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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die christliche Ethik der Gegenwart hat, wenn auch die Grundzüge die¬
selben geblieben sind, in den verschiednen christlichen Kirchen ein verschiednes
Gepräge gewonnen. Auf katholischer Seite tritt die kirchliche Vorschrift an die
Stelle de-°, freien Entschlusses. Die Kirche ist die Mutter, die ihre Kinder
bevormundet. Ein Kind fragt man nicht viel, sondern mau verlangt, daß
es vor allen Dingen gehorche. Das ist pädagogisch unzweifelhaft richtig.
Denn die große Menge der Menschen erreicht niemals die Mündigkeit, und
wenn auch einzelne Personen Erfahrung und Besonnenheit gewinnen, so
bleibt doch das Volt im großen und ganzen immer ein Kind. Demnach
ist es ganz praktisch, daß die katholische Kirche den Gehorsam zur vor¬
nehmsten christlichen Tugend macht und verlangt, daß man der Kirche, die
für alles die Verantwortung auf sich nimmt, vor allen Dingen gehorche.
So erleben wir, daß in Trier ein "heiliger Rock" ausgestellt wird, dessen
Echtheit an maßgebender Stelle gar nicht behauptet wird. Die Sache ist eine
Kraftprobe, ein sittliches Exerzitium über das Thema des Gehorsams. Aber
die Sache hat doch auch ihre Übeln Seiten. So wohlthätig es sein mag,
einem Kinde die Verantwortung abzunehmen und es auf den simpeln Gehorsam
zu beschränken, so schädlich ist es dein Kinde gegenüber, das zu überlegen an¬
fängt, seine Autorität durch die rohe Kraft geltend zu macheu und etwaige
Einwände durch den Befehl: Gehorche! niederzuschlagen. Man zerbricht mit
dem Willen leicht auch den Charakter. Oder man knickt ihn wenigstens an,
ein Verfahren, dessen Folgen schon lange zu spüren sind. Oder man erzieht
sich bei denen, die sich uicht brechen lassen, fanatische Feinde. Es entsteht die
Gefahr, daß über der Form des Gehorsams der sittliche Inhalt vernachlässigt
werde. Das ist kein sittlicher Gewinn.

Die Sittenlehre der katholischen Kirche richtet ferner ihre Aufmerksamkeit
auf die einzelne That. Auch das ist praktisch und pädagogisch richtig. Sie
stellt bestimmte Aufgaben und fordert bestimmte Leistungen. Sie stellt auch
für jede dieser Leistungen einen entsprechenden Lohn in Aussicht und lehrt,
daß das Werk als solches, nicht bloß in Bezug auf das Gesamtverhalten des
Menschen verdienstlich sei. Es wird also alles wohl ausgerechnet. Bleibt eine
Pflicht unerfüllt, so tritt sie selbst mit ihrem Schatze guter Werke ein. Daß eine
solche Lehre einen außerordentlich starken Antrieb enthält zur That, zur Ent¬
sagung, zu guten Werken, die ja alle wohl angeschrieben werden, ist ein¬
leuchtend, ebenso aber auch, daß die Höhe und Würde des sittlichen Ideals
darunter leiden muß. Die Tugend wird ein Geschäft, das Ziel des christ¬
lichen Wandels ist ein wvhlgefülltes Sparkassenbuch mit himmlischen Einlagen.
Natürlich giebt das die katholische Lehre uicht zu; sie macht genug Vorbehalte,
aber in der Praxis ist es wirklich so. Noch bedenklicher ist es, wenn die
Kirche sich selbst zum Objekt für die christliche Liebesthätigkeit macht, und ganz
schlimm steht es mit der Lehre von der Übertragbarkeit guter Werke. Wir


Grenzboten til 1892 26

Die christliche Ethik der Gegenwart hat, wenn auch die Grundzüge die¬
selben geblieben sind, in den verschiednen christlichen Kirchen ein verschiednes
Gepräge gewonnen. Auf katholischer Seite tritt die kirchliche Vorschrift an die
Stelle de-°, freien Entschlusses. Die Kirche ist die Mutter, die ihre Kinder
bevormundet. Ein Kind fragt man nicht viel, sondern mau verlangt, daß
es vor allen Dingen gehorche. Das ist pädagogisch unzweifelhaft richtig.
Denn die große Menge der Menschen erreicht niemals die Mündigkeit, und
wenn auch einzelne Personen Erfahrung und Besonnenheit gewinnen, so
bleibt doch das Volt im großen und ganzen immer ein Kind. Demnach
ist es ganz praktisch, daß die katholische Kirche den Gehorsam zur vor¬
nehmsten christlichen Tugend macht und verlangt, daß man der Kirche, die
für alles die Verantwortung auf sich nimmt, vor allen Dingen gehorche.
So erleben wir, daß in Trier ein „heiliger Rock" ausgestellt wird, dessen
Echtheit an maßgebender Stelle gar nicht behauptet wird. Die Sache ist eine
Kraftprobe, ein sittliches Exerzitium über das Thema des Gehorsams. Aber
die Sache hat doch auch ihre Übeln Seiten. So wohlthätig es sein mag,
einem Kinde die Verantwortung abzunehmen und es auf den simpeln Gehorsam
zu beschränken, so schädlich ist es dein Kinde gegenüber, das zu überlegen an¬
fängt, seine Autorität durch die rohe Kraft geltend zu macheu und etwaige
Einwände durch den Befehl: Gehorche! niederzuschlagen. Man zerbricht mit
dem Willen leicht auch den Charakter. Oder man knickt ihn wenigstens an,
ein Verfahren, dessen Folgen schon lange zu spüren sind. Oder man erzieht
sich bei denen, die sich uicht brechen lassen, fanatische Feinde. Es entsteht die
Gefahr, daß über der Form des Gehorsams der sittliche Inhalt vernachlässigt
werde. Das ist kein sittlicher Gewinn.

Die Sittenlehre der katholischen Kirche richtet ferner ihre Aufmerksamkeit
auf die einzelne That. Auch das ist praktisch und pädagogisch richtig. Sie
stellt bestimmte Aufgaben und fordert bestimmte Leistungen. Sie stellt auch
für jede dieser Leistungen einen entsprechenden Lohn in Aussicht und lehrt,
daß das Werk als solches, nicht bloß in Bezug auf das Gesamtverhalten des
Menschen verdienstlich sei. Es wird also alles wohl ausgerechnet. Bleibt eine
Pflicht unerfüllt, so tritt sie selbst mit ihrem Schatze guter Werke ein. Daß eine
solche Lehre einen außerordentlich starken Antrieb enthält zur That, zur Ent¬
sagung, zu guten Werken, die ja alle wohl angeschrieben werden, ist ein¬
leuchtend, ebenso aber auch, daß die Höhe und Würde des sittlichen Ideals
darunter leiden muß. Die Tugend wird ein Geschäft, das Ziel des christ¬
lichen Wandels ist ein wvhlgefülltes Sparkassenbuch mit himmlischen Einlagen.
Natürlich giebt das die katholische Lehre uicht zu; sie macht genug Vorbehalte,
aber in der Praxis ist es wirklich so. Noch bedenklicher ist es, wenn die
Kirche sich selbst zum Objekt für die christliche Liebesthätigkeit macht, und ganz
schlimm steht es mit der Lehre von der Übertragbarkeit guter Werke. Wir


Grenzboten til 1892 26
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[0209] Die christliche Ethik der Gegenwart hat, wenn auch die Grundzüge die¬ selben geblieben sind, in den verschiednen christlichen Kirchen ein verschiednes Gepräge gewonnen. Auf katholischer Seite tritt die kirchliche Vorschrift an die Stelle de-°, freien Entschlusses. Die Kirche ist die Mutter, die ihre Kinder bevormundet. Ein Kind fragt man nicht viel, sondern mau verlangt, daß es vor allen Dingen gehorche. Das ist pädagogisch unzweifelhaft richtig. Denn die große Menge der Menschen erreicht niemals die Mündigkeit, und wenn auch einzelne Personen Erfahrung und Besonnenheit gewinnen, so bleibt doch das Volt im großen und ganzen immer ein Kind. Demnach ist es ganz praktisch, daß die katholische Kirche den Gehorsam zur vor¬ nehmsten christlichen Tugend macht und verlangt, daß man der Kirche, die für alles die Verantwortung auf sich nimmt, vor allen Dingen gehorche. So erleben wir, daß in Trier ein „heiliger Rock" ausgestellt wird, dessen Echtheit an maßgebender Stelle gar nicht behauptet wird. Die Sache ist eine Kraftprobe, ein sittliches Exerzitium über das Thema des Gehorsams. Aber die Sache hat doch auch ihre Übeln Seiten. So wohlthätig es sein mag, einem Kinde die Verantwortung abzunehmen und es auf den simpeln Gehorsam zu beschränken, so schädlich ist es dein Kinde gegenüber, das zu überlegen an¬ fängt, seine Autorität durch die rohe Kraft geltend zu macheu und etwaige Einwände durch den Befehl: Gehorche! niederzuschlagen. Man zerbricht mit dem Willen leicht auch den Charakter. Oder man knickt ihn wenigstens an, ein Verfahren, dessen Folgen schon lange zu spüren sind. Oder man erzieht sich bei denen, die sich uicht brechen lassen, fanatische Feinde. Es entsteht die Gefahr, daß über der Form des Gehorsams der sittliche Inhalt vernachlässigt werde. Das ist kein sittlicher Gewinn. Die Sittenlehre der katholischen Kirche richtet ferner ihre Aufmerksamkeit auf die einzelne That. Auch das ist praktisch und pädagogisch richtig. Sie stellt bestimmte Aufgaben und fordert bestimmte Leistungen. Sie stellt auch für jede dieser Leistungen einen entsprechenden Lohn in Aussicht und lehrt, daß das Werk als solches, nicht bloß in Bezug auf das Gesamtverhalten des Menschen verdienstlich sei. Es wird also alles wohl ausgerechnet. Bleibt eine Pflicht unerfüllt, so tritt sie selbst mit ihrem Schatze guter Werke ein. Daß eine solche Lehre einen außerordentlich starken Antrieb enthält zur That, zur Ent¬ sagung, zu guten Werken, die ja alle wohl angeschrieben werden, ist ein¬ leuchtend, ebenso aber auch, daß die Höhe und Würde des sittlichen Ideals darunter leiden muß. Die Tugend wird ein Geschäft, das Ziel des christ¬ lichen Wandels ist ein wvhlgefülltes Sparkassenbuch mit himmlischen Einlagen. Natürlich giebt das die katholische Lehre uicht zu; sie macht genug Vorbehalte, aber in der Praxis ist es wirklich so. Noch bedenklicher ist es, wenn die Kirche sich selbst zum Objekt für die christliche Liebesthätigkeit macht, und ganz schlimm steht es mit der Lehre von der Übertragbarkeit guter Werke. Wir Grenzboten til 1892 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/209>, abgerufen am 08.01.2025.