Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vie christliche Lthik in der Gegenwart

an ihr gerühmt wird, oder ob sie so ohnmächtig ist, wie von der andern Seite
behauptet wird.

Drei Meinungen stehn sich jetzt sast unvermittelt gegenüber. Nach der
einen wird man aus den gegenwärtigen Nöten nur dann herauskommen, wenn
man zur christlichen Weltanschauung zurückkehrt, wenn man der Religion die
ihr gebührende Stellung einräumt und der Kirche die Stützung des Thrones
überträgt. Diese Meinung, von der wir annehmen wollen, daß sie bei allen
denen, die sie vertreten, auch ehrlich gemeint sei, hat zu dem Bündnisse des
Zentrums und der konservativen Partei und zur Aufstellung eines Schul¬
gesetzes, wie des vom Grafen Zedlitz eingebrachten, geführt, sie beherrscht die
kirchlichen und die der Kirche nahestehenden Kreise. Nach der zweiten Mei¬
nung ist von Kirche und Christentum nicht viel zu halten, vielmehr hat eine
allgemeine Sittlichkeit an die Stelle der christlichen zu treten. Diese allgemeine
Sittlichkeit hat sich mit dem zu decken, was bürgerlich anständig und ersprie߬
lich ist, was dem allgemeinen Nutzen entspricht und durch die Staatsgesetze
geboten oder verboten ist. Nach der dritten Meinung endlich ist "sittlich" ein
Wort ohne eine bestimmte Bedeutuug. Sittlich ist der Mensch oder die Sache,
die nützen, unsittlich sind die, die schaden. Im Grunde genommen giebt es
nur ein Gebot, das des Egoismus, und das "heilige Wissen" zeigt, was dem
Ich erreichbar und was unerreichbar ist. Was man sonst sittlich nennt, sind
Vorurteile, Reste untergegcmgner oder dein Untergange verfallner Kulturen.

Daß diese letzte Sittenlehre die Vorfrucht des Sozialismus bildet, und
daß bei dieser Herrschaft die Welt eigentlich nur zufolge einer merkwürdigen
Inkonsequenz bestehen kann, ist einleuchtend. Ebenso einleuchtend ist, daß die
an zweiter Stelle angedeutete Lehre, da sie die Moral des herrschenden
Teils der Gesellschaft ist, mit dieser Gesellschaft oder dein Staate steht und
fällt. Was aber ist von der ersten Meinung zu halten?

Es scheint logisch unanfechtbar zu sein, daß man, wenn unter der Herr¬
schaft der christlichen Weltanschcinung alles gut und schön war, und wenn man,
nachdem dieser Boden verlasse" war, die bittersten Erfahrungen gemacht hat,
zu der christlichen Weltanschauung und christlichen Ethik zurückkehren müsse,
und daß dann der frühere Zustand wieder eintreten werde. Ja, wenn! Manche
bestreikn aber, daß unter der Herrschaft der christlichen Moral alles gut und
schön gewesen sei. Wir geben das zu, ohne deshalb an dem Werte, auch an
dem praktischen Werte der christlichen Ethik im geringsten, zu zweifeln. Es
ist anch nicht gleichgiltig, ob man einen Schritt vorwärts oder rückwärts thut.
Man kann keinen Schritt seines Lebens rückwärts thun, und es geht das auch
im Leben der Völker nicht. Auf eine Arznei, die früher geholfen hätte, die
dann geschmäht wird, kann ich später nicht wieder zurückgreifen, denn statt
des insclieÄMvntuin heilt nun nur noch körruin oder igni8. Dies wird von
den Freunden der christlichen Weltanschauung offenbar übersehen, wenn sie


Vie christliche Lthik in der Gegenwart

an ihr gerühmt wird, oder ob sie so ohnmächtig ist, wie von der andern Seite
behauptet wird.

Drei Meinungen stehn sich jetzt sast unvermittelt gegenüber. Nach der
einen wird man aus den gegenwärtigen Nöten nur dann herauskommen, wenn
man zur christlichen Weltanschauung zurückkehrt, wenn man der Religion die
ihr gebührende Stellung einräumt und der Kirche die Stützung des Thrones
überträgt. Diese Meinung, von der wir annehmen wollen, daß sie bei allen
denen, die sie vertreten, auch ehrlich gemeint sei, hat zu dem Bündnisse des
Zentrums und der konservativen Partei und zur Aufstellung eines Schul¬
gesetzes, wie des vom Grafen Zedlitz eingebrachten, geführt, sie beherrscht die
kirchlichen und die der Kirche nahestehenden Kreise. Nach der zweiten Mei¬
nung ist von Kirche und Christentum nicht viel zu halten, vielmehr hat eine
allgemeine Sittlichkeit an die Stelle der christlichen zu treten. Diese allgemeine
Sittlichkeit hat sich mit dem zu decken, was bürgerlich anständig und ersprie߬
lich ist, was dem allgemeinen Nutzen entspricht und durch die Staatsgesetze
geboten oder verboten ist. Nach der dritten Meinung endlich ist „sittlich" ein
Wort ohne eine bestimmte Bedeutuug. Sittlich ist der Mensch oder die Sache,
die nützen, unsittlich sind die, die schaden. Im Grunde genommen giebt es
nur ein Gebot, das des Egoismus, und das „heilige Wissen" zeigt, was dem
Ich erreichbar und was unerreichbar ist. Was man sonst sittlich nennt, sind
Vorurteile, Reste untergegcmgner oder dein Untergange verfallner Kulturen.

Daß diese letzte Sittenlehre die Vorfrucht des Sozialismus bildet, und
daß bei dieser Herrschaft die Welt eigentlich nur zufolge einer merkwürdigen
Inkonsequenz bestehen kann, ist einleuchtend. Ebenso einleuchtend ist, daß die
an zweiter Stelle angedeutete Lehre, da sie die Moral des herrschenden
Teils der Gesellschaft ist, mit dieser Gesellschaft oder dein Staate steht und
fällt. Was aber ist von der ersten Meinung zu halten?

Es scheint logisch unanfechtbar zu sein, daß man, wenn unter der Herr¬
schaft der christlichen Weltanschcinung alles gut und schön war, und wenn man,
nachdem dieser Boden verlasse» war, die bittersten Erfahrungen gemacht hat,
zu der christlichen Weltanschauung und christlichen Ethik zurückkehren müsse,
und daß dann der frühere Zustand wieder eintreten werde. Ja, wenn! Manche
bestreikn aber, daß unter der Herrschaft der christlichen Moral alles gut und
schön gewesen sei. Wir geben das zu, ohne deshalb an dem Werte, auch an
dem praktischen Werte der christlichen Ethik im geringsten, zu zweifeln. Es
ist anch nicht gleichgiltig, ob man einen Schritt vorwärts oder rückwärts thut.
Man kann keinen Schritt seines Lebens rückwärts thun, und es geht das auch
im Leben der Völker nicht. Auf eine Arznei, die früher geholfen hätte, die
dann geschmäht wird, kann ich später nicht wieder zurückgreifen, denn statt
des insclieÄMvntuin heilt nun nur noch körruin oder igni8. Dies wird von
den Freunden der christlichen Weltanschauung offenbar übersehen, wenn sie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0202" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212678"/>
          <fw type="header" place="top"> Vie christliche Lthik in der Gegenwart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_666" prev="#ID_665"> an ihr gerühmt wird, oder ob sie so ohnmächtig ist, wie von der andern Seite<lb/>
behauptet wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_667"> Drei Meinungen stehn sich jetzt sast unvermittelt gegenüber. Nach der<lb/>
einen wird man aus den gegenwärtigen Nöten nur dann herauskommen, wenn<lb/>
man zur christlichen Weltanschauung zurückkehrt, wenn man der Religion die<lb/>
ihr gebührende Stellung einräumt und der Kirche die Stützung des Thrones<lb/>
überträgt. Diese Meinung, von der wir annehmen wollen, daß sie bei allen<lb/>
denen, die sie vertreten, auch ehrlich gemeint sei, hat zu dem Bündnisse des<lb/>
Zentrums und der konservativen Partei und zur Aufstellung eines Schul¬<lb/>
gesetzes, wie des vom Grafen Zedlitz eingebrachten, geführt, sie beherrscht die<lb/>
kirchlichen und die der Kirche nahestehenden Kreise. Nach der zweiten Mei¬<lb/>
nung ist von Kirche und Christentum nicht viel zu halten, vielmehr hat eine<lb/>
allgemeine Sittlichkeit an die Stelle der christlichen zu treten. Diese allgemeine<lb/>
Sittlichkeit hat sich mit dem zu decken, was bürgerlich anständig und ersprie߬<lb/>
lich ist, was dem allgemeinen Nutzen entspricht und durch die Staatsgesetze<lb/>
geboten oder verboten ist. Nach der dritten Meinung endlich ist &#x201E;sittlich" ein<lb/>
Wort ohne eine bestimmte Bedeutuug. Sittlich ist der Mensch oder die Sache,<lb/>
die nützen, unsittlich sind die, die schaden. Im Grunde genommen giebt es<lb/>
nur ein Gebot, das des Egoismus, und das &#x201E;heilige Wissen" zeigt, was dem<lb/>
Ich erreichbar und was unerreichbar ist. Was man sonst sittlich nennt, sind<lb/>
Vorurteile, Reste untergegcmgner oder dein Untergange verfallner Kulturen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_668"> Daß diese letzte Sittenlehre die Vorfrucht des Sozialismus bildet, und<lb/>
daß bei dieser Herrschaft die Welt eigentlich nur zufolge einer merkwürdigen<lb/>
Inkonsequenz bestehen kann, ist einleuchtend. Ebenso einleuchtend ist, daß die<lb/>
an zweiter Stelle angedeutete Lehre, da sie die Moral des herrschenden<lb/>
Teils der Gesellschaft ist, mit dieser Gesellschaft oder dein Staate steht und<lb/>
fällt. Was aber ist von der ersten Meinung zu halten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_669" next="#ID_670"> Es scheint logisch unanfechtbar zu sein, daß man, wenn unter der Herr¬<lb/>
schaft der christlichen Weltanschcinung alles gut und schön war, und wenn man,<lb/>
nachdem dieser Boden verlasse» war, die bittersten Erfahrungen gemacht hat,<lb/>
zu der christlichen Weltanschauung und christlichen Ethik zurückkehren müsse,<lb/>
und daß dann der frühere Zustand wieder eintreten werde. Ja, wenn! Manche<lb/>
bestreikn aber, daß unter der Herrschaft der christlichen Moral alles gut und<lb/>
schön gewesen sei. Wir geben das zu, ohne deshalb an dem Werte, auch an<lb/>
dem praktischen Werte der christlichen Ethik im geringsten, zu zweifeln. Es<lb/>
ist anch nicht gleichgiltig, ob man einen Schritt vorwärts oder rückwärts thut.<lb/>
Man kann keinen Schritt seines Lebens rückwärts thun, und es geht das auch<lb/>
im Leben der Völker nicht. Auf eine Arznei, die früher geholfen hätte, die<lb/>
dann geschmäht wird, kann ich später nicht wieder zurückgreifen, denn statt<lb/>
des insclieÄMvntuin heilt nun nur noch körruin oder igni8. Dies wird von<lb/>
den Freunden der christlichen Weltanschauung offenbar übersehen, wenn sie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0202] Vie christliche Lthik in der Gegenwart an ihr gerühmt wird, oder ob sie so ohnmächtig ist, wie von der andern Seite behauptet wird. Drei Meinungen stehn sich jetzt sast unvermittelt gegenüber. Nach der einen wird man aus den gegenwärtigen Nöten nur dann herauskommen, wenn man zur christlichen Weltanschauung zurückkehrt, wenn man der Religion die ihr gebührende Stellung einräumt und der Kirche die Stützung des Thrones überträgt. Diese Meinung, von der wir annehmen wollen, daß sie bei allen denen, die sie vertreten, auch ehrlich gemeint sei, hat zu dem Bündnisse des Zentrums und der konservativen Partei und zur Aufstellung eines Schul¬ gesetzes, wie des vom Grafen Zedlitz eingebrachten, geführt, sie beherrscht die kirchlichen und die der Kirche nahestehenden Kreise. Nach der zweiten Mei¬ nung ist von Kirche und Christentum nicht viel zu halten, vielmehr hat eine allgemeine Sittlichkeit an die Stelle der christlichen zu treten. Diese allgemeine Sittlichkeit hat sich mit dem zu decken, was bürgerlich anständig und ersprie߬ lich ist, was dem allgemeinen Nutzen entspricht und durch die Staatsgesetze geboten oder verboten ist. Nach der dritten Meinung endlich ist „sittlich" ein Wort ohne eine bestimmte Bedeutuug. Sittlich ist der Mensch oder die Sache, die nützen, unsittlich sind die, die schaden. Im Grunde genommen giebt es nur ein Gebot, das des Egoismus, und das „heilige Wissen" zeigt, was dem Ich erreichbar und was unerreichbar ist. Was man sonst sittlich nennt, sind Vorurteile, Reste untergegcmgner oder dein Untergange verfallner Kulturen. Daß diese letzte Sittenlehre die Vorfrucht des Sozialismus bildet, und daß bei dieser Herrschaft die Welt eigentlich nur zufolge einer merkwürdigen Inkonsequenz bestehen kann, ist einleuchtend. Ebenso einleuchtend ist, daß die an zweiter Stelle angedeutete Lehre, da sie die Moral des herrschenden Teils der Gesellschaft ist, mit dieser Gesellschaft oder dein Staate steht und fällt. Was aber ist von der ersten Meinung zu halten? Es scheint logisch unanfechtbar zu sein, daß man, wenn unter der Herr¬ schaft der christlichen Weltanschcinung alles gut und schön war, und wenn man, nachdem dieser Boden verlasse» war, die bittersten Erfahrungen gemacht hat, zu der christlichen Weltanschauung und christlichen Ethik zurückkehren müsse, und daß dann der frühere Zustand wieder eintreten werde. Ja, wenn! Manche bestreikn aber, daß unter der Herrschaft der christlichen Moral alles gut und schön gewesen sei. Wir geben das zu, ohne deshalb an dem Werte, auch an dem praktischen Werte der christlichen Ethik im geringsten, zu zweifeln. Es ist anch nicht gleichgiltig, ob man einen Schritt vorwärts oder rückwärts thut. Man kann keinen Schritt seines Lebens rückwärts thun, und es geht das auch im Leben der Völker nicht. Auf eine Arznei, die früher geholfen hätte, die dann geschmäht wird, kann ich später nicht wieder zurückgreifen, denn statt des insclieÄMvntuin heilt nun nur noch körruin oder igni8. Dies wird von den Freunden der christlichen Weltanschauung offenbar übersehen, wenn sie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/202
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/202>, abgerufen am 06.01.2025.