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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die christliche Lthik in der Gegenwart

sagt much Wollastone: Ich habe überlegt, daß jene Handlung der Ausdruck eines
unwahren Satzes sein würde. Oder man sagt nach Hutcheson: Der moralische
Sinn, dessen Empfindungen, wie jedes andern Sinnes, nicht weiter erklärlich
sind, hat mich bestimmt, es sein zu lassen. Oder nach Adam Smith: Ich sah
voraus, daß nieine Handlung gar keine Sympathie mit mir in den Zuschauern
erregt haben würde. Oder nach Christian Wolf: Ich erkannte, daß ich dadurch
meiner eignen Vervollkommnung entgegenarbeiten und auch keine fremde fördern
Würde. Oder nach Spinoza: Hcmiini mittit ullum3 lloinins: srg'o Irominsrn
intei'incl'v nolui.

Man fühlt die Lächerlichkeit, Thaten mit solchen Erwägungen begründen
zu wollen. In Wirklichkeit erwägt kein Mensch in dieser Weise. Schopen¬
hauer selbst begründet die Unterlassung des Mordes, indem er den betreffenden
sagen läßt: Wie eS zu deu Anstalten kam, und ich deshalb für den Augenblick
mich nicht mit meiner Leidenschaft, sondern mit jenem Nebenbuhler zu beschäf¬
tigen hatte, da zuerst wurde mir deutlich, was jetzt mit ihm eigentlich vor¬
gehen sollte. Aber nun ergriff mich Mitleid und Erbarmen, es jammerte mich
sein, ich konnte es nicht übers Herz bringen: ich habe es nicht thun können.
Mitleiden! Der Begriff ist offenbar zu eng und nur unter Voraussetzung
der schlechtesten aller Welten Schopenhauers lind unter der grilligen Annahme
begreiflich, daß das Leben aus einer fortlaufenden Kette von Leiden bestehe.
Erweitert man "Mitleid" in "Mitgefühl," so hat man das christliche Motiv
der Liebe. Und in der That hat auch Schopenhauer sein Mitleid und vieles
andre nirgend anders her entnommen, als aus der christlichem Ethik. "Die
Liebe thut dem Nächsten nichts Böses, so ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung."
Das ist die Summe der christlichen Ethik.

Was hier Liebe genannt wird, ist offenbar kein "Begriff" in philo¬
sophischem Sinne. Begriffe sind Abstraktionen, und Abstraktionen sind leer.
Darum erweisen die Theologen ihrer Sache keinen Dienst, wenn sie sür ihre
Ethik einen Grundbegriff suchen und aus diesem, wie der Taschenspieler aus
seinem Hute, lauter schöne Dinge hervorholen. Das Wort Liebe enthält vielerlei
in ungesondertem Zustande. Sie ist eben so gut Wohlwollen wie Mitleid, wie
Zuneigung, wie Pflicht, wie Gefühl. Sie ist auch bei jedem Menschen etwas
andres, Pflicht bei dem einen und mystisches Empfinden bei dem andern,
aber bei allen eine Kraft, die den ganzen Menschen packt. Sie ist etwas, das
dem wirklichen Fühlen und Handeln des Menschen entspricht, theoretisch an¬
fechtbar, praktisch das höchste. Das Wort: "Liebe deinen Nächsten" war nicht
neu. In den heiligen Briefen der Inder steht es geschrieben, im Alten Testa¬
mente wird es als die Summe der Gebote bezeichnet. Aber neu war an dem
neutestamentlichen Gebote, daß diese Liebe unbedingt, auch dem Feinde gegen¬
über und allgemein, auch dem Unbekannten und Unwürdigen gegenüber geübt
werden soll. Das ist eine Höhe, zu der sich eine in griechischer Weise ästhcti-


Die christliche Lthik in der Gegenwart

sagt much Wollastone: Ich habe überlegt, daß jene Handlung der Ausdruck eines
unwahren Satzes sein würde. Oder man sagt nach Hutcheson: Der moralische
Sinn, dessen Empfindungen, wie jedes andern Sinnes, nicht weiter erklärlich
sind, hat mich bestimmt, es sein zu lassen. Oder nach Adam Smith: Ich sah
voraus, daß nieine Handlung gar keine Sympathie mit mir in den Zuschauern
erregt haben würde. Oder nach Christian Wolf: Ich erkannte, daß ich dadurch
meiner eignen Vervollkommnung entgegenarbeiten und auch keine fremde fördern
Würde. Oder nach Spinoza: Hcmiini mittit ullum3 lloinins: srg'o Irominsrn
intei'incl'v nolui.

Man fühlt die Lächerlichkeit, Thaten mit solchen Erwägungen begründen
zu wollen. In Wirklichkeit erwägt kein Mensch in dieser Weise. Schopen¬
hauer selbst begründet die Unterlassung des Mordes, indem er den betreffenden
sagen läßt: Wie eS zu deu Anstalten kam, und ich deshalb für den Augenblick
mich nicht mit meiner Leidenschaft, sondern mit jenem Nebenbuhler zu beschäf¬
tigen hatte, da zuerst wurde mir deutlich, was jetzt mit ihm eigentlich vor¬
gehen sollte. Aber nun ergriff mich Mitleid und Erbarmen, es jammerte mich
sein, ich konnte es nicht übers Herz bringen: ich habe es nicht thun können.
Mitleiden! Der Begriff ist offenbar zu eng und nur unter Voraussetzung
der schlechtesten aller Welten Schopenhauers lind unter der grilligen Annahme
begreiflich, daß das Leben aus einer fortlaufenden Kette von Leiden bestehe.
Erweitert man „Mitleid" in „Mitgefühl," so hat man das christliche Motiv
der Liebe. Und in der That hat auch Schopenhauer sein Mitleid und vieles
andre nirgend anders her entnommen, als aus der christlichem Ethik. „Die
Liebe thut dem Nächsten nichts Böses, so ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung."
Das ist die Summe der christlichen Ethik.

Was hier Liebe genannt wird, ist offenbar kein „Begriff" in philo¬
sophischem Sinne. Begriffe sind Abstraktionen, und Abstraktionen sind leer.
Darum erweisen die Theologen ihrer Sache keinen Dienst, wenn sie sür ihre
Ethik einen Grundbegriff suchen und aus diesem, wie der Taschenspieler aus
seinem Hute, lauter schöne Dinge hervorholen. Das Wort Liebe enthält vielerlei
in ungesondertem Zustande. Sie ist eben so gut Wohlwollen wie Mitleid, wie
Zuneigung, wie Pflicht, wie Gefühl. Sie ist auch bei jedem Menschen etwas
andres, Pflicht bei dem einen und mystisches Empfinden bei dem andern,
aber bei allen eine Kraft, die den ganzen Menschen packt. Sie ist etwas, das
dem wirklichen Fühlen und Handeln des Menschen entspricht, theoretisch an¬
fechtbar, praktisch das höchste. Das Wort: „Liebe deinen Nächsten" war nicht
neu. In den heiligen Briefen der Inder steht es geschrieben, im Alten Testa¬
mente wird es als die Summe der Gebote bezeichnet. Aber neu war an dem
neutestamentlichen Gebote, daß diese Liebe unbedingt, auch dem Feinde gegen¬
über und allgemein, auch dem Unbekannten und Unwürdigen gegenüber geübt
werden soll. Das ist eine Höhe, zu der sich eine in griechischer Weise ästhcti-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/204>, abgerufen am 08.01.2025.