Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Dynamik

den sozialdemokratischen Boden gerät, gerät er in Widerspruch mit seinem
eigentlichen Zweck, er wird nicht mehr zum Förderer, sondern zum Hemmnis
des Volkslebens. Ein Veamtenstaat wie Nußland, mit einem untüchtige!? Be¬
amtentum, reißt allerdings die Macht, den Einfluß immer weiter ein sich; aber
die untüchtigen Beamten sind nicht fähig, die lebendige Macht der zweckvollen
Leitung des Volkslebens festzuhalten, sie fließt ihnen wie Wasser durch die
Hände. Mit unverständiger Hand behandeln sie den zu pflegenden Baum,
sie schneiden viel und scharf an ihm herum, aber der Stamm gedeiht nicht,
sondern daneben schießen wilde Triebe auf. Ju Rußland wird für alles und
jedes sofort ein Gesetz gemacht und ein Beamter dazu gestellt; nachher läßt
der Beamte ruhig das Gras des grünen Lebens über das Gesetz wachsen, zum
Segen des Volkswohls, das sonst an Gesetz und Beamten längst erstickt wäre.
In den Händen des russischen Beamten bleibt dann die nackte Gewalt zurück,
die eigentliche lebenspendende Macht entschlüpft seiner Hand. Bei uns ist die
Fabrikation von Paragraphen ebenfalls im Schwange, aber indem der Beamte
den Paragraphen mit Pflichteifer und Verständnis anwendet, indem er ihn
lebendig erhält, erhält und erweitert er zugleich nicht die bloße Gewalt, souderu
die organische Macht des Staates. Denn "was man nicht nutzt, ist eine
schwere Last," und unter dieser Last seufzt Rußland. Dort aber schlüpft die
gesunde Vernunft leicht durch die Maschen des staatlichen Netzes und rettet,
wenn auch entstellt, die Macht der Gewohnheit und Volkssitte, die sonst sämtlich
vom Staat verspeist würden. Bei uns hat der Staat mehr Achtung vor dem
traditionellen natürlichen Volksleben, aber wo er es packt und zwingt, da setzt
er seinen Willen an die Stelle der Gewohnheit des Volks, er vollbringt
wirklich, was der russische Tschinownik nur scheinbar thut. Dieser zerstört,
ohne zu bauen, unser Staat zerstört und baut Neues; und damit mehrt er
seine Macht auf Kosten der freien Bewegung des Volkes, zweckvvll zwar und
verständig, aber doch zwängend und engend.

Wollen wir Staat und Reich vor dem sozialen Zusammenbruch und dem
Ansturm der Massen retten, wollen wir ihm Dauerhaftigkeit geben, so wollen
wir ihm nicht alle öffentliche Macht aufbürden, so wollen wir ihn möglichst
auch von dem entlasten, was ihn schon heute gefährdet. Wir sind bereits in
einer Lebensfrage an die Grenze der staatlichen Macht gelaugt. Einkommen¬
steuer mit Selbsteiuschützung, Kapitalsteuer, das sind Zeichen dafür, daß der
Staat nicht weiter imstande ist, die wachsenden Geldbedürfnisfe durch die Hände
des Beamtentums allein zu befriedigen. Könnten Einkommen und Kapital
von seineu Dienern allein gefaßt werden, der Staat von heute würde sich
schwerlich an das Gewissen und den Willen des einzelnen wenden, um sein
Geld zu bekommen; das ist die Art des "Rackers" nicht. Der Staat ist eifer¬
süchtig für seine Macht und ein Besserwisser in allen Dingen; aber mit dem
Verstaatlichen von allerlei Volksarbeit, mit dem Aufsaugen aller öffentlichen


Dynamik

den sozialdemokratischen Boden gerät, gerät er in Widerspruch mit seinem
eigentlichen Zweck, er wird nicht mehr zum Förderer, sondern zum Hemmnis
des Volkslebens. Ein Veamtenstaat wie Nußland, mit einem untüchtige!? Be¬
amtentum, reißt allerdings die Macht, den Einfluß immer weiter ein sich; aber
die untüchtigen Beamten sind nicht fähig, die lebendige Macht der zweckvollen
Leitung des Volkslebens festzuhalten, sie fließt ihnen wie Wasser durch die
Hände. Mit unverständiger Hand behandeln sie den zu pflegenden Baum,
sie schneiden viel und scharf an ihm herum, aber der Stamm gedeiht nicht,
sondern daneben schießen wilde Triebe auf. Ju Rußland wird für alles und
jedes sofort ein Gesetz gemacht und ein Beamter dazu gestellt; nachher läßt
der Beamte ruhig das Gras des grünen Lebens über das Gesetz wachsen, zum
Segen des Volkswohls, das sonst an Gesetz und Beamten längst erstickt wäre.
In den Händen des russischen Beamten bleibt dann die nackte Gewalt zurück,
die eigentliche lebenspendende Macht entschlüpft seiner Hand. Bei uns ist die
Fabrikation von Paragraphen ebenfalls im Schwange, aber indem der Beamte
den Paragraphen mit Pflichteifer und Verständnis anwendet, indem er ihn
lebendig erhält, erhält und erweitert er zugleich nicht die bloße Gewalt, souderu
die organische Macht des Staates. Denn „was man nicht nutzt, ist eine
schwere Last," und unter dieser Last seufzt Rußland. Dort aber schlüpft die
gesunde Vernunft leicht durch die Maschen des staatlichen Netzes und rettet,
wenn auch entstellt, die Macht der Gewohnheit und Volkssitte, die sonst sämtlich
vom Staat verspeist würden. Bei uns hat der Staat mehr Achtung vor dem
traditionellen natürlichen Volksleben, aber wo er es packt und zwingt, da setzt
er seinen Willen an die Stelle der Gewohnheit des Volks, er vollbringt
wirklich, was der russische Tschinownik nur scheinbar thut. Dieser zerstört,
ohne zu bauen, unser Staat zerstört und baut Neues; und damit mehrt er
seine Macht auf Kosten der freien Bewegung des Volkes, zweckvvll zwar und
verständig, aber doch zwängend und engend.

Wollen wir Staat und Reich vor dem sozialen Zusammenbruch und dem
Ansturm der Massen retten, wollen wir ihm Dauerhaftigkeit geben, so wollen
wir ihm nicht alle öffentliche Macht aufbürden, so wollen wir ihn möglichst
auch von dem entlasten, was ihn schon heute gefährdet. Wir sind bereits in
einer Lebensfrage an die Grenze der staatlichen Macht gelaugt. Einkommen¬
steuer mit Selbsteiuschützung, Kapitalsteuer, das sind Zeichen dafür, daß der
Staat nicht weiter imstande ist, die wachsenden Geldbedürfnisfe durch die Hände
des Beamtentums allein zu befriedigen. Könnten Einkommen und Kapital
von seineu Dienern allein gefaßt werden, der Staat von heute würde sich
schwerlich an das Gewissen und den Willen des einzelnen wenden, um sein
Geld zu bekommen; das ist die Art des „Rackers" nicht. Der Staat ist eifer¬
süchtig für seine Macht und ein Besserwisser in allen Dingen; aber mit dem
Verstaatlichen von allerlei Volksarbeit, mit dem Aufsaugen aller öffentlichen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212646"/>
          <fw type="header" place="top"> Dynamik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_523" prev="#ID_522"> den sozialdemokratischen Boden gerät, gerät er in Widerspruch mit seinem<lb/>
eigentlichen Zweck, er wird nicht mehr zum Förderer, sondern zum Hemmnis<lb/>
des Volkslebens. Ein Veamtenstaat wie Nußland, mit einem untüchtige!? Be¬<lb/>
amtentum, reißt allerdings die Macht, den Einfluß immer weiter ein sich; aber<lb/>
die untüchtigen Beamten sind nicht fähig, die lebendige Macht der zweckvollen<lb/>
Leitung des Volkslebens festzuhalten, sie fließt ihnen wie Wasser durch die<lb/>
Hände. Mit unverständiger Hand behandeln sie den zu pflegenden Baum,<lb/>
sie schneiden viel und scharf an ihm herum, aber der Stamm gedeiht nicht,<lb/>
sondern daneben schießen wilde Triebe auf. Ju Rußland wird für alles und<lb/>
jedes sofort ein Gesetz gemacht und ein Beamter dazu gestellt; nachher läßt<lb/>
der Beamte ruhig das Gras des grünen Lebens über das Gesetz wachsen, zum<lb/>
Segen des Volkswohls, das sonst an Gesetz und Beamten längst erstickt wäre.<lb/>
In den Händen des russischen Beamten bleibt dann die nackte Gewalt zurück,<lb/>
die eigentliche lebenspendende Macht entschlüpft seiner Hand. Bei uns ist die<lb/>
Fabrikation von Paragraphen ebenfalls im Schwange, aber indem der Beamte<lb/>
den Paragraphen mit Pflichteifer und Verständnis anwendet, indem er ihn<lb/>
lebendig erhält, erhält und erweitert er zugleich nicht die bloße Gewalt, souderu<lb/>
die organische Macht des Staates. Denn &#x201E;was man nicht nutzt, ist eine<lb/>
schwere Last," und unter dieser Last seufzt Rußland. Dort aber schlüpft die<lb/>
gesunde Vernunft leicht durch die Maschen des staatlichen Netzes und rettet,<lb/>
wenn auch entstellt, die Macht der Gewohnheit und Volkssitte, die sonst sämtlich<lb/>
vom Staat verspeist würden. Bei uns hat der Staat mehr Achtung vor dem<lb/>
traditionellen natürlichen Volksleben, aber wo er es packt und zwingt, da setzt<lb/>
er seinen Willen an die Stelle der Gewohnheit des Volks, er vollbringt<lb/>
wirklich, was der russische Tschinownik nur scheinbar thut. Dieser zerstört,<lb/>
ohne zu bauen, unser Staat zerstört und baut Neues; und damit mehrt er<lb/>
seine Macht auf Kosten der freien Bewegung des Volkes, zweckvvll zwar und<lb/>
verständig, aber doch zwängend und engend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_524" next="#ID_525"> Wollen wir Staat und Reich vor dem sozialen Zusammenbruch und dem<lb/>
Ansturm der Massen retten, wollen wir ihm Dauerhaftigkeit geben, so wollen<lb/>
wir ihm nicht alle öffentliche Macht aufbürden, so wollen wir ihn möglichst<lb/>
auch von dem entlasten, was ihn schon heute gefährdet. Wir sind bereits in<lb/>
einer Lebensfrage an die Grenze der staatlichen Macht gelaugt. Einkommen¬<lb/>
steuer mit Selbsteiuschützung, Kapitalsteuer, das sind Zeichen dafür, daß der<lb/>
Staat nicht weiter imstande ist, die wachsenden Geldbedürfnisfe durch die Hände<lb/>
des Beamtentums allein zu befriedigen. Könnten Einkommen und Kapital<lb/>
von seineu Dienern allein gefaßt werden, der Staat von heute würde sich<lb/>
schwerlich an das Gewissen und den Willen des einzelnen wenden, um sein<lb/>
Geld zu bekommen; das ist die Art des &#x201E;Rackers" nicht. Der Staat ist eifer¬<lb/>
süchtig für seine Macht und ein Besserwisser in allen Dingen; aber mit dem<lb/>
Verstaatlichen von allerlei Volksarbeit, mit dem Aufsaugen aller öffentlichen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0170] Dynamik den sozialdemokratischen Boden gerät, gerät er in Widerspruch mit seinem eigentlichen Zweck, er wird nicht mehr zum Förderer, sondern zum Hemmnis des Volkslebens. Ein Veamtenstaat wie Nußland, mit einem untüchtige!? Be¬ amtentum, reißt allerdings die Macht, den Einfluß immer weiter ein sich; aber die untüchtigen Beamten sind nicht fähig, die lebendige Macht der zweckvollen Leitung des Volkslebens festzuhalten, sie fließt ihnen wie Wasser durch die Hände. Mit unverständiger Hand behandeln sie den zu pflegenden Baum, sie schneiden viel und scharf an ihm herum, aber der Stamm gedeiht nicht, sondern daneben schießen wilde Triebe auf. Ju Rußland wird für alles und jedes sofort ein Gesetz gemacht und ein Beamter dazu gestellt; nachher läßt der Beamte ruhig das Gras des grünen Lebens über das Gesetz wachsen, zum Segen des Volkswohls, das sonst an Gesetz und Beamten längst erstickt wäre. In den Händen des russischen Beamten bleibt dann die nackte Gewalt zurück, die eigentliche lebenspendende Macht entschlüpft seiner Hand. Bei uns ist die Fabrikation von Paragraphen ebenfalls im Schwange, aber indem der Beamte den Paragraphen mit Pflichteifer und Verständnis anwendet, indem er ihn lebendig erhält, erhält und erweitert er zugleich nicht die bloße Gewalt, souderu die organische Macht des Staates. Denn „was man nicht nutzt, ist eine schwere Last," und unter dieser Last seufzt Rußland. Dort aber schlüpft die gesunde Vernunft leicht durch die Maschen des staatlichen Netzes und rettet, wenn auch entstellt, die Macht der Gewohnheit und Volkssitte, die sonst sämtlich vom Staat verspeist würden. Bei uns hat der Staat mehr Achtung vor dem traditionellen natürlichen Volksleben, aber wo er es packt und zwingt, da setzt er seinen Willen an die Stelle der Gewohnheit des Volks, er vollbringt wirklich, was der russische Tschinownik nur scheinbar thut. Dieser zerstört, ohne zu bauen, unser Staat zerstört und baut Neues; und damit mehrt er seine Macht auf Kosten der freien Bewegung des Volkes, zweckvvll zwar und verständig, aber doch zwängend und engend. Wollen wir Staat und Reich vor dem sozialen Zusammenbruch und dem Ansturm der Massen retten, wollen wir ihm Dauerhaftigkeit geben, so wollen wir ihm nicht alle öffentliche Macht aufbürden, so wollen wir ihn möglichst auch von dem entlasten, was ihn schon heute gefährdet. Wir sind bereits in einer Lebensfrage an die Grenze der staatlichen Macht gelaugt. Einkommen¬ steuer mit Selbsteiuschützung, Kapitalsteuer, das sind Zeichen dafür, daß der Staat nicht weiter imstande ist, die wachsenden Geldbedürfnisfe durch die Hände des Beamtentums allein zu befriedigen. Könnten Einkommen und Kapital von seineu Dienern allein gefaßt werden, der Staat von heute würde sich schwerlich an das Gewissen und den Willen des einzelnen wenden, um sein Geld zu bekommen; das ist die Art des „Rackers" nicht. Der Staat ist eifer¬ süchtig für seine Macht und ein Besserwisser in allen Dingen; aber mit dem Verstaatlichen von allerlei Volksarbeit, mit dem Aufsaugen aller öffentlichen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/170
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/170>, abgerufen am 08.01.2025.