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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die christliche Lthik in der Gegenwart

ändert werden können, so entscheiden über die Wirkung des christlichen Sitten¬
gesetzes auch Gründe, die gar nicht in diesem Sittengesetze liegen. So wirk¬
sam dieses Sittengesetz ist, wenn die nötigen Voraussetzungen gegeben sind,
so unwirksam ist es, wenn diese Voraussetzungen fehlen. Die christliche Ethik
bedarf einer Vorgeschichte, als deren oberster Autor Gott gilt. Er schafft,
indem er Erfahrungen machen läßt, indem er anstößt, erinnert, Augen und
Ohren öffnet, die in dein Menschen vorhandnen sittlichen Kräfte freimacht,
das Instrument, das imstande ist, den Ton jenes "königlichen Gesetzes der
Freiheit" wiederzutönen. Dies alles wird begriffen unter der Lehre von der
Wirkung des heiligen Geistes. Daher spricht Christus zu seinen Gegnern: Wer
von Gott ist, höret meine Stimme; ihr seid nicht von Gott, darum höret
ihr nicht.

Diese Lehre führt in ihren Folgerungen zu der äußersten Unfreiheit, wie
denn wirklich in der Richtung eines Paulus, Augustinus und Luther die
Lehre von der vorausgehenden göttlichen Wirkung und der Unfreiheit des
menschlichen Willens ausgebildet worden ist. Aber nur in der Theorie; in der
Praxis stehen alle drei auf dem entgegengesetzten Standpunkte und lehren,
daß Gott wolle, daß allen geholfen werde und daß man annehmen müsse,
die göttlichen Veranstaltungen seien überall da vorhanden, wo sich ein Mensch
sittlich zu entscheiden habe.

Es wäre interessant, dieser Frage, die uns zu dem Problem der Verant¬
wortlichkeit führt, weiter nachzugehen, sie liegt aber außer der Richtung unsers
Weges. Es genüge, gezeigt zu haben, daß nach christlicher Lehre die christliche
Moral nicht als ein unfehlbar wirkendes Universalmittel angesehen wird.

Wenn nun jetzt von kirchlicher Seite die christliche Moral als das einzige
Heilmittel der Zeit angepriesen wird, so ist richtig: eine soziale Frage giebt
es nicht, wo einer seinen Nächsten liebt wie sich selbst, auch da nicht, wo
einer in christlicher Geduld das Übel vertrüge. Eine Heilung der sozialen
Frage ist nur denkbar, wenn der Geist der christlichen Moral Große und Kleine
beherrscht. Leider steht nur das Wörtchen "wenn" im Wege, und es ist gar
keine Aussicht vorhanden, daß dieser Stein des Anstoßes weggewälzt werde.
Daß die christliche Moral so große Dinge aus eigner ihr innewohnender Kraft
vermöge, wird mit großer Freudigkeit behauptet, aber es ist eine Selbst¬
täuschung, es ist eine Annahme, die durch die christliche Lehre selbst wider¬
legt wird. Wenn nun dem Staate angepriesen wird, was die Kirche alles
leisten würde, wenn sie zur Stütze des Throns gewonnen würde, so geht man
von einen: Irrtum aus. Die Kirche kann die Kraft, die sie hat, zur Stütze
des Throns verwenden, sie wird aber kein Loth an Kraft gewinnen, wenn
ihr diese Aufgabe ansdrücklich gestattet wird. Im Gegenteil, sie wird ihrer
eigentlichen Aufgabe entfremdet und in die Versuchung geführt werden, die
staatliche Kraft ihren kirchlichen Zwecken dienstbar zu machen. Und darauf


Die christliche Lthik in der Gegenwart

ändert werden können, so entscheiden über die Wirkung des christlichen Sitten¬
gesetzes auch Gründe, die gar nicht in diesem Sittengesetze liegen. So wirk¬
sam dieses Sittengesetz ist, wenn die nötigen Voraussetzungen gegeben sind,
so unwirksam ist es, wenn diese Voraussetzungen fehlen. Die christliche Ethik
bedarf einer Vorgeschichte, als deren oberster Autor Gott gilt. Er schafft,
indem er Erfahrungen machen läßt, indem er anstößt, erinnert, Augen und
Ohren öffnet, die in dein Menschen vorhandnen sittlichen Kräfte freimacht,
das Instrument, das imstande ist, den Ton jenes „königlichen Gesetzes der
Freiheit" wiederzutönen. Dies alles wird begriffen unter der Lehre von der
Wirkung des heiligen Geistes. Daher spricht Christus zu seinen Gegnern: Wer
von Gott ist, höret meine Stimme; ihr seid nicht von Gott, darum höret
ihr nicht.

Diese Lehre führt in ihren Folgerungen zu der äußersten Unfreiheit, wie
denn wirklich in der Richtung eines Paulus, Augustinus und Luther die
Lehre von der vorausgehenden göttlichen Wirkung und der Unfreiheit des
menschlichen Willens ausgebildet worden ist. Aber nur in der Theorie; in der
Praxis stehen alle drei auf dem entgegengesetzten Standpunkte und lehren,
daß Gott wolle, daß allen geholfen werde und daß man annehmen müsse,
die göttlichen Veranstaltungen seien überall da vorhanden, wo sich ein Mensch
sittlich zu entscheiden habe.

Es wäre interessant, dieser Frage, die uns zu dem Problem der Verant¬
wortlichkeit führt, weiter nachzugehen, sie liegt aber außer der Richtung unsers
Weges. Es genüge, gezeigt zu haben, daß nach christlicher Lehre die christliche
Moral nicht als ein unfehlbar wirkendes Universalmittel angesehen wird.

Wenn nun jetzt von kirchlicher Seite die christliche Moral als das einzige
Heilmittel der Zeit angepriesen wird, so ist richtig: eine soziale Frage giebt
es nicht, wo einer seinen Nächsten liebt wie sich selbst, auch da nicht, wo
einer in christlicher Geduld das Übel vertrüge. Eine Heilung der sozialen
Frage ist nur denkbar, wenn der Geist der christlichen Moral Große und Kleine
beherrscht. Leider steht nur das Wörtchen „wenn" im Wege, und es ist gar
keine Aussicht vorhanden, daß dieser Stein des Anstoßes weggewälzt werde.
Daß die christliche Moral so große Dinge aus eigner ihr innewohnender Kraft
vermöge, wird mit großer Freudigkeit behauptet, aber es ist eine Selbst¬
täuschung, es ist eine Annahme, die durch die christliche Lehre selbst wider¬
legt wird. Wenn nun dem Staate angepriesen wird, was die Kirche alles
leisten würde, wenn sie zur Stütze des Throns gewonnen würde, so geht man
von einen: Irrtum aus. Die Kirche kann die Kraft, die sie hat, zur Stütze
des Throns verwenden, sie wird aber kein Loth an Kraft gewinnen, wenn
ihr diese Aufgabe ansdrücklich gestattet wird. Im Gegenteil, sie wird ihrer
eigentlichen Aufgabe entfremdet und in die Versuchung geführt werden, die
staatliche Kraft ihren kirchlichen Zwecken dienstbar zu machen. Und darauf


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[0207] Die christliche Lthik in der Gegenwart ändert werden können, so entscheiden über die Wirkung des christlichen Sitten¬ gesetzes auch Gründe, die gar nicht in diesem Sittengesetze liegen. So wirk¬ sam dieses Sittengesetz ist, wenn die nötigen Voraussetzungen gegeben sind, so unwirksam ist es, wenn diese Voraussetzungen fehlen. Die christliche Ethik bedarf einer Vorgeschichte, als deren oberster Autor Gott gilt. Er schafft, indem er Erfahrungen machen läßt, indem er anstößt, erinnert, Augen und Ohren öffnet, die in dein Menschen vorhandnen sittlichen Kräfte freimacht, das Instrument, das imstande ist, den Ton jenes „königlichen Gesetzes der Freiheit" wiederzutönen. Dies alles wird begriffen unter der Lehre von der Wirkung des heiligen Geistes. Daher spricht Christus zu seinen Gegnern: Wer von Gott ist, höret meine Stimme; ihr seid nicht von Gott, darum höret ihr nicht. Diese Lehre führt in ihren Folgerungen zu der äußersten Unfreiheit, wie denn wirklich in der Richtung eines Paulus, Augustinus und Luther die Lehre von der vorausgehenden göttlichen Wirkung und der Unfreiheit des menschlichen Willens ausgebildet worden ist. Aber nur in der Theorie; in der Praxis stehen alle drei auf dem entgegengesetzten Standpunkte und lehren, daß Gott wolle, daß allen geholfen werde und daß man annehmen müsse, die göttlichen Veranstaltungen seien überall da vorhanden, wo sich ein Mensch sittlich zu entscheiden habe. Es wäre interessant, dieser Frage, die uns zu dem Problem der Verant¬ wortlichkeit führt, weiter nachzugehen, sie liegt aber außer der Richtung unsers Weges. Es genüge, gezeigt zu haben, daß nach christlicher Lehre die christliche Moral nicht als ein unfehlbar wirkendes Universalmittel angesehen wird. Wenn nun jetzt von kirchlicher Seite die christliche Moral als das einzige Heilmittel der Zeit angepriesen wird, so ist richtig: eine soziale Frage giebt es nicht, wo einer seinen Nächsten liebt wie sich selbst, auch da nicht, wo einer in christlicher Geduld das Übel vertrüge. Eine Heilung der sozialen Frage ist nur denkbar, wenn der Geist der christlichen Moral Große und Kleine beherrscht. Leider steht nur das Wörtchen „wenn" im Wege, und es ist gar keine Aussicht vorhanden, daß dieser Stein des Anstoßes weggewälzt werde. Daß die christliche Moral so große Dinge aus eigner ihr innewohnender Kraft vermöge, wird mit großer Freudigkeit behauptet, aber es ist eine Selbst¬ täuschung, es ist eine Annahme, die durch die christliche Lehre selbst wider¬ legt wird. Wenn nun dem Staate angepriesen wird, was die Kirche alles leisten würde, wenn sie zur Stütze des Throns gewonnen würde, so geht man von einen: Irrtum aus. Die Kirche kann die Kraft, die sie hat, zur Stütze des Throns verwenden, sie wird aber kein Loth an Kraft gewinnen, wenn ihr diese Aufgabe ansdrücklich gestattet wird. Im Gegenteil, sie wird ihrer eigentlichen Aufgabe entfremdet und in die Versuchung geführt werden, die staatliche Kraft ihren kirchlichen Zwecken dienstbar zu machen. Und darauf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/207>, abgerufen am 08.01.2025.