich auch darin zeigt, daß die evangelische Kirche zum Staate in
nähere Beziehungen getreten ist, als ihr selbst gut ist.

Eine Untersuchung darüber anzustellen, was die christliche Ethik nicht ge¬
leistet hat, liegt uns fern. Diese Frage könnte leicht zu einer ungerechten Be¬
antwortung führen. Man konnte, indem man aufzählt, was Bismarck alles
nicht geleistet hat, ein Bild von ihm entwerfen, das im einzelnen richtig sein
kann, aber im ganzen nicht die mindeste Ähnlichkeit hätte. Auch ist es leichter,
mit kräftigen Strichen Sünden zu zeichnen, als herauszufinden und zu wür¬
digen, was im stillen gutes geleistet worden ist. Und das ist die Art der
christlichen Ethik, die darum leicht unterschätzt wird, weil sie nicht bestimmte



*) Einen bedenklichen Zug können wir aus dem Jahre 1866 verbürgen. Damals wurde
das achte Armeekorps in Halle ausgeladen, und wir Studenten tranken manches Glas mit
den lustigen Rheinländern. Da hat uns mehr als einer gesagt, ihr Pfarrer hätte ihnen ge¬
boten: Schießt nicht auf eure Glaubensbrüder! Es scheint also doch, daß das größere Ver¬
dienst damals ans seiten der preußischen Disziplin gelegen hat.
Die christliche Lthik in der Gegenwart

Lehre ist es die Kirche selbst, die alle wirklichen Rechtsformen erst schasst
und alle wirklichen Rechte erst überträgt. Sie unterscheidet menschliches und
göttliches Recht, hält aber die Tugenden der Heiden für glänzende Laster und
den Staat für ein totes, mechanisches Ding. Erst wenn die Kirche ihren Auf¬
trag erteilt, wird Recht Recht und Sitte Sitte. Es ist keine bloße Fri¬
volität gewesen, wenn man Karl dein Fünften einreden wollte, daß er einem
Ketzer das Wort nicht zu halten brauche. Der Ketzer hat eben kein Recht.
Das ist die Folgerung längst festgesetzten päpstlichen Rechts. Diese Folge¬
rung widerstreitet aber so sehr dem natürlichen Rechtsbewußtsein, daß man
sich natürlich hütet, so etwas unverhüllt zu lehren; doch im Geheimarsennl der
Kirche wird diese Waffe gegen den Staat wohl aufgehoben. Es ist doch
eine Rückkehr zu vorchristlichen Anschauungen, wenn es innerhalb und außer¬
halb der Kirche verschiednes Recht geben soll.

Wenn nun nach dieser Lehre die katholische Kirche dem nicht katholischen
Staate nur soviel Recht einräumt, als ihr beliebt, so ist es dem protestantischen
Staate nicht zu verdenken, wenn er auf seiner Hut ist. Man wendet ein: Das ist ja
alles nur Einbildung, das ist eure protestantische Katholikenfurcht, eine reine
Gespensterfurcht. Wann hat die katholische Kirche dem Staate gegenüber ihre
Schuldigkeit uicht gethan? Etwa 1864, 1866 oder 1870? Nun, das fehlte
auch noch, daß die Kirche in solchen Zeitlüufeu den Staat im Stiche lassen
wollte; dennoch geschieht manches nicht, was geschehen sollte, und im geheimen
geschieht manches, was nicht geschehen sollte.")

Nach biblischer Lehre ist jede Obrigkeit von Gott, und es ist keine, die
nicht von Gott wäre, jegliche Rechtsordnung ist ein Teil der göttlichen Welt-
ordnung, und der Christ ist gehalten, Unterthan zu sei», nicht um des Zwanges,
sondern um des Gewissens willen. Dies ist der Standpunkt der evangelischen
Kirche, der sich auch darin zeigt, daß die evangelische Kirche zum Staate in
nähere Beziehungen getreten ist, als ihr selbst gut ist.

Eine Untersuchung darüber anzustellen, was die christliche Ethik nicht ge¬
leistet hat, liegt uns fern. Diese Frage könnte leicht zu einer ungerechten Be¬
antwortung führen. Man konnte, indem man aufzählt, was Bismarck alles
nicht geleistet hat, ein Bild von ihm entwerfen, das im einzelnen richtig sein
kann, aber im ganzen nicht die mindeste Ähnlichkeit hätte. Auch ist es leichter,
mit kräftigen Strichen Sünden zu zeichnen, als herauszufinden und zu wür¬
digen, was im stillen gutes geleistet worden ist. Und das ist die Art der
christlichen Ethik, die darum leicht unterschätzt wird, weil sie nicht bestimmte



*) Einen bedenklichen Zug können wir aus dem Jahre 1866 verbürgen. Damals wurde
das achte Armeekorps in Halle ausgeladen, und wir Studenten tranken manches Glas mit
den lustigen Rheinländern. Da hat uns mehr als einer gesagt, ihr Pfarrer hätte ihnen ge¬
boten: Schießt nicht auf eure Glaubensbrüder! Es scheint also doch, daß das größere Ver¬
dienst damals ans seiten der preußischen Disziplin gelegen hat.
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[0211] Die christliche Lthik in der Gegenwart Lehre ist es die Kirche selbst, die alle wirklichen Rechtsformen erst schasst und alle wirklichen Rechte erst überträgt. Sie unterscheidet menschliches und göttliches Recht, hält aber die Tugenden der Heiden für glänzende Laster und den Staat für ein totes, mechanisches Ding. Erst wenn die Kirche ihren Auf¬ trag erteilt, wird Recht Recht und Sitte Sitte. Es ist keine bloße Fri¬ volität gewesen, wenn man Karl dein Fünften einreden wollte, daß er einem Ketzer das Wort nicht zu halten brauche. Der Ketzer hat eben kein Recht. Das ist die Folgerung längst festgesetzten päpstlichen Rechts. Diese Folge¬ rung widerstreitet aber so sehr dem natürlichen Rechtsbewußtsein, daß man sich natürlich hütet, so etwas unverhüllt zu lehren; doch im Geheimarsennl der Kirche wird diese Waffe gegen den Staat wohl aufgehoben. Es ist doch eine Rückkehr zu vorchristlichen Anschauungen, wenn es innerhalb und außer¬ halb der Kirche verschiednes Recht geben soll. Wenn nun nach dieser Lehre die katholische Kirche dem nicht katholischen Staate nur soviel Recht einräumt, als ihr beliebt, so ist es dem protestantischen Staate nicht zu verdenken, wenn er auf seiner Hut ist. Man wendet ein: Das ist ja alles nur Einbildung, das ist eure protestantische Katholikenfurcht, eine reine Gespensterfurcht. Wann hat die katholische Kirche dem Staate gegenüber ihre Schuldigkeit uicht gethan? Etwa 1864, 1866 oder 1870? Nun, das fehlte auch noch, daß die Kirche in solchen Zeitlüufeu den Staat im Stiche lassen wollte; dennoch geschieht manches nicht, was geschehen sollte, und im geheimen geschieht manches, was nicht geschehen sollte.") Nach biblischer Lehre ist jede Obrigkeit von Gott, und es ist keine, die nicht von Gott wäre, jegliche Rechtsordnung ist ein Teil der göttlichen Welt- ordnung, und der Christ ist gehalten, Unterthan zu sei», nicht um des Zwanges, sondern um des Gewissens willen. Dies ist der Standpunkt der evangelischen Kirche, der sich auch darin zeigt, daß die evangelische Kirche zum Staate in nähere Beziehungen getreten ist, als ihr selbst gut ist. Eine Untersuchung darüber anzustellen, was die christliche Ethik nicht ge¬ leistet hat, liegt uns fern. Diese Frage könnte leicht zu einer ungerechten Be¬ antwortung führen. Man konnte, indem man aufzählt, was Bismarck alles nicht geleistet hat, ein Bild von ihm entwerfen, das im einzelnen richtig sein kann, aber im ganzen nicht die mindeste Ähnlichkeit hätte. Auch ist es leichter, mit kräftigen Strichen Sünden zu zeichnen, als herauszufinden und zu wür¬ digen, was im stillen gutes geleistet worden ist. Und das ist die Art der christlichen Ethik, die darum leicht unterschätzt wird, weil sie nicht bestimmte *) Einen bedenklichen Zug können wir aus dem Jahre 1866 verbürgen. Damals wurde das achte Armeekorps in Halle ausgeladen, und wir Studenten tranken manches Glas mit den lustigen Rheinländern. Da hat uns mehr als einer gesagt, ihr Pfarrer hätte ihnen ge¬ boten: Schießt nicht auf eure Glaubensbrüder! Es scheint also doch, daß das größere Ver¬ dienst damals ans seiten der preußischen Disziplin gelegen hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/211>, abgerufen am 08.01.2025.