Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Dynamik fester gewesen. Die städtische Produktion hatte zwar ihren Absatz auch nußer- Je weitern Umfang die Industrie eines Landes annimmt ohne ent¬ Man wird mir vielleicht entgegenhalten, bei uus sei ja kein Ravachol, Dynamik fester gewesen. Die städtische Produktion hatte zwar ihren Absatz auch nußer- Je weitern Umfang die Industrie eines Landes annimmt ohne ent¬ Man wird mir vielleicht entgegenhalten, bei uus sei ja kein Ravachol, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0165" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212641"/> <fw type="header" place="top"> Dynamik</fw><lb/> <p xml:id="ID_509" prev="#ID_508"> fester gewesen. Die städtische Produktion hatte zwar ihren Absatz auch nußer-<lb/> halb des Weichbildes, außerhalb des eignen Staats, sogar außerhalb des<lb/> Reichs; aber nur zum kleinen Teil wurde für ferne Länder gearbeitet, in der<lb/> Regel fand die Ware ihren Markt im Reiche selbst. Dieses Gewerbe des<lb/> Mittelalters stand in gesundem Verhältnis zum gesamten Volk und war lange<lb/> Zeit hindurch das gesündeste Glied am Körper des Reichs. Erst die Gro߬<lb/> industrie der Neuzeit ermöglichte den verhängnisvollen Umschwung: daß die<lb/> Knechtung des Arbeiters vom Lande in die Stadt zog, daß der Landarbeiter<lb/> ein freier, gesund lebender Mann und der Fabrikarbeiter der gefesselte, ver¬<lb/> kommende Knecht der Dampfmaschine wurde. Stadtluft macht frei, sagte der<lb/> alte Rechtsspruch; in anderm Sinne kann es heute heißen: Landluft macht frei.</p><lb/> <p xml:id="ID_510"> Je weitern Umfang die Industrie eines Landes annimmt ohne ent¬<lb/> sprechende Erweiterung des eignen Verbrauchs der Waare, um so bedrohlicher<lb/> muß die anwachsende städtische Arbeitermasse der sozialen und staatlichen<lb/> Ordnung werden. Entweder wir erwerben neue ackerbautreibende Länder, oder<lb/> wir schränken unsre Industrie ein und befördern die Auswandrung der über¬<lb/> schüssigen Kräfte; das wären die Mittel, das Mißverhältnis zwischen Fabrik¬<lb/> volk und Landvolk sich nicht weiter vergrößern zu lassen. Jedenfalls sollte<lb/> der Staat, das Reich sich hüten, ohne Vermehrung des eignen Ackerbaues<lb/> wie bisher es für seiue heilige Aufgabe zu halten, der weitern Entwicklung<lb/> der Exportindustrie bei uns mit allen Kräften beizustehen und noch mehr als<lb/> bisher uns von den Bedürfnisse» Rußlands, Nordamerikas oder Chinas ab¬<lb/> hängig werden zu lassen. Die Industrie kann in hoher Blüte stehen, ohne<lb/> doch das Übermaß zu erreichen, von dem ab sie Schmarotzer wird in dein<lb/> bezeichneten Sinne, abhängig von dem Willen und dem Leben eines fremden Volks.</p><lb/> <p xml:id="ID_511" next="#ID_512"> Man wird mir vielleicht entgegenhalten, bei uus sei ja kein Ravachol,<lb/> kein Anarchismus vorhanden. Ich meine jedoch, daß, da wir eine Sozial-<lb/> demokratie haben, wir anch den Anarchismus haben werden. Wer an das<lb/> Evangelium Bebels glauben kann, der kann auch an das Evangelium des<lb/> Anarchismus glauben. Denn die gesunde Vernunft und der gebildete Verstand<lb/> haben mit diesen sozialistischen Theorien nichts zu thun. Solange vom Stein<lb/> bis zum Elefanten nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit in allem<lb/> herrscht, wird auch der Mensch die Herrschaft der Kraft über die Schwäche,<lb/> die Unterordnung des einen unter den andern in der Wirkung wohl mildern,<lb/> in Schranken halten, aber sie selbst niemals aufheben können. Herren und<lb/> Knechte sind nicht durch die Bosheit der Menschen geschaffen worden, sondern<lb/> durch die göttliche Weltordnung. Wenn das die Sozialisten eine Unordnung<lb/> nennen, so stimmt es freilich damit zusammen, daß sie den Schöpfer dieser<lb/> Ordnung auch gleich mit verwerfen; aber die Ordnung zu ändern vermag<lb/> niemand. Nicht Vernunft und Kultur schufen die sozialen Theorien, sondern<lb/> Leidenschaft, Wille, der Trieb nach Genuß, Besitz und Herrschaft. Und dieser</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0165]
Dynamik
fester gewesen. Die städtische Produktion hatte zwar ihren Absatz auch nußer-
halb des Weichbildes, außerhalb des eignen Staats, sogar außerhalb des
Reichs; aber nur zum kleinen Teil wurde für ferne Länder gearbeitet, in der
Regel fand die Ware ihren Markt im Reiche selbst. Dieses Gewerbe des
Mittelalters stand in gesundem Verhältnis zum gesamten Volk und war lange
Zeit hindurch das gesündeste Glied am Körper des Reichs. Erst die Gro߬
industrie der Neuzeit ermöglichte den verhängnisvollen Umschwung: daß die
Knechtung des Arbeiters vom Lande in die Stadt zog, daß der Landarbeiter
ein freier, gesund lebender Mann und der Fabrikarbeiter der gefesselte, ver¬
kommende Knecht der Dampfmaschine wurde. Stadtluft macht frei, sagte der
alte Rechtsspruch; in anderm Sinne kann es heute heißen: Landluft macht frei.
Je weitern Umfang die Industrie eines Landes annimmt ohne ent¬
sprechende Erweiterung des eignen Verbrauchs der Waare, um so bedrohlicher
muß die anwachsende städtische Arbeitermasse der sozialen und staatlichen
Ordnung werden. Entweder wir erwerben neue ackerbautreibende Länder, oder
wir schränken unsre Industrie ein und befördern die Auswandrung der über¬
schüssigen Kräfte; das wären die Mittel, das Mißverhältnis zwischen Fabrik¬
volk und Landvolk sich nicht weiter vergrößern zu lassen. Jedenfalls sollte
der Staat, das Reich sich hüten, ohne Vermehrung des eignen Ackerbaues
wie bisher es für seiue heilige Aufgabe zu halten, der weitern Entwicklung
der Exportindustrie bei uns mit allen Kräften beizustehen und noch mehr als
bisher uns von den Bedürfnisse» Rußlands, Nordamerikas oder Chinas ab¬
hängig werden zu lassen. Die Industrie kann in hoher Blüte stehen, ohne
doch das Übermaß zu erreichen, von dem ab sie Schmarotzer wird in dein
bezeichneten Sinne, abhängig von dem Willen und dem Leben eines fremden Volks.
Man wird mir vielleicht entgegenhalten, bei uus sei ja kein Ravachol,
kein Anarchismus vorhanden. Ich meine jedoch, daß, da wir eine Sozial-
demokratie haben, wir anch den Anarchismus haben werden. Wer an das
Evangelium Bebels glauben kann, der kann auch an das Evangelium des
Anarchismus glauben. Denn die gesunde Vernunft und der gebildete Verstand
haben mit diesen sozialistischen Theorien nichts zu thun. Solange vom Stein
bis zum Elefanten nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit in allem
herrscht, wird auch der Mensch die Herrschaft der Kraft über die Schwäche,
die Unterordnung des einen unter den andern in der Wirkung wohl mildern,
in Schranken halten, aber sie selbst niemals aufheben können. Herren und
Knechte sind nicht durch die Bosheit der Menschen geschaffen worden, sondern
durch die göttliche Weltordnung. Wenn das die Sozialisten eine Unordnung
nennen, so stimmt es freilich damit zusammen, daß sie den Schöpfer dieser
Ordnung auch gleich mit verwerfen; aber die Ordnung zu ändern vermag
niemand. Nicht Vernunft und Kultur schufen die sozialen Theorien, sondern
Leidenschaft, Wille, der Trieb nach Genuß, Besitz und Herrschaft. Und dieser
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