Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Dynamik Trieb schreitet, wenn weder befriedigt noch durch stärkern Willen zurück¬ Ein dauernd wirksames Gegengewicht gegen die sich organisirenden Massen Ich meine überhaupt, daß es eitel sei, vom Staate die Rettung vor dem Der Staat ist an sich kein Gegner des Sozialismus; siegt heute der Dynamik Trieb schreitet, wenn weder befriedigt noch durch stärkern Willen zurück¬ Ein dauernd wirksames Gegengewicht gegen die sich organisirenden Massen Ich meine überhaupt, daß es eitel sei, vom Staate die Rettung vor dem Der Staat ist an sich kein Gegner des Sozialismus; siegt heute der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0166" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212642"/> <fw type="header" place="top"> Dynamik</fw><lb/> <p xml:id="ID_512" prev="#ID_511"> Trieb schreitet, wenn weder befriedigt noch durch stärkern Willen zurück¬<lb/> gedrängt, von der Theorie des Sozialdemokraten sicherlich fort zu der Theorie<lb/> des Anarchisten, von dem gesetzlichen Mittel zu dem gewaltsamen Mittel. Die<lb/> Befriedigung ist unmöglich, also bleibt nur die Niederhaltung übrig.</p><lb/> <p xml:id="ID_513"> Ein dauernd wirksames Gegengewicht gegen die sich organisirenden Massen<lb/> würde ich uur in der Organisation der obern Klassen sehn. Nur seit die<lb/> Macht der Stände gebrochen ist, seit alle politische Macht vom Staat und<lb/> alle soziale vom Kapital aufgesogen wurde, seit die Gliederung des Volks ver¬<lb/> schwand, ist die niedre Masse dein Demagogen überantwortet worden und zur<lb/> gefährlichen Macht gelangt. Besonders gründlich hat Preußen mit der alten<lb/> Gliederung des Volks aufgeräumt. Der Soldat, der Staatsdiener hier, der<lb/> Arbeiter dort, diese beiden Gruppen haben Organisation und Macht für sich,<lb/> und sie suchen heute nach einer Verständigung. Wenn die Hauptsorge des<lb/> Staats eine längere Zeit hindurch darin bestehen wird, Heer und Arbeiter zu-<lb/> frieden zu stellen, so wird deu Gewinn der Arbeiter haben, aber auf Kosten<lb/> des ganzen Volks und seiner Kultur und seiner Zukunft. Für die andern<lb/> wird es zu enge werden in einem Staate, der sich Schritt für Schritt weiter<lb/> wird gezwungen sehn, die Volksarbeit staatlich zu organisiren, um sie nicht<lb/> ganz in die Hand des Handarbeiters geraten zu lassen. Die Verstaatlichung<lb/> der Eisenbahnen geht ihrem Abschluß entgegen. Inzwischen bringen die Streiks<lb/> der Bergleute die Gefahr nahe, daß eines Tages Verkehr und Industrie im<lb/> ganzen Reiche wegen Kohleumcmgels still stehn. Diese Gefahr ist so groß,<lb/> daß der Staat, wie er heute ist, die Kohlengruben wird verstaatlichen und den<lb/> Abbau mit militärischer Disziplin betreiben müssen. Es ließe sich auch denken,<lb/> daß, wenn das Abströmen des Landbauern in die Städte weiter fortschreitet<lb/> und der Acker verödet, wiederum der Staat gezwungen sein wird, seine Ge¬<lb/> walt einzusetzen, um den Landbauer am Leben zu erhalten, d. h. er wird den<lb/> Ackerbau verstaatlichen müssen. Auch kann man sich denken, daß ein fort¬<lb/> gesetzter Kampf der Staaten um ihre industrielle Unabhängigkeit, wie sie heute<lb/> verstanden wird, den Absatz unsrer industriellen Waren so sehr ins Stocken<lb/> bringen würde, daß Millionen unsrer Fabrikarbeiter brotlos werden, und daß<lb/> dann wieder der Staat die Organisation der Industrie an sich reißen müßte,<lb/> um einer weitern gefährlichen Überproduktion vorzubeugen. Damit wären wir<lb/> an dem Hauptziel angelangt, das sich die Sozialdemokratie in ihrer Theorie<lb/> gesetzt hat, wie denn der ganze Weg von der Verstaatlichung des Verkehrs<lb/> an bis zu der des Ackerlandes und der Fabrik der ist, auf dem man den<lb/> Sozialisten zum Gefährten haben kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_514"> Ich meine überhaupt, daß es eitel sei, vom Staate die Rettung vor dem<lb/> Sozialismus zu erwarten. Der Staat mag helfen, aber die Hauptarbeit müssen<lb/> die obern, die gefährdeten Klaffen selber thun.</p><lb/> <p xml:id="ID_515" next="#ID_516"> Der Staat ist an sich kein Gegner des Sozialismus; siegt heute der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0166]
Dynamik
Trieb schreitet, wenn weder befriedigt noch durch stärkern Willen zurück¬
gedrängt, von der Theorie des Sozialdemokraten sicherlich fort zu der Theorie
des Anarchisten, von dem gesetzlichen Mittel zu dem gewaltsamen Mittel. Die
Befriedigung ist unmöglich, also bleibt nur die Niederhaltung übrig.
Ein dauernd wirksames Gegengewicht gegen die sich organisirenden Massen
würde ich uur in der Organisation der obern Klassen sehn. Nur seit die
Macht der Stände gebrochen ist, seit alle politische Macht vom Staat und
alle soziale vom Kapital aufgesogen wurde, seit die Gliederung des Volks ver¬
schwand, ist die niedre Masse dein Demagogen überantwortet worden und zur
gefährlichen Macht gelangt. Besonders gründlich hat Preußen mit der alten
Gliederung des Volks aufgeräumt. Der Soldat, der Staatsdiener hier, der
Arbeiter dort, diese beiden Gruppen haben Organisation und Macht für sich,
und sie suchen heute nach einer Verständigung. Wenn die Hauptsorge des
Staats eine längere Zeit hindurch darin bestehen wird, Heer und Arbeiter zu-
frieden zu stellen, so wird deu Gewinn der Arbeiter haben, aber auf Kosten
des ganzen Volks und seiner Kultur und seiner Zukunft. Für die andern
wird es zu enge werden in einem Staate, der sich Schritt für Schritt weiter
wird gezwungen sehn, die Volksarbeit staatlich zu organisiren, um sie nicht
ganz in die Hand des Handarbeiters geraten zu lassen. Die Verstaatlichung
der Eisenbahnen geht ihrem Abschluß entgegen. Inzwischen bringen die Streiks
der Bergleute die Gefahr nahe, daß eines Tages Verkehr und Industrie im
ganzen Reiche wegen Kohleumcmgels still stehn. Diese Gefahr ist so groß,
daß der Staat, wie er heute ist, die Kohlengruben wird verstaatlichen und den
Abbau mit militärischer Disziplin betreiben müssen. Es ließe sich auch denken,
daß, wenn das Abströmen des Landbauern in die Städte weiter fortschreitet
und der Acker verödet, wiederum der Staat gezwungen sein wird, seine Ge¬
walt einzusetzen, um den Landbauer am Leben zu erhalten, d. h. er wird den
Ackerbau verstaatlichen müssen. Auch kann man sich denken, daß ein fort¬
gesetzter Kampf der Staaten um ihre industrielle Unabhängigkeit, wie sie heute
verstanden wird, den Absatz unsrer industriellen Waren so sehr ins Stocken
bringen würde, daß Millionen unsrer Fabrikarbeiter brotlos werden, und daß
dann wieder der Staat die Organisation der Industrie an sich reißen müßte,
um einer weitern gefährlichen Überproduktion vorzubeugen. Damit wären wir
an dem Hauptziel angelangt, das sich die Sozialdemokratie in ihrer Theorie
gesetzt hat, wie denn der ganze Weg von der Verstaatlichung des Verkehrs
an bis zu der des Ackerlandes und der Fabrik der ist, auf dem man den
Sozialisten zum Gefährten haben kann.
Ich meine überhaupt, daß es eitel sei, vom Staate die Rettung vor dem
Sozialismus zu erwarten. Der Staat mag helfen, aber die Hauptarbeit müssen
die obern, die gefährdeten Klaffen selber thun.
Der Staat ist an sich kein Gegner des Sozialismus; siegt heute der
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