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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die christliche "Lthik in der Gegenwart

dem Staate raten, er möge der Kirche nur die nötige Freiheit und den nötigen
Auftrag geben, sie werde mit ihrer christlichen Ethik schnell alles wieder zurecht
bringen. Man kann, was in einem Menschenalter geworden ist, nicht zwischen
heute und morgen ungeschehen machen; es fragt sich auch, ob das Heilmittel,
das unsern Vätern geholfen hat, heutzutage, nachdem die Krankheit so weit
vorgeschritten ist, Heilkraft besitzt. Wenn aber die Vertreter der christlichen
Weltanschauung ihre Zuversicht aus der Erwägung ableiten, daß die christliche
Ethik das beste sei, und daß alles, was gut ist, auch wirken müsse, so kann
man immerhin das erste zugeben und doch aus der Erfahrung die Lehre ziehen,
daß das gute keineswegs immer das wirksame sei.

Aber ist es auch richtig, daß die christliche Moral etwas so Wertvolles
sei, wie von kirchlicher Seite behauptet wird? Die Gegner haben viel an
ihr auszusetzen: sie bilde kein System, sie gehe vou keinem einheitlichen
Prinzip ans, sie habe keine feste Abgrenzung und spiele in den Eudämonismus
über. Sie sei nicht gegliedert, nicht logisch durchdacht, sie habe keine klaren
Begriffe, sie sei mystisch, sie enthalte -- überhaupt nichts neues. Man kann
alle diese Einwände gelten lassen, ohne von dem Werte dieser Ethik etwas
preiszugeben. Sie stellt wirklich kein System dar, aber gerade das ist einer
ihrer größten Vorzüge. Denn sie ist keine papierne, sondern eine wirkliche
Lebensweisheit. Und im natürlichen Leben geht nichts systematisch zu. Auch
die reinliche Zergliederung der Motive, wie sie die Aufgabe des Philosophen
ist, kommt im wirklichen Leben nicht vor. Hier ballen sich Mengen von Vor¬
stellungen, Erinnerungen, Wünschen zusammen, hier wirken nicht einfache, son¬
dern höchst zusammengesetzte, wohl selbst hinter der Schwelle des Bewußtseins
liegende Kräfte wider einander. Will einer diese Kräfte in Bewegung setzen,
so wird es ihm am schlechtesten gelingen, wenn er sie auseinanderwickelt
und einzeln beurteilt und anredet. Am besten geht es dann, wenn einer das
Kommandowort kennt, das die Masse in Bewegung setzt. "Logische" Redner
sind nicht immer die wirksamsten, sondern die mit treffenden Worten Vor-
stelluugsmengen der Zuhörer zu wecken und zu bewegen verstehn.

Schopenhauer macht sich das Vergnügen, die Motive der verschiednen
philosophischen Moralen auf ihre Kraft zu prüfen. Er setzt den Fall, daß es
möglich sei, einen Nebenbuhler ohne Gefahr aus dem Wege zu räumen. Aus
welchen Gründen könnte min diese That unterlassen werden? Man könnte
sagen: Ich bedachte, daß die Maxime meines Verfahrens in diesem Falle
sich nicht geeignet haben würde, eine allgemein giltige Regel für alle mög¬
lichen vernünftigen Wesen abzugeben, indem ich ja meinen Nebenbuhler allein
als Mittel und nicht zugleich als Zweck behandelt haben würde. Oder man
sagt mit Fichte: Jedes Menschenleben ist Mittel zur Verwirklichung des Sitten¬
gesetzes, also kann ich nicht, ohne gegen das Sittengesetz gleichgiltig zu sein,
einen vernichten, der zu dieser Verwirklichung beizutragen bestimmt ist. Oder mau


Die christliche «Lthik in der Gegenwart

dem Staate raten, er möge der Kirche nur die nötige Freiheit und den nötigen
Auftrag geben, sie werde mit ihrer christlichen Ethik schnell alles wieder zurecht
bringen. Man kann, was in einem Menschenalter geworden ist, nicht zwischen
heute und morgen ungeschehen machen; es fragt sich auch, ob das Heilmittel,
das unsern Vätern geholfen hat, heutzutage, nachdem die Krankheit so weit
vorgeschritten ist, Heilkraft besitzt. Wenn aber die Vertreter der christlichen
Weltanschauung ihre Zuversicht aus der Erwägung ableiten, daß die christliche
Ethik das beste sei, und daß alles, was gut ist, auch wirken müsse, so kann
man immerhin das erste zugeben und doch aus der Erfahrung die Lehre ziehen,
daß das gute keineswegs immer das wirksame sei.

Aber ist es auch richtig, daß die christliche Moral etwas so Wertvolles
sei, wie von kirchlicher Seite behauptet wird? Die Gegner haben viel an
ihr auszusetzen: sie bilde kein System, sie gehe vou keinem einheitlichen
Prinzip ans, sie habe keine feste Abgrenzung und spiele in den Eudämonismus
über. Sie sei nicht gegliedert, nicht logisch durchdacht, sie habe keine klaren
Begriffe, sie sei mystisch, sie enthalte — überhaupt nichts neues. Man kann
alle diese Einwände gelten lassen, ohne von dem Werte dieser Ethik etwas
preiszugeben. Sie stellt wirklich kein System dar, aber gerade das ist einer
ihrer größten Vorzüge. Denn sie ist keine papierne, sondern eine wirkliche
Lebensweisheit. Und im natürlichen Leben geht nichts systematisch zu. Auch
die reinliche Zergliederung der Motive, wie sie die Aufgabe des Philosophen
ist, kommt im wirklichen Leben nicht vor. Hier ballen sich Mengen von Vor¬
stellungen, Erinnerungen, Wünschen zusammen, hier wirken nicht einfache, son¬
dern höchst zusammengesetzte, wohl selbst hinter der Schwelle des Bewußtseins
liegende Kräfte wider einander. Will einer diese Kräfte in Bewegung setzen,
so wird es ihm am schlechtesten gelingen, wenn er sie auseinanderwickelt
und einzeln beurteilt und anredet. Am besten geht es dann, wenn einer das
Kommandowort kennt, das die Masse in Bewegung setzt. „Logische" Redner
sind nicht immer die wirksamsten, sondern die mit treffenden Worten Vor-
stelluugsmengen der Zuhörer zu wecken und zu bewegen verstehn.

Schopenhauer macht sich das Vergnügen, die Motive der verschiednen
philosophischen Moralen auf ihre Kraft zu prüfen. Er setzt den Fall, daß es
möglich sei, einen Nebenbuhler ohne Gefahr aus dem Wege zu räumen. Aus
welchen Gründen könnte min diese That unterlassen werden? Man könnte
sagen: Ich bedachte, daß die Maxime meines Verfahrens in diesem Falle
sich nicht geeignet haben würde, eine allgemein giltige Regel für alle mög¬
lichen vernünftigen Wesen abzugeben, indem ich ja meinen Nebenbuhler allein
als Mittel und nicht zugleich als Zweck behandelt haben würde. Oder man
sagt mit Fichte: Jedes Menschenleben ist Mittel zur Verwirklichung des Sitten¬
gesetzes, also kann ich nicht, ohne gegen das Sittengesetz gleichgiltig zu sein,
einen vernichten, der zu dieser Verwirklichung beizutragen bestimmt ist. Oder mau


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[0203] Die christliche «Lthik in der Gegenwart dem Staate raten, er möge der Kirche nur die nötige Freiheit und den nötigen Auftrag geben, sie werde mit ihrer christlichen Ethik schnell alles wieder zurecht bringen. Man kann, was in einem Menschenalter geworden ist, nicht zwischen heute und morgen ungeschehen machen; es fragt sich auch, ob das Heilmittel, das unsern Vätern geholfen hat, heutzutage, nachdem die Krankheit so weit vorgeschritten ist, Heilkraft besitzt. Wenn aber die Vertreter der christlichen Weltanschauung ihre Zuversicht aus der Erwägung ableiten, daß die christliche Ethik das beste sei, und daß alles, was gut ist, auch wirken müsse, so kann man immerhin das erste zugeben und doch aus der Erfahrung die Lehre ziehen, daß das gute keineswegs immer das wirksame sei. Aber ist es auch richtig, daß die christliche Moral etwas so Wertvolles sei, wie von kirchlicher Seite behauptet wird? Die Gegner haben viel an ihr auszusetzen: sie bilde kein System, sie gehe vou keinem einheitlichen Prinzip ans, sie habe keine feste Abgrenzung und spiele in den Eudämonismus über. Sie sei nicht gegliedert, nicht logisch durchdacht, sie habe keine klaren Begriffe, sie sei mystisch, sie enthalte — überhaupt nichts neues. Man kann alle diese Einwände gelten lassen, ohne von dem Werte dieser Ethik etwas preiszugeben. Sie stellt wirklich kein System dar, aber gerade das ist einer ihrer größten Vorzüge. Denn sie ist keine papierne, sondern eine wirkliche Lebensweisheit. Und im natürlichen Leben geht nichts systematisch zu. Auch die reinliche Zergliederung der Motive, wie sie die Aufgabe des Philosophen ist, kommt im wirklichen Leben nicht vor. Hier ballen sich Mengen von Vor¬ stellungen, Erinnerungen, Wünschen zusammen, hier wirken nicht einfache, son¬ dern höchst zusammengesetzte, wohl selbst hinter der Schwelle des Bewußtseins liegende Kräfte wider einander. Will einer diese Kräfte in Bewegung setzen, so wird es ihm am schlechtesten gelingen, wenn er sie auseinanderwickelt und einzeln beurteilt und anredet. Am besten geht es dann, wenn einer das Kommandowort kennt, das die Masse in Bewegung setzt. „Logische" Redner sind nicht immer die wirksamsten, sondern die mit treffenden Worten Vor- stelluugsmengen der Zuhörer zu wecken und zu bewegen verstehn. Schopenhauer macht sich das Vergnügen, die Motive der verschiednen philosophischen Moralen auf ihre Kraft zu prüfen. Er setzt den Fall, daß es möglich sei, einen Nebenbuhler ohne Gefahr aus dem Wege zu räumen. Aus welchen Gründen könnte min diese That unterlassen werden? Man könnte sagen: Ich bedachte, daß die Maxime meines Verfahrens in diesem Falle sich nicht geeignet haben würde, eine allgemein giltige Regel für alle mög¬ lichen vernünftigen Wesen abzugeben, indem ich ja meinen Nebenbuhler allein als Mittel und nicht zugleich als Zweck behandelt haben würde. Oder man sagt mit Fichte: Jedes Menschenleben ist Mittel zur Verwirklichung des Sitten¬ gesetzes, also kann ich nicht, ohne gegen das Sittengesetz gleichgiltig zu sein, einen vernichten, der zu dieser Verwirklichung beizutragen bestimmt ist. Oder mau

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/203>, abgerufen am 08.01.2025.