Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Dynamik den dazwischen liegenden Kern, des Volks aufzehren, der Stamm wird hohl, Die Begriffe von Ständen und Zünften erregen das Blut noch heute Schwache Ansätze zur Organisation des Gewerbes sind vorhanden: Schneider Dynamik den dazwischen liegenden Kern, des Volks aufzehren, der Stamm wird hohl, Die Begriffe von Ständen und Zünften erregen das Blut noch heute Schwache Ansätze zur Organisation des Gewerbes sind vorhanden: Schneider <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0168" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212644"/> <fw type="header" place="top"> Dynamik</fw><lb/> <p xml:id="ID_518" prev="#ID_517"> den dazwischen liegenden Kern, des Volks aufzehren, der Stamm wird hohl,<lb/> die Krone bricht, und der Sozialismus behält das Feld. Wenn sich eine Re¬<lb/> gierung dauernd bloß auf das Heer, die Beamten und die unterste Volks¬<lb/> klasse stützt, so werden über lang oder kurz die Massen herrschen. Wir haben<lb/> in Deutschland viel Partikulnrismus, Lokalgeist, Heimatssinn, Gemeindebewußt¬<lb/> sein; der Leipziger steht für Leipzig ein, der Holsteiner für Holstein, der Valer<lb/> für Vaiern, auch der Deutsche für Deutschland, sofern es von außen bedroht<lb/> wird. Aber wenn wir uns nach einem Gemeinsinn innerhalb des Reichs um¬<lb/> sehen, der eine gewisse Gruppe von Reichsbürgern zusammenfaßte, so finden<lb/> wir, von den politischen Parteien abgesehen, nur etwa drei solche umfassende<lb/> Verbünde: das Heer nebst der Marine, die Beamten, die Arbeiter. In den<lb/> einzelnen Staaten dasselbe Bild. Der Soldat ist durchdrungen vom Korps¬<lb/> geist, der Beamte auch. Jeder Fähnrich, jeder Gemeine ist stolz auf sein<lb/> Regiment, hat das Bewußtsein, dahin zu gehören, steht dafür ein. findet darin<lb/> den Quell seiner ständischen Ehre. Der Beamte fühlt sich als Mann seines<lb/> Ressorts, als Teil einer festen Körperschaft; er verkehrt, wenn er Postbeamter<lb/> ist, vorwiegend mit Postbeamten, mit Juristen, wenn er zum Richterstande<lb/> gehört, er wahrt die Geheimnisse des kollegialen Lebens, er wird von dem<lb/> Korpsgeist getragen, der in seiner Behörde gebietet, ob sie nun im Rathause<lb/> oder in der Wilhelmstraße von Berlin sitzt. Mustert man nun, von hier an¬<lb/> fangend, die andern Berufsklassen der Bevölkerung von dem genannten Ge¬<lb/> sichtspunkte aus, so wird man lange die Stufen hinunter zu wandern haben,<lb/> ehe man überhaupt wieder etwas wie Korpsgeist findet. Der Student hat<lb/> sein Korpsleben, von der Börse sagt man, daß sie ein eignes Leben führe;<lb/> im ganzen ist es eine fast zusammenhangslose Menge, die sich allenfalls Sonn¬<lb/> tags mit Gesangsbändern und Gewerksschleifen schmückt. Zuletzt kommt nun,<lb/> zum Fabrikarbeiter und findet einen stark entwickelten Gemeinsinn, mehr Korps¬<lb/> geist, als in all den Zwischenschichten bis zu den in dem Soldaten- und Be¬<lb/> amtenstaate Preußen obersten beiden Menschenrassen hinauf.</p><lb/> <p xml:id="ID_519"> Die Begriffe von Ständen und Zünften erregen das Blut noch heute<lb/> bei vielen, und gerade den Gebildeten. Obwohl von diesen niemand unter der<lb/> Übermacht solcher Körperschaft zu leiden gehabt hat, weil ihre Macht längst<lb/> gebrochen und sie nur in unbedeutenden Abbildern der frühern HerrschaftS-<lb/> formen fortleben, so haben doch Schule und Tradition den Widerwillen der<lb/> Gebildeten gegen sie wach erhalten. Dennoch wird ähnliches geschaffen werden<lb/> müssen, wie es unser Mittelalter hatte, wenn wir unsre sozialen Zustände be¬<lb/> festigen wollen.</p><lb/> <p xml:id="ID_520" next="#ID_521"> Schwache Ansätze zur Organisation des Gewerbes sind vorhanden: Schneider<lb/> und Zimmerleute, Eisenindustrielle und Fabrikanten von Chemikalien haben<lb/> ihre Vereine, ihre Satzungen; bricht ein Streik aus, so thun sich die gefähr¬<lb/> deten Fabrikherren zusammen zur Abwehr. Aber kampffähig, stets gewappnet,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0168]
Dynamik
den dazwischen liegenden Kern, des Volks aufzehren, der Stamm wird hohl,
die Krone bricht, und der Sozialismus behält das Feld. Wenn sich eine Re¬
gierung dauernd bloß auf das Heer, die Beamten und die unterste Volks¬
klasse stützt, so werden über lang oder kurz die Massen herrschen. Wir haben
in Deutschland viel Partikulnrismus, Lokalgeist, Heimatssinn, Gemeindebewußt¬
sein; der Leipziger steht für Leipzig ein, der Holsteiner für Holstein, der Valer
für Vaiern, auch der Deutsche für Deutschland, sofern es von außen bedroht
wird. Aber wenn wir uns nach einem Gemeinsinn innerhalb des Reichs um¬
sehen, der eine gewisse Gruppe von Reichsbürgern zusammenfaßte, so finden
wir, von den politischen Parteien abgesehen, nur etwa drei solche umfassende
Verbünde: das Heer nebst der Marine, die Beamten, die Arbeiter. In den
einzelnen Staaten dasselbe Bild. Der Soldat ist durchdrungen vom Korps¬
geist, der Beamte auch. Jeder Fähnrich, jeder Gemeine ist stolz auf sein
Regiment, hat das Bewußtsein, dahin zu gehören, steht dafür ein. findet darin
den Quell seiner ständischen Ehre. Der Beamte fühlt sich als Mann seines
Ressorts, als Teil einer festen Körperschaft; er verkehrt, wenn er Postbeamter
ist, vorwiegend mit Postbeamten, mit Juristen, wenn er zum Richterstande
gehört, er wahrt die Geheimnisse des kollegialen Lebens, er wird von dem
Korpsgeist getragen, der in seiner Behörde gebietet, ob sie nun im Rathause
oder in der Wilhelmstraße von Berlin sitzt. Mustert man nun, von hier an¬
fangend, die andern Berufsklassen der Bevölkerung von dem genannten Ge¬
sichtspunkte aus, so wird man lange die Stufen hinunter zu wandern haben,
ehe man überhaupt wieder etwas wie Korpsgeist findet. Der Student hat
sein Korpsleben, von der Börse sagt man, daß sie ein eignes Leben führe;
im ganzen ist es eine fast zusammenhangslose Menge, die sich allenfalls Sonn¬
tags mit Gesangsbändern und Gewerksschleifen schmückt. Zuletzt kommt nun,
zum Fabrikarbeiter und findet einen stark entwickelten Gemeinsinn, mehr Korps¬
geist, als in all den Zwischenschichten bis zu den in dem Soldaten- und Be¬
amtenstaate Preußen obersten beiden Menschenrassen hinauf.
Die Begriffe von Ständen und Zünften erregen das Blut noch heute
bei vielen, und gerade den Gebildeten. Obwohl von diesen niemand unter der
Übermacht solcher Körperschaft zu leiden gehabt hat, weil ihre Macht längst
gebrochen und sie nur in unbedeutenden Abbildern der frühern HerrschaftS-
formen fortleben, so haben doch Schule und Tradition den Widerwillen der
Gebildeten gegen sie wach erhalten. Dennoch wird ähnliches geschaffen werden
müssen, wie es unser Mittelalter hatte, wenn wir unsre sozialen Zustände be¬
festigen wollen.
Schwache Ansätze zur Organisation des Gewerbes sind vorhanden: Schneider
und Zimmerleute, Eisenindustrielle und Fabrikanten von Chemikalien haben
ihre Vereine, ihre Satzungen; bricht ein Streik aus, so thun sich die gefähr¬
deten Fabrikherren zusammen zur Abwehr. Aber kampffähig, stets gewappnet,
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