Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Die christliche Ethik in der Gegenwart dürfte es auch auf gewisser Seite abgesehn sein. El" Baum im tropischen Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die soziale Frage und andre den Die christliche Ethik in der Gegenwart dürfte es auch auf gewisser Seite abgesehn sein. El» Baum im tropischen Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die soziale Frage und andre den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0208" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212684"/> <fw type="header" place="top"> Die christliche Ethik in der Gegenwart</fw><lb/> <p xml:id="ID_685" prev="#ID_684"> dürfte es auch auf gewisser Seite abgesehn sein. El» Baum im tropischen<lb/> Urwalde, der, von Lianen umsponnen und erdrückt, morsch in dieser Um¬<lb/> klammerung hängt — das ist das Bild des Staates, in dem sich die Kirche<lb/> mit Erfolg zur Stütze des Throns emporgeschwungen hat. Hier liegt die<lb/> kranke Stelle des verfloßnen Schulgesetzes, hier liegt auch der Fehler in der<lb/> Rechnung kirchlicher Unternehmungen zur Bekämpfung staatsstürzender Parteien.<lb/> Die christliche Ethik ist ein Band, aber keine Kette, sie fördert die wollenden,<lb/> aber sie zwingt nicht die widerstrebenden. Diesen bringen der Staatsanwalt<lb/> und der Hunger viel triftigere Gründe bei, als das Gebot der Liebe. Es<lb/> geschieht nicht zum Nutzen der Kirche, wenn man sie zum Kampfe gegen den<lb/> Sozialismus aufbietet. Die Kirche führt nicht das Schwert, sie thut Samnriter-<lb/> dienste. Ihre Aufgabe ist Bewahrung, Pflege, Heilung. Auf dem Schlacht-<lb/> felde kämpfender Interessen hat sie nichts zu thun. Sie sollte den kleinen,<lb/> aber wichtigen Zug des Evangeliums nicht übersehe», worin berichtet wird,<lb/> wie Christus einem Menschen, der ihn bat: Sage meinem Bruder, daß er das<lb/> Erbe mit mir teile! antwortete: Wer hat mich zum Richter oder Erbteiler<lb/> über euch gesetzt?</p><lb/> <p xml:id="ID_686"> Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die soziale Frage und andre den<lb/> Bestand der Kirche bedrohende Fragen für diese nicht vorhanden seien. Im<lb/> Gegenteil, sie hat ein lebhaftes Interesse daran zu nehme», sie hat mit aller<lb/> Kraft zu verhindern, daß ihr von ihrem Eigentum etwas verloren gehe, und<lb/> sie hat die Aufgabe, das Verlorne wieder zu gewinnen. Sie hat sich auch<lb/> nicht bloß auf erbauliche Redensarten zu beschränken, sondern Ursache und Art<lb/> der Krankheit zu studiren. Aber sie thut dies alles in eigner Sache. Sie hat<lb/> es nicht mit Zeitkrankheiten, nicht mit sozialen Nöten, sie hat es mit der<lb/> Krankheit an: eignen Leibe und mit den sittlichen Gebrechen der eignen Glieder<lb/> zu thun. Sie thut auch über ihren Bezirk hinaus ein gutes Werk, wenn sie<lb/> betont, daß soziale Nöte doch im Grunde in sittlichen Gebrechen liegen. Man<lb/> fängt an, dies jetzt zu übersehen, und hofft alles Heil von einer bessern Ge¬<lb/> setzgebung; aber auch die beste Gesetzgebung wird die Unzufriednen nicht zu¬<lb/> frieden machen. Freilich wird ebenso wenig die Predigt oder gütliches Zureden<lb/> Leute, die aus ihrem sittlichen Gleichgewichte herausgerissen sind, wieder in<lb/> den frühern Zustand zurückführen. Was bleibt übrig? Nur das Muß, die<lb/> bittere Erfahrung. Die Sache ist bereits in einen Zustand gekommen, wo<lb/> nur noch drastische Mittel anwendbar siud. Wo die Vernunft ein Ende hat,<lb/> bleibt eben nur der Zwang übrig. Es ist recht schon, zu glaube», mau könne<lb/> die Staatsform und die gegebnen Ordnungen preisgeben und auf sozialdemo-<lb/> kratischen Boden die christliche Moral aufbaue»; aber es ist doch u»r ein Traum.<lb/> Eine wahre Volkspädagogik wird nicht auf die kräftige» Mittel verzichten zu<lb/> Gunsten feinerer, die einen gesunde» sittlichen Organismus voraussetzen, die<lb/> aber bei verdorbnen Magen gar nichts wirken.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0208]
Die christliche Ethik in der Gegenwart
dürfte es auch auf gewisser Seite abgesehn sein. El» Baum im tropischen
Urwalde, der, von Lianen umsponnen und erdrückt, morsch in dieser Um¬
klammerung hängt — das ist das Bild des Staates, in dem sich die Kirche
mit Erfolg zur Stütze des Throns emporgeschwungen hat. Hier liegt die
kranke Stelle des verfloßnen Schulgesetzes, hier liegt auch der Fehler in der
Rechnung kirchlicher Unternehmungen zur Bekämpfung staatsstürzender Parteien.
Die christliche Ethik ist ein Band, aber keine Kette, sie fördert die wollenden,
aber sie zwingt nicht die widerstrebenden. Diesen bringen der Staatsanwalt
und der Hunger viel triftigere Gründe bei, als das Gebot der Liebe. Es
geschieht nicht zum Nutzen der Kirche, wenn man sie zum Kampfe gegen den
Sozialismus aufbietet. Die Kirche führt nicht das Schwert, sie thut Samnriter-
dienste. Ihre Aufgabe ist Bewahrung, Pflege, Heilung. Auf dem Schlacht-
felde kämpfender Interessen hat sie nichts zu thun. Sie sollte den kleinen,
aber wichtigen Zug des Evangeliums nicht übersehe», worin berichtet wird,
wie Christus einem Menschen, der ihn bat: Sage meinem Bruder, daß er das
Erbe mit mir teile! antwortete: Wer hat mich zum Richter oder Erbteiler
über euch gesetzt?
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die soziale Frage und andre den
Bestand der Kirche bedrohende Fragen für diese nicht vorhanden seien. Im
Gegenteil, sie hat ein lebhaftes Interesse daran zu nehme», sie hat mit aller
Kraft zu verhindern, daß ihr von ihrem Eigentum etwas verloren gehe, und
sie hat die Aufgabe, das Verlorne wieder zu gewinnen. Sie hat sich auch
nicht bloß auf erbauliche Redensarten zu beschränken, sondern Ursache und Art
der Krankheit zu studiren. Aber sie thut dies alles in eigner Sache. Sie hat
es nicht mit Zeitkrankheiten, nicht mit sozialen Nöten, sie hat es mit der
Krankheit an: eignen Leibe und mit den sittlichen Gebrechen der eignen Glieder
zu thun. Sie thut auch über ihren Bezirk hinaus ein gutes Werk, wenn sie
betont, daß soziale Nöte doch im Grunde in sittlichen Gebrechen liegen. Man
fängt an, dies jetzt zu übersehen, und hofft alles Heil von einer bessern Ge¬
setzgebung; aber auch die beste Gesetzgebung wird die Unzufriednen nicht zu¬
frieden machen. Freilich wird ebenso wenig die Predigt oder gütliches Zureden
Leute, die aus ihrem sittlichen Gleichgewichte herausgerissen sind, wieder in
den frühern Zustand zurückführen. Was bleibt übrig? Nur das Muß, die
bittere Erfahrung. Die Sache ist bereits in einen Zustand gekommen, wo
nur noch drastische Mittel anwendbar siud. Wo die Vernunft ein Ende hat,
bleibt eben nur der Zwang übrig. Es ist recht schon, zu glaube», mau könne
die Staatsform und die gegebnen Ordnungen preisgeben und auf sozialdemo-
kratischen Boden die christliche Moral aufbaue»; aber es ist doch u»r ein Traum.
Eine wahre Volkspädagogik wird nicht auf die kräftige» Mittel verzichten zu
Gunsten feinerer, die einen gesunde» sittlichen Organismus voraussetzen, die
aber bei verdorbnen Magen gar nichts wirken.
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