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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die christliche Ethik in der Gegemvarr

enthalten uns, geschichtliche Beispiele zu geben, sonst wäre es leicht genug, zu
zeigen, was mau auf Grund dieser Lehre aus der christlichen Ethik gemacht hat.

Auf evangelischer Seite ist man bestrebt gewesen, der rein sittlichen Forde-
rung ihr volles Gewicht zu bewahren. Die persönliche Verantwortung wird
durch keine Bürgschaft der Kirche gemindert, die einzelne That ist nicht Gegen¬
stand besondrer Wertschätzung, da die Summe aller Thaten immer unzureichend
bleibt. Das Bewußtsein der Unzulänglichkeit aller sittlichen Leistung beherrscht
alles, und so treten als höchste sittliche Gebote allem andern voran Buße und
Glaube; Buße, die das sittliche Unvermögen anerkennt, und Glaube, der sich
des göttlichen Ersatzes getröstet. Daher ist Glaube und Buße, Buße und
Glaube das A und O der evangelischen Predigt. Darüber kommt aber nun
wieder dus wirkliche Leben mit seinen Anforderungen an die sittliche Kraft und
sittliche Reife der Gemeindeglieder leicht zu kurz. Ja die christliche Ethik
nimmt in dem Lehrgebäude der evangelische" Kirche eine merkwürdig unter¬
geordnete Stelle ein, sie wird nebensächlich, gleichsam anmerkuugsweise be¬
handelt. Glaube und immer nur Glaube! Wo bleibt das Werk? Nun, das
liegt, sagt mau, in dem Glauben drin, denn der rechte Glaube muß sich auch
bethätigen. Ganz recht, aber es ist ein Unterschied, von welcher Seite man
eine Sache anfängt, ob von der nächstliegenden oder von der fernerliegenden;
denn hier könnte es geschehen, daß es bei allem guten Willen zum nächst¬
liegenden nicht komme. Dies ist ein Mangel der evangelischen Kirche, der bis
auf ihre Anfänge zurückreicht. Ist man doch sogar einmal soweit gegangen,
die Schädlichkeit guter Werke zu lehren, und hat doch mehr als einmal das
innere und äußere Bedürfnis des Menschen gegen den dogmatischen Formalis¬
mus Einspruch erheben müssen!

Diese Erscheinung hängt freilich damit zusammen, daß die evangelische
Lehre im Widerstreite mit der katholischen entstanden ist. Dabei sind alle
Unterscheidungslehren mit größter Schärfe ausgebaut, alle Wege, die zur katho¬
lischen Kirche zurückführen könnten, sorgfältig vermauert worden. Und dazu
gehört in erster Linie die Lehre von den guten Werken, also die christliche
Ethik. So gleicht die Lehre der evangelischen Kirche dem alten Athen, als
man nach den Perserkriegen Tempel, Altäre und alles in die Stadtmauern
hineingebaut hatte. Man muß zugeben, daß die evangelische Kirche in Gefahr
ist, trotz ihrer geläuterter" Ethik in Bezug auf thatsächliche Wirkung der katho¬
lischen Kirche nachzustehn.

Also soll man einer Neuformnlirung der Lehre das Wort reden? Nein.
Formnlirt ist auf dem Papiere nachgerade genug. Theoretische Gründe
und Thaten können uns nichts helfen. Die beste und, wie es scheint, gegen¬
wärtig auch einzig mögliche Formulirung ist die des praktischen Christentums.

Auch in der Beurteilung andrer Rechtsformen, besonders derer des Staats,
zeigt die Ethik beider Kirchen bedeutende Unterschiede. Nach katholischer


Die christliche Ethik in der Gegemvarr

enthalten uns, geschichtliche Beispiele zu geben, sonst wäre es leicht genug, zu
zeigen, was mau auf Grund dieser Lehre aus der christlichen Ethik gemacht hat.

Auf evangelischer Seite ist man bestrebt gewesen, der rein sittlichen Forde-
rung ihr volles Gewicht zu bewahren. Die persönliche Verantwortung wird
durch keine Bürgschaft der Kirche gemindert, die einzelne That ist nicht Gegen¬
stand besondrer Wertschätzung, da die Summe aller Thaten immer unzureichend
bleibt. Das Bewußtsein der Unzulänglichkeit aller sittlichen Leistung beherrscht
alles, und so treten als höchste sittliche Gebote allem andern voran Buße und
Glaube; Buße, die das sittliche Unvermögen anerkennt, und Glaube, der sich
des göttlichen Ersatzes getröstet. Daher ist Glaube und Buße, Buße und
Glaube das A und O der evangelischen Predigt. Darüber kommt aber nun
wieder dus wirkliche Leben mit seinen Anforderungen an die sittliche Kraft und
sittliche Reife der Gemeindeglieder leicht zu kurz. Ja die christliche Ethik
nimmt in dem Lehrgebäude der evangelische» Kirche eine merkwürdig unter¬
geordnete Stelle ein, sie wird nebensächlich, gleichsam anmerkuugsweise be¬
handelt. Glaube und immer nur Glaube! Wo bleibt das Werk? Nun, das
liegt, sagt mau, in dem Glauben drin, denn der rechte Glaube muß sich auch
bethätigen. Ganz recht, aber es ist ein Unterschied, von welcher Seite man
eine Sache anfängt, ob von der nächstliegenden oder von der fernerliegenden;
denn hier könnte es geschehen, daß es bei allem guten Willen zum nächst¬
liegenden nicht komme. Dies ist ein Mangel der evangelischen Kirche, der bis
auf ihre Anfänge zurückreicht. Ist man doch sogar einmal soweit gegangen,
die Schädlichkeit guter Werke zu lehren, und hat doch mehr als einmal das
innere und äußere Bedürfnis des Menschen gegen den dogmatischen Formalis¬
mus Einspruch erheben müssen!

Diese Erscheinung hängt freilich damit zusammen, daß die evangelische
Lehre im Widerstreite mit der katholischen entstanden ist. Dabei sind alle
Unterscheidungslehren mit größter Schärfe ausgebaut, alle Wege, die zur katho¬
lischen Kirche zurückführen könnten, sorgfältig vermauert worden. Und dazu
gehört in erster Linie die Lehre von den guten Werken, also die christliche
Ethik. So gleicht die Lehre der evangelischen Kirche dem alten Athen, als
man nach den Perserkriegen Tempel, Altäre und alles in die Stadtmauern
hineingebaut hatte. Man muß zugeben, daß die evangelische Kirche in Gefahr
ist, trotz ihrer geläuterter« Ethik in Bezug auf thatsächliche Wirkung der katho¬
lischen Kirche nachzustehn.

Also soll man einer Neuformnlirung der Lehre das Wort reden? Nein.
Formnlirt ist auf dem Papiere nachgerade genug. Theoretische Gründe
und Thaten können uns nichts helfen. Die beste und, wie es scheint, gegen¬
wärtig auch einzig mögliche Formulirung ist die des praktischen Christentums.

Auch in der Beurteilung andrer Rechtsformen, besonders derer des Staats,
zeigt die Ethik beider Kirchen bedeutende Unterschiede. Nach katholischer


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[0210] Die christliche Ethik in der Gegemvarr enthalten uns, geschichtliche Beispiele zu geben, sonst wäre es leicht genug, zu zeigen, was mau auf Grund dieser Lehre aus der christlichen Ethik gemacht hat. Auf evangelischer Seite ist man bestrebt gewesen, der rein sittlichen Forde- rung ihr volles Gewicht zu bewahren. Die persönliche Verantwortung wird durch keine Bürgschaft der Kirche gemindert, die einzelne That ist nicht Gegen¬ stand besondrer Wertschätzung, da die Summe aller Thaten immer unzureichend bleibt. Das Bewußtsein der Unzulänglichkeit aller sittlichen Leistung beherrscht alles, und so treten als höchste sittliche Gebote allem andern voran Buße und Glaube; Buße, die das sittliche Unvermögen anerkennt, und Glaube, der sich des göttlichen Ersatzes getröstet. Daher ist Glaube und Buße, Buße und Glaube das A und O der evangelischen Predigt. Darüber kommt aber nun wieder dus wirkliche Leben mit seinen Anforderungen an die sittliche Kraft und sittliche Reife der Gemeindeglieder leicht zu kurz. Ja die christliche Ethik nimmt in dem Lehrgebäude der evangelische» Kirche eine merkwürdig unter¬ geordnete Stelle ein, sie wird nebensächlich, gleichsam anmerkuugsweise be¬ handelt. Glaube und immer nur Glaube! Wo bleibt das Werk? Nun, das liegt, sagt mau, in dem Glauben drin, denn der rechte Glaube muß sich auch bethätigen. Ganz recht, aber es ist ein Unterschied, von welcher Seite man eine Sache anfängt, ob von der nächstliegenden oder von der fernerliegenden; denn hier könnte es geschehen, daß es bei allem guten Willen zum nächst¬ liegenden nicht komme. Dies ist ein Mangel der evangelischen Kirche, der bis auf ihre Anfänge zurückreicht. Ist man doch sogar einmal soweit gegangen, die Schädlichkeit guter Werke zu lehren, und hat doch mehr als einmal das innere und äußere Bedürfnis des Menschen gegen den dogmatischen Formalis¬ mus Einspruch erheben müssen! Diese Erscheinung hängt freilich damit zusammen, daß die evangelische Lehre im Widerstreite mit der katholischen entstanden ist. Dabei sind alle Unterscheidungslehren mit größter Schärfe ausgebaut, alle Wege, die zur katho¬ lischen Kirche zurückführen könnten, sorgfältig vermauert worden. Und dazu gehört in erster Linie die Lehre von den guten Werken, also die christliche Ethik. So gleicht die Lehre der evangelischen Kirche dem alten Athen, als man nach den Perserkriegen Tempel, Altäre und alles in die Stadtmauern hineingebaut hatte. Man muß zugeben, daß die evangelische Kirche in Gefahr ist, trotz ihrer geläuterter« Ethik in Bezug auf thatsächliche Wirkung der katho¬ lischen Kirche nachzustehn. Also soll man einer Neuformnlirung der Lehre das Wort reden? Nein. Formnlirt ist auf dem Papiere nachgerade genug. Theoretische Gründe und Thaten können uns nichts helfen. Die beste und, wie es scheint, gegen¬ wärtig auch einzig mögliche Formulirung ist die des praktischen Christentums. Auch in der Beurteilung andrer Rechtsformen, besonders derer des Staats, zeigt die Ethik beider Kirchen bedeutende Unterschiede. Nach katholischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/210>, abgerufen am 08.01.2025.